KOTELLET – DAS IST JA WOHL DAS LETZTE (2)

ANNA-2018.11.18

Was sollte Peter jetzt antworten? Und vor allem: Wie sollte er reagieren? Barsch? Brutal, laut?

Oder eher ruhig, besonnen, vielleicht sogar sanftmütig? Jetzt konnte er Anna ja endlich mal sagen, wie es ihm auf die Nerven ging, wenn sie sich für nichts interessierte – als für die Blumen auf ihrem Balkon.

Sonst war Klara meist dabei, wenn Peter sich anschickte, den rhetorisch Schwächeren in die Zange zu nehmen.

Sie hatte deshalb ein Herz für die, die nicht so redegewandt wie Peter reagieren konnten. Sie half darum nicht Peter, sondern denen, die mit Peter einen Disput begannen, die ihn oft überhaupt erst provozierten.

Sie kannte Peter. Sie wusste, dass der sich zwar schon seine Antwort zurechtgelegt hatte, dass seine rhetorischen Truppen längst zum Angriff bereit waren.

Doch sie wusste eben auch, dass er sich zunächst zurückhielt, zum Schein zurückzog. Er senkte in solchen Momenten seine Stimme, ’stopfte sich Kreide in den Mund‘, damit der Feind eingeschläfert wurde.

Er lullte quasi sein Gegenüber ein, damit der noch leichtfertiger wurde und nicht darüber nachdachte, was er noch so alles sagte, was noch an leichtfertigen Gedanken über dessen Lippen kamen.

Der Zeitpunkt für den Gegenangriff war aber nun gekommen.

Peter hielt den Hörer in der Hand, am anderen Ende faselte Anna etwas von ‚so einsam‘ und er versank in einen Traum, in eine unwirklich anmutende Geschichte.

Einer Geschichte, die sich vor Jahrhunderten hätte so abspielen können.

Geben wir Peter in dieser unwirklichen Geschichte den Zusatz ‚Peter, der Entschlossene‘. Dieser war hoch oben auf seinem Pferd vor der Schlachtordnung.

Hinter ihm seine Getreuen, auf die er sich verlassen konnte. Seine Generäle, seine Soldaten. Und dann war da noch seine Frau, die mit ritt in die Schlacht. Sie saß auf einem Pferd, abseits von Peter. Nennen wir sie einfach ‚Sieglinde‘.

Und plötzlich passierte das Unfassbare. Sieglinde löste sich mit ihrem Pferd aus der Schlachtordnung und ritt in Richtung des Gegenübers, des Feindes. Deren Anführer soll der ‚Eiserne Gustav‘ heißen.

Sieglinde ritt also auf den Eisernen Gustav zu und winkte ihm fröhlich entgegen, mit einem Tuch, das sie auch noch selbst bestickt hatte. Der gegnerische Feldherr argwöhnte: „Was wollte Sieglinde, die Angetraute von Peter, dem Entschlossenen?“

Doch den Eisernen Gustav überkam die Neugier. Er übergab das Kommando seiner Truppen an seinen Marschall und ritt Sieglinde entgegen.

„Was willst du? Wir werden euch zermalmen, mit unseren mächtigen Reiterscharen!“, brüllte er schon von weitem.

„Gewiss doch, lieber Eiserne Gustav.“
„Aber ihr müsst euch nicht auf dem Schlachtfeld fetzen, du und mein Peter.“

„Warum nicht?“ Eiserner Gustav war verwirrt.
„Weißt du, mein Mann, der meint das nicht so. Im Gegenteil. Der mag dich sogar. Ein bisschen jedenfalls.“

Sieglinde fährt fortzureden, während ihr der Eiserne Gustav zuhört.
„Peter weiß, dass du der Klügere und der Stärkere bist. Kehrt einfach nach Hause zurück, zu euren Weibern und Kindern und besauft euch nach Herzenslust.“

Eiserner Gustav schaute verdutzt. Dann drehte er sich um und rief seinen Generälen entgegen: „Wir greifen nicht an. Wir drehen um.

