SCHWESTER ERIKA WAR NOCH NICHT HIER

Was bisher war:
Anna war völlig davon überrascht, dass ihre Tochter unverhofft vor ihrer Tür stand.
Sie konnte sich nicht sofort freuen, weil sie es erst einmal geistig verarbeiten musste.
Überhaupt litt Annas Gefühlswelt stark unter ihrer Demenz.
Klara war voller Tatendrang, doch sie spürte, dass es nicht einfach werden würde mit Anna, für ein paar Tage auf engstem Raum zu sein.

„Jetzt sag‘ mir doch mal, warum ich nichts davon weiß, dass du hier in der Tür stehst“, sagte Anna mit einem vorwurfsvollen Unterton zu Klara.

„Mutti, wenn ich dir vorher auch nur ein Wort gesagt hätte, du hättest mich mit Fragen gelöchert, immer und immer wieder.“

„Ich?“

„Also, das gibt’s doch nicht, dass du das zu mir sagst“, erwiderte Anna. Sie schien tatsächlich gekränkt zu sein.

„Mutti, freu‘ dich doch, dass ich jetzt hier bin und lass uns ein paar schöne Tage zusammen haben“, schlug Klara in versöhnlichem Ton vor.

„Ja, ich freu‘ mich ja.“

„Wie lange bleibst du überhaupt?“, fragte Anna.

„Bis Sonntag. Mittags fahre ich wieder, Mutti.“

„Aha. Dann muss ich ja die Betten beziehen, damit du in frischer Wäsche schlafen kannst, sagte Anna und lief geschäftig ins Schlafzimmer.

„Nein, Mutti, das brauchst du nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil ich bei Lukas schlafe“, antwortete Klara knapp.
„Bei Lukas? Wieso bei dem?“

Annas Stimme bekam einen leicht abfälligen Ton, obwohl sie von ihrem Sohn sprach.

„Weil du deine Ruhe nachts brauchst, und ich auch“, meinte Klara jetzt.

„Und wieso haben wir die nicht?“, ließ Anna nicht locker.
„Weil du nachts vor dich hinsprichst, laut bist und einfach vor dich hin brabbelst, Mutti.“
„Das ist ja wohl die Höhe.“ Anna wurde nun böse. Früher hätte sie das gar nicht gekonnt, jemandem böse zu sein. Das war einfach nicht ihre Art. Aber Annas Wesen hatte sich verändert.

„Mutti, ich möchte nicht mit dir darüber streiten. Lukas und ich haben das so besprochen. Und so machen wir das auch.“

Klara klang energisch.
„Und wie lange bleibst du?“
„Das habe ich dir gerade gesagt, Mutti. Bis Sonntag.“
„Wieso hast du mir das gerade gesagt? Das stimmt doch gar nicht.“
„Wann fährst du denn jetzt wieder ab?“

Klara antwortete darauf nicht, sondern ging in die Küche, um nach dem Rechten zu sehen.
Sie öffnete den Kühlschrank und sah auf den ersten Blick, dass einige Lebensmittel abgelaufen waren.

„Die Wurst hier, die muss weggeschmissen werden!“
„Weggeschmissen? Nein. Die will ich noch essen.“
Anna reagierte störrisch.

„Wieso schaust du überhaupt in meinen Kühlschrank?“
Anna stand direkt hinter Klara, sodass sie die Tür vom Kühlschrank nur mit Mühe wieder zubekam. Sie würde sich das alles später vornehmen, alle Lebensmittel herausräumen, sie kontrollieren und sämtliche Fächer auswischen.

„Was hast du denn heute zu Mittag gegessen?“, fragte Klara Anna und schaute sie an.

„Gegessen, heute Mittag?“
„Das weiß ich nicht mehr.“
„Mutti, das kann doch jetzt erst vor einer Stunde gewesen sein“, sagte Klara.

„War denn schon die Schwester zum Spritzen hier?“, fragte sie Anna nun.
„Hier kommt keiner“, sagte Anna sofort.
„Hier kommt nie einer!“ wiederholte Anna jetzt ihre Aussage, um das alles zu untermauern.
„Das kann aber nicht sein, Mutti. Schau‘ mal hier in das kleine Buch, das direkt vor dir auf dem Tisch liegt. Da steht drin, dass die Schwester dich heute, 12.30 Uhr, gespritzt hat.

„Das kann nicht sein.“
„Wer soll das denn gewesen sein?“
Anna verzog trotzig den Mund.

„Schwester Erika, du brauchst doch nur hier hineinzuschauen.“
„Schwester Erika? Die kenne ich nicht. Die war noch nie hier!“.

Klara ließ sich erschöpft auf den Stuhl am kleinen Küchentisch fallen.

Sie war nervlich am Ende, so erschütterte sie die Reaktionen von Anna.
Und dabei hatte sie noch drei Tage vor sich.