KLARA FÄHRT TROTZ CORONA NACH STRALSUND

Klara stieg in Berlin am Gesundbrunnen in den Zug nach Stralsund.
Das Abteil war leer und sie konnte sich in Ruhe einen Platz aussuchen, das Gepäck verstauen und es sich bequem machen.

Es war schön für sie, dass sie sich nicht drängeln musste, keiner im Weg stand, als sie das Gepäck in das Netz hievte.
Aber irgendwie war es auch unheimlich, ja nahezu gespenstisch, dass keiner weiter in den Zug einstieg.

Nur ganz vorn im Abteil, da saß ein älterer Mann, der unentwegt etwas vor sich hin brabbelte, in ein Taschentuch schniefte und sich dann wieder die Maske gegen Corona über die Nase zog.

„Wer weiß, wann der die Maske zuletzt gewaschen hat“, dachte Klara, während der Zug anrollte und sich langsam aus dem Bahnhof herausbewegte.

Sie musste an ihre Mutter in Stralsund denken, die sie besuchen wollte, um mal wieder nach dem Rechten zu sehen.

„Ich finde das nicht so gut, dass du jetzt fährst“, sagte Peter noch in den vergangenen Tagen zu ihr.

„Jetzt mach‘ mir nicht noch ein schlechtes Gewissen“, sagte Klara zu ihm.

Sie war auch ohne Peters Bemerkungen hin – und hergerissen.
Zum einen wollte sie unbedingt ihrer Mutter helfen, wieder etwas Struktur in Annas Alltag zu bringen. Und andererseits wusste sie natürlich, dass sich dem Risiko einer Corona-Infektion aussetzte.

„Ich versteh‘ dich schon, dass du nach Stralsund willst“, versuchte Peter sie zu beruhigen und in ihrem Entschluss zu stärken, bei Anna für ein paar Tage reinzuschauen.

Lukas war froh, dass Klara kam und er ein wenig entlastet würde.
„Es ist gar nicht, dass ich Mutti helfen muss, oder dass ich für sie einkaufen gehe, sondern, dass sie immer mehr herumnörgelt, dich förmlich mit ihrer schlechten Laune nach unten zieht“, sagte er zu Klara am Telefon.

Der Zug hatte Eberswalde erreicht und nach einem kurzen Aufenthalt ging es weiter. Klara schaute aus dem Fenster. Sie mochte es, einfach die Weiden zu sehen, auf denen vereinzelt Kühe grasten, oder die halbverfallene Scheune, an der der im Moment Zug vorbeiratterte.

Klara wurde müde von den wiederkehrenden Geräuschen. Sie schloss die Augen und sah ihre Enkelin vor sich, die rief: „‘Büüst‘ du, Oma?“

Ein Schmunzeln umzog ihre Lippen und lenkte sie davon ab, daran zu denken, was sie erwartete, wenn sie erst mal an Annas Tür klingelte.
Klara machte die Augen auf, zog das Handy aus der Tasche und ging die Videos durch, die Laura ihr geschickt hatte.

In der Mehrzahl war Krümel darauf zu erkennen, wie sie draußen umhertollte und die Gegend erkundete.

„Mama, hier Holz für ‚Feuerlager'“.
Jetzt konnte die Kleine schon zusammengesetzte Worte sagen, nur an der Reihenfolge in der der Silben musste sie noch feilen.

Aber irgendwie war es ja jetzt doch viel schöner, wie sie das Wort aussprach.

Der Zug hatte Greifswald erreicht. Der Bahnsteig war leer.
So langsam konnte Klara die Sachen von oben wieder herunterholen.

Dabei bestand gar keine Eile, denn in Stralsund war Endstation und die ohnehin wenigen Leute konnten ohne Hast aussteigen.
Klara stand trotzdem schon auf und fiel gleich wieder auf den Sitz zurück, weil der Waggon plötzlich hielt.

Langsam fuhr der Zug wieder an. Klara erhob sich erneut, hievte die schwere Tasche aus der Gepäckablage über ihr. Die Tasche war so schwer, dass sie ihren Arm ungewollt verdrehte.

Einer der Trageriemen hatte sich fest um ihre rechte Hand geschlungen und je mehr sie versuchte, sich daraus zu befreien, umso tiefer schnitt er sich in den Handballen ein.

Klara ließ die Tasche einfach auf den Sitz sinken, befreite sich von dem Trageriemen und rieb‘ ihre Hand, in der sich das Blut angestaut hatte.

Lustlos nahm sie die Tasche vom Sitz hoch, ließ sie gleich wieder auf den Fußboden des Ganges fallen und schleifte sie langsam hinter sich her.

Die Hallen der Volkswerft deuteten unwiderruflich die Ankunft in Stralsund an.