Wir haben schon gesiegt. Sieglinde hat gesagt, Peter, der Entschlossene hat sich in die Hosen gepullert und ist indisponiert.“

Die Truppen vom Eisernen Gustav und seine Pferde wieherten vor Lachen und stoben auseinander, trotteten nach Hause.

Peter, der Entschlossene schäumte vor Wut, als Sieglinde zurückkam.

„Was erlaubst du dir, Weib?“

„Ärgere dich doch nicht Peter. Ich habe Gustav gesagt, dass du ihn zermalmen wirst, und dass nichts übrigbleibt von ihm und seinem Volk.

Da hat er es mit der Angst gekriegt und ist lieber geflohen. Wir haben jetzt kein Blut vergossen, unsere Kräfte geschont und können weiter unsere Ziele verfolgen.“

„Welche Ziele?“, fragte Peter, der jetzt Schwankende.
„Na, die Ernte einbringen, Geld verdienen.“
„Und dann?“

„Dann gut leben, Gustav in seinem Glauben belassen, er sei in Wahrheit der Stärkere und mit gutem Sold mehr Soldaten anlocken, damit wir für den Fall der Fälle gut gerüstet sind.“

„Wir sollten überlegen, ob Sieglinde nicht mehr zu sagen bekommt, in unserem Kriegsrat“, flüsterte Peter seinem treuesten General zu.“

„Noch mehr, mein König“, erwiderte der, „sie beherrscht doch faktisch schon immer unser Reich.“

Peter wachte auf aus seinem Traum.
„Bist du noch da?“, fragte ihn Anna.

„Ja, ja. Ich bin noch da. Weißt du, Anna, du hast Recht. Was für ein Quatsch mit dem Kotelett! Aber sag‘ mal, wie ist eigentlich das Wetter bei euch?“

„Und, wie war es heute mit Anna am Telefon?“, fragte abends Klara.
„Du wunderbar, ich hatte alles im Griff. Du weißt ja, sie erzählt manchmal schon wirres Zeug. Und ihr Charakter verändert sich auch durch die Demenz.“

„Gott sei Dank, dass du da nicht mit der Faust draufhaust und unnötiges Porzellan zerschlägst“, erwiderte Klara

„Das traust du mir zu?“, fragte Peter.
Klara seufzte nur und Peter ging in sein Zimmer, zufrieden mit dem, wie das Telefonat mit Anna gelaufen war.

„Morgen, da werde ich Anna sagen, dass es zum zweiten Frühstück auf See immer Steaks gab, mit Bratkartoffeln. Ja, das war gut“, dachte Peter.

Er konnte nicht aus seiner Haut. Jedenfalls nicht ganz. Aber er konnte ja noch eine Nacht drüber schlafen. Morgen, da würde das Spiel von vorn beginnen.

„Du, wir können Anna gar nichts mehr vorwerfen. Wir sind die Klügeren“, sagte Peter beim Zähneputzen zu Klara.

Klara schwieg. Sie traute ihm intellektuell so einiges zu. Nur seiner Rauflust, der traute sie nicht.

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KOTELLETT – DAS IST JA WOHL DAS LETZTE (1)

ANNA-2018.11.17

Peter schlug Anna vor, sich zum zweiten Frühstück ein Kotelett zuzubereiten und erntete Unverständnis.

Peter rief bei Anna an. Wie jeden Tag. Schließlich hatte er es Klara versprochen, kurz bei Anna durchzuklingeln, zu hören, wie sie drauf war und ob sie etwas zum zweiten Frühstück aß. Sie vergaß es in letzter Zeit immer häufiger.

Dabei war er im Stress und musste sich regelgerecht von den anderen Sachen losreißen.

Er hatte diesmal besonders viel zu tun. Da musste er noch die Fakten zur Ukraine recherchieren, für den geschichtlichen Hintergrund zum Interview mit der Prima Ballerina und er wollte unbedingt wieder Ordnung in seine Pressemitteilungen bringen.

„Wann willst du endlich wieder anfangen, Geld zu verdienen?“, hatte Klara ihn erst kürzlich gefragt.

„Lass doch, dann haben wir weniger Umsatzsteuer zu zahlen“, meinte Peter.

