ANNA VERTEIDIGT IHREN KÜHLSCHRANK HELDENHAFT

ANNA IST DEMENT (59)

Die Straßen von Stralsund sind wie leergefegt, die Urlauber abgereist, neue Touristen dürfen nicht in die Stadt und auch nicht weiter auf die Insel.

Die Einheimischen sitzen Zuhause, vor den Fernsehapparaten. Die Sender überschlagen sich in der Berichterstattung über das Coronavirus. Militärkonvois sind zu sehen, zum Beispiel in Italien; kolonnenweise sieht man, wie LKW die Särge mit verstorbenen Corona-Patienten transportieren.

Ein Gefühl von Angst kriecht in Lukas hoch, als er die Bilder sieht. Er will sich ablenken und greift zum Telefon, denn er muss Anna noch einmal daran erinnern, dass sie für ihn den Einkaufszettel schreibt.

Anna gehört zu den wenigen Menschen, die nicht erst seit Tagen zu Hause sitzen. Nein, sie ist seit Wochen nicht mehr vor die Tür gegangen.

Nicht, weil sie sich vor Corona fürchtet. Das macht ihr keine Angst, denn sie weiß ja gar nicht, dass das Virus die Menschen in eine Art Schockstarre versetzt hat.

Aber das ist an Anna vorbeigegangen.
„Mutti hast du denn mitbekommen, dass gar keiner mehr nach Stralsund und auch nicht auf die Insel darf?“, fragte Klara sie am Telefon in den vergangenen Tagen.

„‘Jaa‘?“, kam es verzagt von Anna.
„Warum kommt denn keiner mehr?“
„Weil wir die Corona-Pandemie haben“, sagte Klara nun entschieden.

„Oh, ‚wie schmitts‘ du mit ‚de Fremdwörter‘, hätte deine Oma in ihrem unverwechselbaren Platt gesagt“, meinte Peter, während Klara noch mit Anna sprach.
Klara musste lachen.

„Naja, Mutti, die Hauptsache, dir geht es gut“, meinte Klara weiter.
„Ja, weißt du, gut geht es mir schon. Aber ich bin ja so einsam“, sagte Anna.

„Das können wir ändern, Mutti, wir haben eine tolle Einrichtung in Stralsund. Oder auf der Insel gibt es auch was in Sassnitz. Da kannst du Kaffee trinken, dich unterhalten, Musik hören, alte Bekannte treffen“, sagte Klara.

„Ach nö, das will ich nicht“, antwortete Anna.
„Naja Mutti, dann darfst du dich nicht beklagen“, gab Klara zurück.

Sie hätte das früher nie zu ihrer Mutter gesagt, aber sie hatte es gelernt, auch etwas deutlicher zu formulieren, energischer die Dinge auszusprechen.

Früher, ja da hat Anna noch wenigstens in den Briefkasten geschaut oder hat den Müll runtergebracht. Doch auch das ist vorbei.
Anna geht nicht mehr raus, weil sie sich nicht mehr traut, vor die Tür zu gehen. Sie hat Angst davor.

Ist ihr Orientierungsvermögen verloren gegangen? Ist es eine schleichende Bequemlichkeit, die Anna immer träger werden lässt?
Lukas und Klara sehen das mit Sorge, aber keiner weiß so richtig, wie man damit umgehen soll.

Nur Peter, der entwickelt seine Theorien, gibt Klara wortreiche Handlungsempfehlungen.

„Hm“, sagt die dann kurz und bündig und ihrem Gesicht ist klar abzulesen, was sie von Peters ‚Wortschnitzereien‘ hält.

„Ich weiß es aber auch nicht“, meint Peter zum Schluss, wenn er spürt, dass er seine für ihn wertvollen Gedächtnisperlen ausrollen lässt, und sie keiner aufheben will.

Lukas sitzt noch in der Küche und erinnert sich ein paar Tage zurück: „Mutti, komm‘ doch mit, wir fahren ein Stück, nachdem wir im Netto waren!“, sagte er zu Anna. „Zum Netto, warum zum Netto, sag‘ mir mal?“, erwiderte Anna daraufhin, schon fast in trotzigem Ton.

„Na, du kannst mich doch begleiten, wenn ich für dich einkaufe“, meinte Lukas beherrscht.

Sein Inneres bebte bereits, aber es gelang ihm, äußerlich ruhig zu bleiben.

„Wann gehst du schon mal für mich einkaufen!“, das ist ja wohl das letzte, schnaubte sie nun.

„Naja Mutti, das ist nicht das erste Mal, dass ich das für dich tue, und es wird wohl auch nicht das letzte Mal gewesen sein“, antwortete Lukas in Ruhe.

