ICH HATTE KEINEN BESUCH

In Stralsund gewannen die Sonnenstrahlen immer mehr an Kraft und auf dem Wasser glitzerten die Wellen, die sich gemächlich in Richtung Altefähr bewegten. Auf dem Sund waren kleinere Segelschiffe zu sehen.

Peter kamen die Erinnerungen hoch, als er hier noch mit Klara gewohnt hatte. Sie waren nach der Wende dort hingezogen, hatten eine sehr schöne Wohnung, unmittelbar am Wasser gelegen und fühlten sich ausgesprochen wohl in der Stadt, die ja auch Klaras Heimat war. Klara wollte darauf keinen Gedanken verschwenden, denn sie dachte nun an ihre Mutter, die sie alle gleich besuchen wollten.

Wie würde es Anna wohl gehen, wie sah die Wohnung aus und was würde sie sagen, wenn sie alle zur Tür hereinkämen – Peter, Klara, Laura und Krümel?

Als Laura auf den Klingelknopf drückte, rührte sich zunächst gar nichts. Es war gerade mal 09.00 Uhr und Klara wollte ihrer Mutter einen Besuch abstatten, bevor sie alle an den Strand nach Prora auf Rügen fuhren.

„Ja?“, erklang jetzt eine verschlafene Stimme und gleichzeitig ertönte der Summer, damit sich die Tür öffnete.

Krümel stürmte als erste die Treppe hoch, brabbelte fröhlich und hinter ihr ging Laura, ihre Mama.

„Wo kommt ihr denn jetzt her?“, erklang es aus Annas Mund.

Leicht erstaunt und ein bisschen freudig hörte sich das von ihr an.

Krümel hielt sich nicht lange auf und stürmte in die Wohnung, um sie  für sich zu erobern.

„Ach, das ist ja eine Überraschung!“, sagte Anna jetzt zu Peter, als der schnaufend die oberste Treppenstufe zur Wohnungstür genommen hatte.

„Wir kommen direkt von Berlin“, sagte Klara, obwohl sie schon einen Tag in Stralsund waren.

Anna schaute Klara an.

„Und wieso weiß ich nichts davon, dass ihr kommen wolltet“, fragte Anna nun.

„Weil wir dich nur verwirrt hätten, Mutti“, antwortete Klara trocken.

Annas Lippen wurden schmal. „Ach, weil ich verwirrt bin!“, presste sie beleidigt hervor.

„Nein, du bist nicht verwirrt. Nur ein bisschen vergesslich“, griff Peter in das Gespräch ein.

Anna nickte und schwieg.

Krümel ließ ihr keine Zeit zu überlegen. Sie lachte sie an und sagte: „Oma Lilo,  ich bin Krümel.“

Jetzt musste auch Anna schmunzeln. Was Peter und Klara kaum noch gelang, das schaffte Krümel, nämlich ihr ein befreiendes Lachen abzuringen.

„Wo kommt ihr denn jetzt her?“, fragte Anna erneut.

„Von Berlin!“, sagte Klara wieder knapp.

„Kommt ihr von Polchow?“, fragte Anna erneut.

Polchow war bei Anna der Ort, an dem Klara und Peter über viele Jahre einen Bungalow hatten. Das war lange her, aber Anna hatte es tief in ihrem Gedächtnis abgespeichert.

„Nein, wir kommen nicht von Polchow. Den Bungalow in Polchow haben wir aufgegeben“, sagte Peter.

„Ach wie schade“, antwortete Anna enttäuscht.

Mit der Zeit lebte Anna immer mehr auf. Sie freute sich an Krümel, die sie anlachte und die gute Laune in ihrer Wohnung verbreitete.

Anna bekam das Gefühl, selbst wieder zu leben und bei etwas dabei zu sein.

Später verabschiedeten sie sich alle von Anna.

In der Küche hing eine Tafel. Peter schrieb dort mit Kreide und in großen  Buchstaben drauf: „Wir sind im Hotel ‚Baltic‘ – Klara, Peter, Laura und Krümel.“

Als sie die Treppen hinuntergingen, da war allen schwer ums Herz. Keiner mochte reden. Nur Krümel plapperte  fröhlich vor sich her.

Nachmittags war Lukas bei Anna.

„Na, hast du dich denn über den Besuch gefreut?“, fragte er.

„Über welchen Besuch?“, fragte Anna.

„Na guck doch mal hier auf die Tafel. Dort steht, dass Peter, Klara, Laura und Krümel hier sind und im Hotel ‚Baltic‘ wohnen.“

„Wieso sind die hier und warum wohnen sie im Hotel. Ich verstehe das alles nicht.“

Lukas seufzte, legte ihr die Zeitung hin, die er aus dem Briefkasten genommen hatte, brachte den Mülleimer runter und als er  davon wieder hochkam, da verabschiedete er sich von Anna.

Es war ein Abschied auf Raten, bei dem Lukas dachte, wie lange es wohl noch so gehen konnte. Und das hatten auch Klara, Peter und Laura gedacht, als sie die Treppen am Vormittag hinuntergestiegen waren.