DER TÄGLICHE ANRUF BEI ANNA
Die tägliche Kommunikation mit Anna wird schwieriger.
Der Anruf bei Anna ist eine Sache wie du eben jeden Tag deine anderen Aufgaben in der to-do-Liste abarbeitest.
Das denke ich, doch es ist die pure Theorie. Die Wirklichkeit, die sieht anders aus, und zwar jeden Tag anders.
Gegen 10.00 Uhr schrecke ich hoch, weil ich das Erinnerungstool am iPad mal wieder aktiviert habe und mich doch über die Störung ärgere, wenn es dann tatsächlich soweit ist.
Ich greife zum Telefon und stehe vom Schreibtisch auf, um ein wenig umherzugehen. Es dauert eine Weile, bis Anna den Hörer abnimmt.
„Wie ist das Wetter bei dir?“, frage ich sie zu Beginn. Ich frage das stets zuerst. Nicht das mich das wirklich interessieren würde, da bin ich ganz ehrlich.
Nein, wirklich nicht. Ich könnte den Tag glatt ohne diese Information verbringen. Aber es geht ja nicht um mich. Es geht um Anna. Und die lässt sich Zeit mit der Antwort.
„Weißt du, es ist windig draußen?“, sagt sie nach einer Weile schleppend.
„Warst du denn auf dem Balkon?“, frage ich.
„Nein. Warum?“
„Nun, um den Wind zu spüren.“
„Ach, ich geh‘ doch jetzt nicht auf den Balkon!“
Anna wirkt gereizt, unausgeglichen, störrisch. Ich bleibe ruhig. Ich habe schon ein wenig gelernt. Nicht viel vielleicht, aber ein bisschen jedenfalls.
„Wir dürfen Anna ihre eigene Wesensänderung nicht zum Vorwurf machen“, sage ich zu Klara noch heute Morgen im Auto.
Das ist ein toller Satz, finde ich. Den musst du doch erst mal so formulieren.
Aber ich kann mich nur selbst loben. Ein anderer wird das nicht tun. Klara auf keinen Fall.
Sie antwortet gar nicht. Ich weiß auch warum. Sie denkt: „Na hoffentlich hält der sich selbst daran.“ Ja, das tue, in aller Regel.
Also frage ich Anna weiter: „Hast du denn schon ein zweites Frühstück gemacht?“
„Ne.“
„Willst du es noch machen?“
„Ja, aber nur ein kleines Brötchen. Sonst habe ich mittags keinen Hunger.“
„Ja, das verstehe ich“, sage ich sofort.
„Machst du dir denn auch was zu essen?“, fragt Anna mich.
„Nein, ich werde sonst müde. Und ich muss doch danach weiterschreiben.“
„Das kenne ich nicht.“ Na das glaube ich dir aufs Wort, denke ich. Sage es aber nicht.
„Weißt du, wenn ich etwas Warmes zu mir nehme, dann habe ich danach die Stunde der ‚toten Augen‘“, entgegne ich stattdessen.
„Stunde der ‚toten Augen‘, was ist denn das für ein Quatsch?“
Ich merke, wie langsam meine Schilddrüse anfängt zu pumpen.
Wie gerne würde ich darauf eine knackige Antwort geben, ganz in der mir eigenen Art.
Aber das darf ich nicht. Ich habe es Klara versprochen. Sie freut sich, wenn ich Anna anrufe, aber nur dann, wenn ich mich an die Spielregeln halte. Und das heißt, Anna ist dement, und wir sind diejenigen, die sich darauf einstellen müssen, nicht umgekehrt.