ICH WILL STERBEN

ANNA IST DEMENT (63)

Der Tag begann mit herrlichem Wetter, die Sonne fing an zu scheinen, die Baumwipfel bewegten sich leicht und verdeckt von den grünen Zweigen der Bäume und Büsche waren die Vögel mit ihrem fröhlichen Gezwitscher zu vernehmen.

Anna war auf den Balkon gegangen und schaute von da aus auf den Strelasund. Auf dem Wasser waren Boote zu sehen und Segelschiffe, die langsam über die Wellen glitten.

Anna sah das alles, doch sie nahm es nicht wirklich wahr.
Ihr Gesicht schien regungslos und die Mundwinkel zeigten nach unten, so als ob es ganz furchtbar sei, an diesem schönen Tag auf dem Balkon zu stehen.

Es klingelte und Anna ging vom Balkon zurück in das Wohnzimmer und von da aus steuerte sie im Flur auf die Wohnungstür zu. Sie drehte den Schlüssel um, und noch bevor sie die Türklinke heruntergedrückt hatte, ertönte die Klingel ein zweites Mal.

Es war Lukas, der nach Anna sehen wollte.
„Du hast ja solange gebraucht, um die Wohnzimmertür zu öffnen“, sagte er.

„Ach, ich war auf dem Balkon“, sagte Anna.
„Und, schön über das Wasser zu gucken?“, fragte er Anna.
„Was soll denn daran schön“, fragte Anna mürrisch zurück.
„Mutti, wie viele Einwohner von Stralsund haben eine so schöne Wohnung mit einem phantastischen Ausblick auf den Strelasund?“
Anna antwortete nicht.

„Geht es dir nicht gut, Mutti?“, fragte Lukas besorgt.
Weißt du, ich will sterben!“

Lukas erschrak, obwohl es nicht das erste Mal war, dass Anna diese Satz sagte.

Sie äußerte sich vor allem dann so, wenn sie in einer depressiven Phase war, und sie den Eindruck bekam, dass sie sich nichts mehr merken konnte und zum Teil sogar in der eigenen Wohnung die Orientierung verlor.

„Warum willst du denn sterben?“, fragte Lukas mit leiser Stimme nach.

„Mir macht nichts mehr richtig Spaß und ich vergesse ja sowieso alles“, antwortete Anna. Ihr Gesicht hatte einen weinerlichen Ausdruck angenommen.

„Aber Mutti, wir sind doch alle für dich da und ich will für dich ja heute auch noch einkaufen. Soll ich dir Eis mitbringen?“
Lukas schaute Anna fragend und zugleich erwartungsvoll an.

„Das wird doch wieder alles schlecht im Kühlschrank“, sagte Anna knapp und trotzig.

Lukas ging, kaufte für Anna ein, brachte ihr Eis mit und verabschiedete sich traurig von ihr.
Am nächsten Tag rief Klara bei Anna an.

„Hallo Mutti, wie geht es dir?“
„Mir geht es gut, ich sitze gerade auf dem Balkon und schaue auf das Wasser. Weißt du eigentlich, wie schön es hier ist?“, fragte Anna fröhlich.

„Ja Mutti, das weiß ich, denn du wohnst ja immerhin dort schon seit über 60 Jahren.“

„Da hast du recht, aber ich wollte es nur noch einmal sagen.“
„Mutti, das ist doch wunderbar, und ich freue mich, dass es du heute gut drauf bist“, sagte Klara.

„Wieso heute? Mir geht es immer gut“, sagte Anna.
Klara rief später Lukas an und erzählte ihr von diesem Telefonat. Sie mussten beide lachen, obwohl ihnen nicht so richtig danach zumute war.