EIN SCHEINBAR NICHTSSAGENDER MORGEN

05.30 Uhr. Es ist still.
Es ist immer still um diese Zeit, aber mir scheint heute Morgen ist es irgendwie eine gespenstische Ruhe.

Ich sitze bereits am Schreibtisch, nachdem ich Klara gerade zum Bahnhof gebracht habe.

Sonst fahren wir ja gemeinsam nach Mitte rein.
Sie zur Arbeit, ich auch.
Naja, ich zur körperlichen Tätigkeit, dem Fitnesstraining.
Und nun ist das erst einmal vorbei.

Jetzt habe ich um diese Zeit schon die Texte fertig, die ich noch für die Homepage eines Pflegedienstes durchsehen wollte.
Eigentlich mag ich gar nichts tun.

Ich bin wie paralysiert, denke daran, was vielleicht noch auf uns zukommt.
Ich versuche Klara zu überreden, im Homeoffice zu arbeiten.
Das ist leichter gesagt, als es getan ist.

Sie braucht zwei Bildschirme, und ich sehe mich schon unter dem Schreibtisch liegen und fluchen, weil ich nicht weiß, welche Kabel wo angeschlossen werden müssen.

Das lenkt mich ein bisschen ab, wenn ich über so etwas nachdenke und verhindert, dass die Angst zu schnell und zu stark in mir hochsteigt, vor dem, was vielleicht noch kommt.

Ich kenne Katastrophen nur aus dem Fernsehfilm oder aus dem Kino.
Da, wo Menschen leiden, möglicherweise wegen einer sich rasant ausbreitenden Epidemie, und sie sterben, während du vor dem Fernseher sitzt und lustlos auf einer Salzstange herumkaust und dich ärgerst, weil du danach erneut die Zähne putzen musst.

Aber jetzt ist es anders. Wir sind selbst die Hauptdarsteller, in einem Film, den du auf keinen Fall sehen und deshalb auch nicht so richtig wahrhaben willst.
Ich versuche, mich abzulenken, ich plane, strukturiere, schreibe.
Und dann denke ich an Krümel, die ich jetzt nicht sehen kann.
Sie fehlt mir, vor allem, wenn ich sie frage:

„Na, soll ich dir was vorsingen?“
Sie hat aber gerade in dem Moment einen kleinen Bock, weil ihre Mama ihr mal wieder den Nuckel nicht geben will.
Sie sagt ja nicht im Stil eines Erwachsenen zu mir:

„Oh, lieber Opa, das ist ganz reizend von dir, dass du mir was vorsingen willst, aber gerade jetzt bin ich ein wenig unpässlich, vielleicht später, ja? Aber trotzdem lieben Dank.“

Nein, so viel Umwege macht sie nicht.
Sie sagt einen Satz, einen Halbsatz: „… in Ruhe!“
Das war’s.

Möglich ist das jetzt die Zeit, wo man ohne Umschweife sagen sollte, was man denkt.

Zum Beispiel zu Klara:
„Ich liebe dich von ganzem Herzen, und ich habe Angst um dich, dass du dich auf Arbeit mit dem Virus infizierst.“
Aber das kriege ich nicht über die Lippen, obwohl es genau das auf den Punkt bringt, was ich fühle.

Ich denke dann aber: „Na, sie vermutet doch, dass ich schon wieder irgendwas verbockt habe.
So wie gestern Morgen, als ich den Kaffee aufgesetzt habe und mir der Wasserbehälter umgekippt ist.

Das Wasser lief vom Küchentisch herunter, auf die Erde und schon hatte ich die schönste Sauerei in der Küche.
Ich habe den Wischmopp aus der Ecke herausgezerrt, blieb dabei am Staubsauger hängen. Der fiel auf den Boden, auf die Fliesen, mit einem lauten Knall.

Das Teil, was die Sogstärke regelt, ging dabei kaputt.
„Das musst du kleben“, sagte ich abends zu Klara.
„Ja, das muss auch geklebt werden!“, sagte sie mit vorwurfsvollem Unterton.

„Aber bitte nicht ganz zukleben, sonst ist der Sog zu stark an der Bürste und es saugt sich so schwer.“
„Doch, genau das mach'“, sagte sie darauf entschieden.
Ich schwieg, obwohl es mir schwerfiel, in dem Moment den Mund zu halten.

Den Rest habe ich gestern mit den Socken trockengewischt.
Die waren danach feucht, meine Füße auch.
Na gut.

„Hast du eigentlich bemerkt, dass ich gestern noch abgewaschen habe?“, frage ich so scheinbar ganz nebenbei heute beim Frühstück.
Dabei will ich schon gewürdigt werden, für meine kleinen Heldentaten im Alltag.

Obwohl, bei Klara käme ich gar nicht auf die Idee.
Höchstens, dass ich nach dem Saugen meine: „Da liegt noch ein Fussel.“

Oder dass ich beim Essen sage: „Schmeckt prima, ich nehme noch einen Nachschlag.“
Klara antwortet auf meine Frage, ob sie das Abwaschen bemerkt hätte mit einem „Hm, ja, schön.“
Ich bin ein wenig enttäuscht.

Wir steigen ins Auto und fahren los. Es wird jetzt schon hell.
Der Morgennebel verhüllt die Dorfkirche, ihre Umrisse schimmern aber bereits durch.
Die Straßen sind menschenleer.
Es wirkt unheimlich, dass keiner zu sehen ist.

Nur der Mann mit den vier Buchstaben auf dem Rücken geht in Richtung Bahnhof, er wankt mehr. Ich möchte ihm am liebsten aus dem Auto zurufen: „Hallo, schön dich zu sehen.“

„Ich freue mich, wenn die Sonne rauskommt“, sage ich stattdessen zu Klara.
„Und ich freue mich in der Bahn auf mein Sudoku“, antwortet sie.

Wir sagen nichts, aber wir genießen die kleinen, scheinbar nichtssagenden Momente und hoffen darauf, dass es morgen auch noch so sein wird.