DIE SACHE MIT DEM 1. MAI

ANNA IST DEMENT (61)

„Bist du auf der Maidemonstration gewesen und gab es auf dem Marktplatz wieder Erbseneintopf mit Bockwurst?“

Lukas hielt für einen Moment den Atem an. Hatte Anna ihn gerade gefragt, ob er zur Maidemonstration war? Wie zu DDR-Zeiten?
Dabei hatte er das nicht einmal in diesen Jahren getan. Er war lieber auf seinem Hof geblieben, an seinem Räucherofen.

Gut, es konnte sein, dass er mittags zum Stralsunder Marktplatz schlenderte, um sich das Treiben auf den Straßen anzusehen und vielleicht eine Bockwurst zu essen.

Und Anna? Sie nahm nie an den Maifeierlichkeiten teil, sie interessierte sich einfach nicht dafür. Ihr reichte es, wenn ihr Mann, Wilhelm Sturm, vom Betrieb aus mitmarschierte. Daran war Anna gewöhnt, es war einfach das Lebensgefühl, das sie gespeichert hatte.

An diesem Tag waren die Bäume meist schon grün, die Sträucher blühten auf und der Frühling kam zur vollen Entfaltung.

Daran erinnerte sich Anna noch und auch, dass Wilhelm mitunter sagte: „Ich habe schon einen Teller Erbsensuppe mit einer Bockwurst aus einer Gulaschkanone gegessen und bin satt. Du brauchst kein Mittag mehr zu machen.“

Das sagte Wilhelm, obwohl Anna bereits den halben Vormittag damit verbracht hatte, das Mittagessen vorzubereiten.

Dafür freute sich Anna umso mehr auf den Nachmittag, auf den Kaffeetisch im Garten, an dem oft Klara und Peter und Laura saßen.
Das war es, was Anna vermisste, was gute Gefühle in ihr auslöste, und das viele Jahrzehnte ihr Leben ausgemacht hat. Ein Leben, mit dem sie zufrieden war, und auch glücklich.

Konnte Lukas ihr verdenken, dass sie ihn nun nach dem 1. Mai fragte?

Nein, das konnte er nicht und er wollte es auch nicht.
„Mutti, die Bockwurst und der Erbseneintopf waren wieder besonders lecker“, sagte Lukas stattdessen.

„Ach ja, das ist schön“, seufzte Anna und schwieg.
Lukas sah in das Gesicht seiner Mutter und entdeckte ein kleines, leises Lächeln.

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