Was bisher war:
Klara kam auf dem Bahnhof in Bernau an. Sie war froh, wieder in ihr kleines Dorf fahren zu können. Peter stand auf dem Bahnsteig. Der ICE aus Stralsund sollte auf Gleis 4 einfahren. Er hatte extra die Jeans aus dem Kleiderschrank gekramt, obwohl er am liebsten in Trainingshosen umherging.
Der Zug lief pünktlich in den Bahnhof ein. Die Bremsen der ankommenden Waggons quietschten und aus dem Lautsprecher ertönte die Stimme, die die Ankunft des ICE aus Stralsund ansagte und zugleich die Weiterfahrt nach Berlin-Hauptbahnhof in wenigen Minuten bekanntgab.
Peter hatte in den Jahren einen guten Blick dafür entwickelt, aus welchem Waggon Klara aussteigen würde.
Er stand ziemlich genau auf der Höhe des Bahnsteigs, auf der Klaras Waggon einlaufen würde. Als der Zug hielt und die Tür aufging, stand Klara unmittelbar vor ihm.
Peter ging einen Schritt auf Klara zu, als sie aus dem Zug stieg. Klara strahlte und Peter drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Er war ein wenig verlegen, denn er war es auch nach Jahrzehnten nicht gewohnt, sie in der Öffentlichkeit zu küssen, weil er seine Gefühle nicht so offen zeigen wollte.
„Oh, du hast dich ja so herausgeputzt“, sagte Klara als erstes und zeigte auf Peters Jeans und seine Winterjacke. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, dass er am Alltag in Jogginghosen umherspazierte und eine Trainingsjacke überwarf, sodass nie so richtig klar war, ob er zum Nordic Walking oder in die Post gehen wollte.
„Wie war’s?“, fragte Peter, während er Klaras dicken Koffer hinter sich herzog.
„Ach, es ist schön, wieder hier zu sein“, seufzte sie ausweichend.
Dabei war es Klara gar nicht leichtgefallen, als Peter sie vor knapp 30 Jahren in den kleinen Ort Stainwotz gelockt hatte.
Sie wäre lieber in Stralsund geblieben, aber Peter hatte ein kleines Haus gekauft, besser eine Doppelhaushälfte und wollte dann auch seine Familie nachholen.
Aber jetzt, nach so vielen Jahren, da hatte sich Klara an das Dorf gewöhnt.
Inzwischen sprachen Peter und Klara aber immer mal wieder davon, aus Stainwotz wegzuziehen, zurück nach Stralsund. Aber was würde dann aus Laura und Krümel werden? Sie könnten sie nicht mehr so oft sehen.
Das kam für sie deshalb nicht wirklich in Frage. Sie wollten sehen, wie ihre Enkelin aufwuchs und es genießen, wenn sie am Wochenende ab und zu bei ihnen war.
Peter hatte das Auto auf dem Bahnhofsvorplatz geparkt. Er verstaute Klaras Koffer, beide stiegen ein und Peter steuerte das Auto in Richtung Stainwotz.
„Mutti hat mich jeden Tag gefragt, ob du auch genug zu essen hast“, sagte Klara, während Peter durch Bernau fuhr.
Peter mochte Anna und Anna mochte ihn. Sie hatten nie ein böses Wort miteinander gewechselt, obwohl Peter mit seinem schrägen Humor oftmals bitterböse Blicke von Klara erntete, während er mit Anna sprach.
„Das ist doch schön, deine Mutter weiß, wie schnell ich an Gewicht verliere“, antwortete Peter, ohne es selbst tatsächlich ernst zu meinen.
„Aber das nervt, denn sie fragt das nicht nur einmal, sondern mehrfach am Tag.“
„Ach, ich find‘ das schön“, sagte Peter und wusste, dass Klara darauf gar nicht eingehen würde.
„Und, hast du was geschafft?“, fragte Klara, während sie am Kreisverkehr Richtung Stainwotz angekommen waren.
„Ja, ein bisschen“, antwortete Peter einsilbig.
Was sollte er ihr auch sagen? Dass er gar keine so richtige Lust hatte zu arbeiten, während er Zuhause alleine war, und stattdessen lieber vor dem Fernseher saß, um durchgeknallte Thriller zu sehen oder die unzähligen Diskussionen und Berichte um die Präsidentschaftswahl in den USA verfolgte?
Es war tatsächlich ein Phänomen für ihn, dass er eigentlich weniger schaffte, wenn Klara nicht da war.
Und dass er jammerte, dass er nie richtig Zeit hätte, alles zu schaffen, wenn Klara Zuhause war.
„Ich denke, nächstes Jahr wird ein gutes Umsatzjahr“, versuchte er abzulenken.
„Was hast du denn an neuen Kunden in den letzten Tagen akquiriert“, ließ Klara nicht locker.
Sie war wie die Piranhas, diese räuberische Fische aus den tropischen Gewässern in Südamerika, die sich mit ihren scharfen Zähnen an einem festbissen und nicht losließen, bis sie genügend Fleischstücke vom Opfer für sich gekapert hatten.
So stellte sich es Peter jedenfalls vor, wenn Klara nachfragte.
„Ich habe die ganze Sache erst einmal neu strukturiert. Ich muss inhaltlich schauen, wo die Sache hingeht“, sagte Peter ausweichend.
„Ich denke, du weißt, wo die Reise hingeht. Also konntest du doch mit ganzer Kraft in den letzten Tagen akquirieren, oder nicht“, setzte Klara erneut nach.
„Weißt du, du kannst einen schon nerven mit deinen Fragen“, sagte Peter nun.
„Ich frage dich doch auch nicht ununterbrochen, wie es um deine Arbeit steht“, sagte Peter in etwas schärferem Ton.
„Ich bekomme jeden Monat mein Gehalt. Und du sagst, dass du noch so unendlich viel verdienen willst“, entgegnete Klara ungerührt.
„Unendlich viel? Das soll ich gesagt haben? Niemals!“, versuchte Peter sich zu wehren.
„Du musst jetzt mal einen Augenblick still sein, denn ich muss mich jetzt konzentrieren“, sagte Peter nun knapp.
Beide sagten kein Wort mehr, bis sie den Carport erreicht hatten und Klara ausstieg.