ANNA KANN NICHT MEHR ÜBER PETERS HUMOR LACHEN

ANNA IST DEMENT (1)

AUDIO – ANNA KANN NICHT MEHR ÜBER PETERS HUMOR LACHEN

VOR DREI JAHREN – MAI 2017

Sonntag. Klara sitzt an ihrem Schreibtisch und rechnet. Sie tut das, was sie gar nicht mag – die Buchhaltung von Peter auf Vordermann bringen.

„Kommt da nächste Woche noch was rein?“, fragt sie laut.
Nebenan sitzt Peter und murmelt etwas Unverständliches.

„Was hast du gesagt?“, hakt Klara nach.
„Ein Artikel ist noch offen“, antwortet Peter.
„Was, mehr nicht?“ Klara ist enttäuscht.
„Morgen klemm‘ ich mich ans Telefon“, sagt Peter kleinlaut.

Klara schweigt und Peter sagt auch lieber nichts weiter.
Dabei könnten sie sich so freuen, denn sie werden bald Oma und Opa. Laura, ihre Tochter, bekommt im Herbst ihr erstes Kind. Wahrscheinlich wird es ein Mädchen. Peter hat sich immer eine Enkelin gewünscht.

Dann könnte er mit ihr das nachholen, was er bei Laura nicht konnte: sich Zeit nehmen, Geschichten erzählen, einfach Quatsch machen. Doch da ist noch eine andere Sache, die alles überlagert. Klaras Mutter, Anna, ist dement.

Jedes Gespräch mit Anna am Telefon ist anstrengend – für beide Seiten, für Anna und für Klara.

Klara greift zum Telefonhörer und ruft Anna in Stralsund an.
„Ich gehe morgen zur Diamantenen Hochzeit“, sagt Anna gleich zu Beginn des Telefonats zu Klara.

„Mutti, schau doch einfach auf den Kalender – Charly und Berta haben doch erst nächste Woche ihren Hochzeitstag.“

Berta ist Annas beste Freundin. Sie kennen sich seit über 60 Jahren. Charly, Bertas Ehemann, war zugleich der beste Freund von Annas Mann Wilhelm.

Der ist vor siebzehn Jahren gestorben und seitdem ist Anna sehr einsam.
Anna schweigt am Telefon. Sie sitzt in Stralsund und ihre Tochter in der Nähe von Berlin.

Und jetzt macht ihre Tochter ihr noch Vorhaltungen, dass sie das Datum der Diamantenen Hochzeit von Berta und Charly vergessen hat.

Eigentlich ruft Anna zuerst an.
Abends, jeden Abend, ruft Anna an. Halb sieben, dann klingelt das Telefon.

Peter sagt in solch einem Moment: „Das betreute Wohnen ist dran.“
Klara erwidert darauf nichts. Doch es ist ein Stich, der ihr ins Herz geht. Peter weiß das und hat sich vorgenommen, es nicht mehr zu sagen.

Aber die Verführung ist zu groß, zu witzeln und sich so zu wehren gegen die Anrufe, die ihn nerven, meistens jedenfalls. Peter weiß selbst, dass es dumm und gefühllos ist, so zu denken.
Seitdem seine Schwiegermutter viel vergisst, ist Peter deshalb verständnisvoller geworden.

Aber manchmal gehen eben „die Pferde doch noch mit ihm durch.“
Gerade waren Klara und Peter bei Anna in Stralsund zu Besuch. Sie sind mit Anna im Hafen an der Mole entlanggegangen, in Richtung der Fahrgastschiffe.

„Ich liebe Stralsund, meine Heimat“, sagt Anna.
„Na, dann sind wir ja froh, dass wenigstens einer seine Heimat liebt“, stichelt Peter. Als würden Klara und Peter Stralsund nicht lieben.

Klara wirft ihm trotzdem einen wütenden Blick zu.
Peter lässt sich nicht beirren und stimmt ein Lied aus alten Zeiten an: „Unsere Heimat, das sind nicht nur die….“ Peter hält inne, weil er den Text vergessen hat.

„Hör‘ auf“, schäumt Klara.
Plötzlich stimmt Anna in das Lied mit ein. Peter ist verwirrt. Was lustiger Spott sein sollte, das nimmt Anna als Liebeserklärung an ihre Stadt.

„Ich darf das nicht mehr tun, ich muss mich anders verhalten, denn Anna ist dement“, denkt Peter und bekommt ein schlechtes Gewissen, dass er Klara nicht mehr zur Seite steht.