ANNA IST DEMENT (60)
Anna rief abends, kurz vor 22.00 Uhr bei Klara und Peter an. Sie weiß nicht mehr, dass sie an dem Tag Geburtstag hatte. Und sie beschwert sich darüber, dass ihr wieder mal niemand Bescheid gesagt hatte, dass für ganz Mecklenburg-Vorpommern ein Einreiseverbot wegen der Corona-Krise besteht.
Klara saß auf der Couch und war bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, Sudoku. Nebenher schaute sie in den Fernseher, in dem eine Krimi-Komödie mit Jason Bateman lief.
Peter lag auf seinem 2,5 – Sitzer, die Beine quer über die gesamte Länge ausgestreckt. Die Füße baumelten im Freien. Er hätte lieber auf Netflix die Serie ‚Fauda‘ gesehen, in dem es um die Bekämpfung von Terroristen im Nahen Osten ging.
Peter war fasziniert von den Bildern und schockiert von der Gewalt zugleich, die die Serie ausstrahlte. Dabei war es nur ein Film und die Wirklichkeit mit Sicherheit noch viel schlimmer.
Klara ist gegen diese Serien und so musste sich Peter fügen und einen relativ seichten Film mitanschauen.
Aber er hatte inzwischen den Haupthelden, dargestellt eben von diesem Jason Bateman, ins Herz geschlossen.
In dem Film, der gerade lief, spielte Jason Bateman einen Ehemann, der gerade einen Durchschuss von einer Pistolenkugel erlitten hat.
„Das wird jetzt sehr wehtun“, sagte seine Ehefrau.
„Da habe ich nicht den geringsten Zweifel“, antwortete ihr Ehemann.
Und dort hinein, in diese Szene, schrillte das Telefon. Klara und Peter hörten erst, ob es nicht doch ein Klingeln aus dem Film war.
Aber nein, ihr Telefon klingelte immer noch.
„Es ist Anna“, sagte Peter, nachdem er auf das Display geschaut hatte.
„Ich geh‘ jetzt nicht mehr ran“, meinte Klara.
„Geh ran, sonst liegst du die ganze Nacht wach und grübelst, warum deine Mutter noch so spät anruft. Vielleicht steht ja Stralsund in Flammen, weil Anna auf dem Balkon die Kerze hat brennen lassen“, sagte Peter noch scherzhaft.
Klara konnte darüber nicht lachen. Mit verkniffenen Lippen drückte sie auf den grünen Knopf des Telefons.
„Mutti?“, fragte sie in den Hörer hinein.
„Ja, ich bin’s. Ich begrüße euch. Geht’s euch gut?“, fragt Anna zurück.
„Mutti, weißt du eigentlich, wie spät es schon ist?“, entgegnet Klara mit einem gereizten Unterton.
„Wie spät soll es denn sein?“, fragte Anna.
„Es ist kurz vor 22.00 Uhr, Mutti!“, Klara konnte sich kaum beherrschen.
„Ja, weißt du, ich bin mir so unsicher, ob ich heute Geburtstag hatte“, meinte sie nun.
„Ja, natürlich hattest du Geburtstag, Mutti, den ganzen Tag heute. Wir haben doch alle angerufen und wir haben dir gratuliert. Erinnerst du dich nicht?“
Es herrschte Stille am Telefon.
„Bist du noch dran, Mutti?“
„Ja, ich erinnere mich doch jetzt wieder“, sagte sie verhalten.
„Ihr seid ja alle dagewesen!“, meinte sie dann.
„Mutti, wir können gar nicht dagewesen sein.
Aber Lukas hat doch mit dir eine sehr schöne Fahrt auf die Insel gemacht und anschließend habt ihr bei ihm auf dem Hof noch Kaffee getrunken.“
„Ach, wirklich!“
„Sag‘ bloß, dass du das nicht mehr weißt“, sagte nun Klara und bereute es im selben Moment.
„Aber warum seid ihr denn nicht hier gewesen?“, fragte Anna stattdessen.
„Weil wir wegen Corona gar nicht zu dir nach Stralsund dürfen.“
„Corona?“
„Ja, wir haben weltweit die Corona-Krise, es sterben Menschen, erkranken schwer und wir wollen dich nicht in Gefahr bringen, weil besonders ältere Menschen mit den Folgen der Erkrankung zu kämpfen haben.“
„Ach so? Naja, mir sagt ja keiner was.“
„Mutti, es ist schon spät, geh‘ doch ins Bett“, sagte Klara und verabschiedete sich von Anna.
Peter und Klara schauten den Film noch zu Ende. Er war lustig, aber nach Lachen war ihnen nach dem Telefon
nicht mehr wirklich zumute.
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