ANNA IST DEMENT(41)

GLÜCK BRAUCHT KEINE VORBEDINGUNGEN

Peter hockt noch im Fitness-Studio und hat keine Lust mehr, sich zu quälen. Doch dann muss er an seine Mutter in Dresden denken. Sie sitzt den ganzen Tag im Rollstuhl, meist bewegungslos. Ihre Mimik scheint eingefroren.

Was ist das noch für ein Leben?
Peter will vermeiden, dass es ihm genauso ergeht. Wenigstens will er es rausschieben, möglichst weit nach hinten raus.

Also weitermachen mit den Übungen. Aber was ist mit den anderen Risikofaktoren? Übergewicht, Bluthochdruck, Gene?

100 Punkte für die Wahrscheinlichkeit, dass eines davon die Ursache für die eigene Demenzschwäche ist. Glaubt Peter das wirklich?

Peter schiebt diesen Gedanken von sich. Er will das tun, was er tun kann. Also weitermachen mit Sport und Abspecken.
Es ist wie jeden Tag. Peter kann fluchen, dass er früh aufsteht, bis zum Alex fährt, um sich dort fit zu halten, oder er nimmt den anderen Blickwinkel.

Den, der ihn sofort mit Leben umgibt. Mit der Energie, die er braucht, um dem ganzen Tun einen Sinn zu geben.
Er muss an seinen Vater denken. Was sagt er, wenn sie ihn zu Grabe tragen?

Woran soll er sich erinnern und woran will er die anderen erinnern, die mit ihm auf dem Friedhof stehen?
An die vielen Dispute, die unnützen und unsäglichen Dialoge, in der keiner nachgeben wollte?

Oder lieber daran, was er an seinem Vater so schätzte?
Seinen scharfen Verstand, seine Fähigkeit, schnell Menschen zu erkennen, Beobachtungen auf den Punkt zu bringen, auf des Pudels Kern zu reduzieren und rhetorisch zu glänzen, sowieso.

Sicher wird er über alles das sprechen. Aber was ist noch wichtiger?
Vielleicht die Tatsache, dass alles endlich ist, keiner die Zeit bekommt, die er glaubt auf seinem Konto zu haben, die ihm sozusagen zustünde, um etwa wieder was in Ordnung zu bringen.

Es ist besser, manche Dinge einfach laufen zu lassen, nicht dauernd auf die Schwächen anderer zu schauen. Vielmehr, einem Menschen Kraft zu geben, und ihm zwischendurch auch einmal zu sagen, wie sehr man ihn mag, und sei er noch so widerborstig.

Peter dachte daran, wie er zuletzt Krümel abholte, wie sie auf ihn zuschoss, weil sie glücklich war, ihn zu sehen.

Warum vergeht eigentlich diese ungestüme Freude im Alter?
Dieses glücklich sein, ohne irgendwelche ‚ja, aber‘ vorweg, sondern eher ‚hier und jetzt‘, sofort Spaß, nicht aufgespart für Weihnachten, wie das Glas Gurken zu DDR-Zeiten.

Peter wird aus seinen Gedanken gerissen, weil neben ihm jemand laut die Gewichte aufknallt. Er will schon rübergehen und sagen: „Hör mal, das macht man nicht, weil du das Gerät beschädigst und vor allem, weil du die anderen neben dir störst.“

Aber dann erinnert er sich an das, was er seinem Vater eigentlich noch hätte sagen wollen.

Er schaut zu seinem Trainingspartner am anderen Gerät rüber und lächelt ihm zu, und hebt den Daumen.

Der lächelt zurück und setzt die Gewichte beim weiteren Mal ganz vorsichtig ab.
„Geht doch“, würde jetzt Lukas sagen. Aber der ist ja in Stralsund. Peter wird ihn auf der Rückfahrt anrufen. Sie können morgens immer so schön lachen, über das, was Anna so raushaut. Sie lachen dann herzhaft, sie lachen Anna nicht aus, nein, sie machen sich nur gegenseitig Mut, geben sich Kraft für das, was noch kommt.