WIESO KLARA AUF EINMAL IN STRALSUND VOR IHR STEHT – DAS WILL ANNA NICHT IN DEN KOPF

Was bisher war:
Peter war Zuhause geblieben und kämpfte mit den kleinen und größeren Widrigkeiten des Alltags. Währenddessen war Klara bei ihrer Mutter in Stralsund angekommen.

Klara stand vor Annas Haus und drückt auf das Klingelschild von Anna und Wilhelm Sturm.

Das Haus war über sechzig Jahre alt und es war im schlichten Stil erbaut worden, in Plattenbauweise.

Nach der Wende wurde es saniert. Die Farben sind inzwischen wieder eingetrübt, an den Wänden laufen schwarzen Striemen an der Hauswand entlang, genau da, wo die Dachrinne durchlässig ist.
Anna war mit ihrem Mann, Wilhelm Sturm, damals Anfang der sechziger Jahre in das Haus eingezogen.

Sie waren glücklich, dass sie die Wohnung im obersten Stockwerk bekommen hatten, mit einem Balkon, von dem aus sie weit über den Stralsunder Hafen hinweg in Richtung Rügendammbrücke schauen konnten.

Damals gab es die moderne Brücke noch nicht. Aber der herrliche Blick, hinaus auf den Strelasund, den hatten beide stets genossen.
Klara hatte ihre Kindheit in dem Haus verbracht und Lukas ebenfalls.

Sie hingen beide daran und umso schwerer wurde es ihnen ums Herz, wenn sie sahen, wie Annas Demenz immer weiterfortschritt und sie weniger und weniger von dem genießen konnte, was ihre Wohnung ausmachte.

Auf der gegenüberliegenden Seite stehen bis heute Garagen, noch aus DDR-Zeiten. Peter konnte nie verstehen, warum die Eigentümer oder die Pächter nicht einmal die Ausfahrten vom Unkraut befreiten.

„Die liegen wie die Aasgeier hinter ihren Fenstern und schauen, ob sich nicht einer in die Ausfahrt stellt, aber eine Harke und einen Eimer zu nehmen, um das Unkraut zu beseitigen, nein, da sind sie sich zu schade.“

Klara antwortete darauf nie. Sie erinnerte sich in solchen Momenten an ihren Opa, der stets missmutig brabbelte, wenn er über ein Schlagloch auf dem Sandweg zum Garten fuhr.

Peter wurde eben älter und damit griesgrämiger, nahm Klara an.
Aber Peter sah das völlig anders. Ihn regte es auf, dass jeder nur noch an seine kleine Scholle dachte.

„Ja, wer ist da?“, ertönte jetzt die Stimme von Anna, während gleichzeitig schon der Türöffner summte.
Klara stapfte die Treppe hoch. Sie rang nach Luft. Lukas ging hinter ihr.

Es machte ihm weniger aus, weil er durch sein tägliches Saubermachprogramm in den Ferienobjekten im Training war. Und dabei trug er noch Klaras schwere Tasche, in die sie allerhand Mitbringsel für Anna hineingestopft hatte.

Als Klara auf dem letzten Treppenabsatz angekommen war, musste sie sich erst einmal auf den Stuhl setzen, der vor Annas Tür stand.
Anna wartete bereits auf sie.

„Wo kommst du denn her?“, fragte Anna mit aufgerissenen Augen. Sie sah zwar Lukas auf der Treppe stehen, aber den beachtete sie erst einmal nicht. Der war ja immer da.

„Ja, wir wollten dich überraschen.“
„Überraschen?“ Anna schaute Klara mit weit aufgerissenen Augen an, sagte aber nichts.

„Ich versteh‘ das nicht“, gab sie dann doch von sich.

„Ja, freust du dich denn nicht ein bisschen?“, fragte Klara, ein wenig enttäuscht über die Reaktion ihrer Mutter.

„Jaja, ich freu‘ mich“, sagte Anna, und es klang, als würde sie eine Floskel von tief unten aus ihrem Gedächtnispalast holen.

Klara antwortete darauf nicht, zog sich die Schuhe aus, ging auf ihre Mutter zu und drückte ihr wortlos einen Kuss auf Annas Wange.

Sie fühlte, wie schwer es in den nächsten Tagen mit Anna sein würde, die Wohnung auf Vordermann zu bringen und sie zu einem Spaziergang zu bewegen.