„Das hat es ja noch nie gegeben, noch nie! Dass du mir hier vorwirfst, ich würde nicht einkaufen gehen, das hätte ich von dir nicht gedacht.“ Anna war sichtlich empört.
Lukas schwieg dagegen an.

Die Zeit war schnell vergangen, während Lukas über all das nachdachte und sich an die Entgegnungen seiner Mutter erinnerte.

Jetzt aber schreckte er hoch, denn er hatte immer noch nicht Anna angerufen, obwohl es wieder soweit war: Er brauchte den Einkaufszettel und wollte danach zum Einkaufen fahren.
Jetzt musste er mit dem Grübeln aufhören und wirklich Anna anrufen. Er drückte entschlossen auf das Display mit der Telefonnummer von Anna.

„Mutti, hast du an den Einkaufszettel gedacht? Ich komme gleich und hole ihn ab“, sagte er, nachdem Anna sich am Telefon gemeldet hatte.
„Ich werde doch wohl noch wissen, was ich einzukaufen habe“, sagte Anna nun.

Lukas kam sich vor wie im Hamsterrad. Er trat auf der Stelle.
„Ich komm‘ vorbei, und wir gucken gemeinsam in Kühlschrank“, meinte Lukas jetzt.

„Was willst du denn in meinen Kühlschrank schauen? Ich gucke doch auch nicht in deinen Kühlschrank!“, gab Anna zurück.

„Musst du auch nicht, denn ich gehe für dich einkaufen und nicht umgekehrt.“

„Umgekehrt?“
„Mutti, ich bin gleich da“, sagte Lukas nun und legte auf.
Er zog sich an, stieg ins Auto und fuhr zu Anna.

„Ach, das ist ja schön, dass du mal vorbeischaust“, sagte Anna zu ihm, als sie ihm die Tür öffnete.

„Oh, wie schön, dein Mülleimer ist ja geleert“, meinte Lukas scherzhaft, obwohl er genau wusste, dass er es noch am Tag zuvor selbst erledigt hatte.

„Ja, den kippe ich fast jeden Tag aus“, meinte Anna nun, ohne das Gesicht zu verziehen.
Lukas schluckte eine Bemerkung runter und sagte stattdessen:

„So, was haben wir denn im Kühlschrank?“
„Da brauchst du gar nicht nachzusehen“, sagte Anna.
Lukas hörte nicht auf sie und öffnete die Tür.

Er konnte sich kaum bewegen, weil direkt hinter ihm Anna stand.
„Na, aus dem Blumenkohl kannst du dicke zwei machen, der ist ja wohl mehr als verdorben“, meinte Lukas, nachdem er den vergammelten Kohl im Gemüsefach sah.

„Den lass mal schön in Ruhe, den will ich noch essen“, meinte Anna trotzig.

„Nein, Mutti, auf keinen Fall, das kann ich nicht zulassen, du vergiftest dich.“

„Vergiften, so ein Quatsch“, äffte Anna Lukas nach.
Der ließ sich nicht abhalten und schmiss den Kohl kurzerhand in den Mülleimer.

„Was brauchst du Mutti? Leberwurst?“
„Die liegt doch da!“, zeigte Anna auf das Stück, das vergammelt in der hinteren Ecke des Kühlschrankes lag.

„Nein, ich bringe dir ein frisches Stück mit“, sagte Lukas und überhörte, was Anna murmelte.

„So, ein bisschen Obst brauchen wir auch, Bananen und Äpfel?“, fragte Lukas.
„Naja, das wäre schön“, meinte Anna nun schon etwas besänftigt.

Aber sie ging Lukas noch nicht aus dem Rücken. Erst als der die Kühlschranktür wieder schloss, gab sie Ruhe.

„Also bis gleich“, meinte Lukas zum Schluss.
„Wo willst du hin?“, fragte Anna.

Lukas schaute sie mit traurigen Augen an. War das noch seine Mutter, die er so liebte?

Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er sie gesund zurückbekam. Aber das war ein Traum, er wusste es.
Er konnte ihr nur noch helfen, mit ihrer Krankheit fertigzuwerden, so gut es ging.

„Ich gehe einkaufen und komm gleich wieder“, sagte er, während er die Treppe eilig hinunterlief.

„Wieso gehst du einkaufen?“, hörte er sie noch von weitem fragen.

Aber Lukas hatte es fürs erste geschafft.
Bis zum nächsten Mal.

#Anzeige

Bettina Tietjen
‚Unter Tränen gelacht: Mein Vater, die Demenz und ich‘
Ein Buch, mit dem ich mich gut identifzieren kann, weil es authentisch geschrieben ist.

https://amzn.to/2S6lm0o