Anna mag nicht mehr aus dem Haus gehen, nicht einmal zum Geburtstag ihrer Schwester. Doch Lukas will unbedingt, dass sie sich aufrafft, mitkommt, sich bewegt, an den Gesprächen teilnimmt. Mittlerweile ist er jedoch unsicher, ob es seine Mutter mehr aktiviert oder noch mehr ihre eingefahrene Alltagsstruktur durcheinanderbringt.
Lukas hat es sich auf der Terrasse in seinem Garten bequem gemacht.
Gerade hat er den letzten angereisten Gast in die Ferienwohnung eingewiesen und ist danach zu seinem Haus zurückgefahren.
Er war den ganzen Tag unterwegs gewesen, hatte viel geklärt, mit Eigentümern diskutiert und die laufenden Hausmeisterarbeiten in den ihm anvertrauten Objekten erledigt.
Er war kaputt, freute sich auf sein Feierabendbier, alkoholfrei und wollte eigentlich mit niemandem mehr sprechen.
Die Katze lag neben ihm, während er das Bier in das Glas goss und zum ersten Schluck anhob, als sein Handy klingelte.
„Sturm“, sagte er.
„Ja, hallo, hier ist Frieda.“
„Ja, hallo Tante Frieda, na, alles klar?“, fragte Lukas.
„Ja, es ist alles in Ordnung. Ich wollte nur fragen, ob es morgen mit Mutti klargeht, dass sie pünktlich zum Kaffee da ist.“
„Das weißt du doch, dass ich sie bringe, Tante Frieda“, antwortete Lukas.
Er war ein wenig genervt, dass ihn Frieda noch einmal an den morgigen Tag erinnerte.
Sie hatte Geburtstag und ihn und Anna eingeladen, wie jedes Jahr.
„Wir sind morgen 15.30 Uhr bei dir. Ich bring‘ Mutti mit.“
„Oh, dann ist ja alles gut. Na, dann bis morgen“, verabschiedete sich Frieda.
Frieda Krüger wohnte ebenfalls in Stralsund. Sie hatte ein Haus, in dem sie gemeinsam mit Fritz, ihrem Mann wohnte. Das Haus lag unmittelbar vor dem Stralsunder Hafen, man konnte von der Terrasse aus auf den Strelasund schauen, das Meerwasser riechen, die Möwen schreien hören und die Touristen bei ihren Spaziergängen beobachten.
Frieda legte viel Wert darauf, dass alle kamen, die ihr wichtig waren, die Gäste ihr vorher rechtzeitig gratulierten und mit ihr gemeinsam ein paar schöne Stunden verbrachten.
Lukas überlegte, ob er Anna noch einmal anrufen sollte.
Eigentlich hatte er ihr am Vormittag alles erklärt.
„Mutti, ich hole dich Morgen gegen drei Uhr ab und dann fahren wir gemeinsam zu Frieda“, sagte Lukas zu ihr, während er dabei war, ihren Kühlschrank sauber zu machen.
Anna passte das gar nicht und sie stand direkt hinter Lukas, um ja nichts zu verpassen. Plötzlich machte sie die Kühlschranktür zu. Sie versuchte es jedenfalls. Es gelang nicht, weil Lukas Kopf noch dazwischen war.
Lukas schrie vor Schmerzen auf.
„Mutti, du kannst doch nicht mit Schwung die Tür zum Kühlschrank zuschlagen, während ich das abgetaute Eis entferne“, sagte Lukas mit ärgerlicher Stimme.
„Was machst du eigentlich an meinem Kühlschrank“, sagte Anna trotzig. Sie verstand es nicht, dass Lukas ihr helfen wollte, alles wieder in Ordnung zu bringen und sauber zu halten.
Während Lukas daran zurückdachte, fasste er mit einer Hand in seinen Nacken, der immer noch wehtat.
Er setzte nun doch an und nahm den ersten Schluck aus dem Bierglas.
Dann griff er wie von selbst zum Telefon, wählte die Nummer von Anna und wartete, bis sie ranging.
„Sturm“, ertönte eine verschlafene Stimme.
„Mutti, hast du etwa geschlafen?“, fragte Lukas.
„Es ist doch erst halb sieben abends“, sagte er noch.
„Ach, ich habe mich einfach auf die Couch geschmissen“, sagte Anna lustlos.
„Mutti, denkst du an Morgen?“
„Was ist Morgen?“, fragte Anna.
„Der Geburtstag von Frieda, sie wird 82 Jahre alt.“
„Was so alt?“ Annas Stimme klang, als würde sie das erste Mal vom Alter ihrer Schwester Frieda erfahren.
„Ich habe einen Blumenstrauß gekauft und einen Gutschein für Kosmetik. Das bringe ich morgen alles mit.“
„Wozu hast du das gekauft?“, fragte jetzt Anna.
„Mutti!“, presste Lukas hervor. Seine Freude auf ein paar ruhige Momente am Feierabend war gänzlich verflogen.
Doch dann schoss ihm durch den Kopf, dass er ruhig bleiben wollte. Anna konnte ja nichts dafür. Es war ihre Krankheit, die sie alles vergessen ließ.
Und es ging damit schleichend eine Wesensänderung einher.
Das alles tat Lukas innerlich furchtbar weh und er litt darunter sehr, seelisch und körperlich.
Gerade hatte er sich mit Peter darüber unterhalten.
„Denk‘ in solchen Momenten daran, wie viel Gutes du durch deine Mutter erfahren hast“, sagte Peter.
Der hatte gut Reden, saß in Berlin und gab reihenweise schlaue Sätze von sich, die Lukas in der konkreten Situation wenig halfen.
„Ich versteh‘ dich“, sagte Peter dann.
Er wusste, dass er in ähnlichen Situationen manchmal noch schneller die Geduld verlor.
Lukas setzte erneut an, versuchte in Ruhe Anna noch einmal alles zu erklären.
„Ich versteh‘ nicht, warum ich dahin soll. Ich will nicht!“, sagte Anna und legte den einfach den Hörer auf.
Lukas war verzweifelt. Trotzdem wollte er nicht erneut anrufen, es würde wenig bringen.
Er nahm sich vor, am nächsten Tag einfach eine Stunde früher bei Anna zu sein, um ihr genügend Zeit zu geben, sich anzuziehen und mit ihm zum Geburtstag aufzubrechen.
Lukas nahm einen Schluck Bier. Das schmeckt irgendwie nicht, dachte er, stand auf und ging in die Garage, um sich eine neue Flasche zu holen.
Er musste sich erst einmal bewegen. Die Katze sprang auf und lief hinter ihm her.