„Und weniger im Portemonnaie“, sagte Klara.

„Du kannst es nicht lassen, mir damit auf die Nerven zu gehen“, antwortete Peter. Er ärgerte sich über Klara und über sich selbst.

Durch seine Krankheit war einiges liegengeblieben.

Aber als erstes arbeitete er nicht etwa das auf, was Geld brachte, sondern das, was ihm Spaß machte. Klara wusste das. Und Peter wusste es auch.

„Jetzt bin ich schon Rentner und ackere mehr als früher“, sagte Peter.

„Du hast gesagt, dass du im Monat locker ein paar Hundert Euro zusätzlich reinbringst.“

„Locker? Das soll ich gesagt haben?“

„Das hast du gesagt und deine gönnerhafte Handbewegung gemacht“, erwiderte Klara.

„Ach, lass mich doch zufrieden. Wenn ich mich einen Tag ans Telefon schwinge, dann wirst du schon sehen.“

„Ja, wenn. Aber ich sehe überhaupt nicht, dass du irgendwelche Anstalten machst.“

Klara gab sich kämpferisch und ließ nicht locker: „Du schreibst nur über das, was dir Spaß macht.“

Peter antwortete nicht mehr.
Und nun saß er am Schreibtisch, hatte ein Haufen to-do-Listen geschrieben und geplant, wann er welchen Kunden mit welchem Ziel erreichen wollte.

Peter hätte auch einfach den Telefonhörer aufnehmen können. Aber das passte nicht zu ihm. Er musste erst eine Struktur schaffen, planen, um ein gutes Gefühl zu haben.

„Schreibst du schon wieder Pläne?“, fragte ihn Klara in so einem Moment, wenn sie sah, wie Peter Papiere auf dem Schreibtisch hin- und herschob.

Peter kam gut voran. Er unterbrach seine Arbeit, um Anna anzurufen.

„Wie geht es dir?“, fragte Peter, nachdem sich Anna am Telefon gemeldet hatte.

Stille. Nach einer Weile: „Och, weißt du, es geht so.“

„Na, du bist wohl heute nicht so gut drauf?“, fragte Peter.

„Nö!“, sagte Anna.

„Was ist denn?“

„Ich bin so allein.“

„Ja, allein. Warum gehst du denn nicht mal raus, vor die Tür. Danach ist alles anders.“

„Keine Lust.“

Peter stutzte. Der Ton gefiel ihm nicht. Er ließ sich nichts anmerken.

„Hast du denn schon dein zweites Frühstück gehabt.“
„Mach‘ ich gleich.“
„Was gibt’s denn?“
„Was soll’s schon geben? Immer dasselbe.“

„Was ist dasselbe?“
„Na, ein halbes Brötchen. Isst du denn etwas Anderes?“
„Ich esse gar nichts. Ich muss arbeiten und habe nur mal eine kleine Pause eingeschoben, um mich zu erkundigen, wie es dir geht.“

Peter merkte, wie seine Schilddrüse anschlug. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er langsam sauer wurde.

„Aber, dass du mich danach fragst, was ich esse. Das versteh‘ ich nicht. Es gibt doch immer das gleiche.“

„Naja, du könntest doch ein gebratenes Kotelett zum 2. Frühstück essen. So wie im Hotel.“

Das sollte ein kleiner Scherz von Peter sein. Aber Anna kam immer weniger mit Humor klar, seitdem ihre Demenz langsam fortschritt. Überhaupt war sie viel übellauniger geworden.

„Das ist ja wohl das letzte, daß du so etwas fragst. Kotelett. Unmöglich ist das!“ Anna schnauzte Peter regelgerecht an.

„Bei allem Respekt Anna. Dein Ton gefällt mir nicht. Wir rufen dich an, weil wir uns um dich sorgen.“ Peter musste sich beherrschen. Er musste diese Situation einfach bewältigen.

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‚MUTTI‘ MUSS STAUBSAUGEN


ANNA-2018.11.02

WIE DIE KRANKHEIT DAS GESAMTE UMFELD DER FAMILIE VERÄNDERTE, SCHLEICHEND, FAST UNAUFFÄLLIG

Der Alltag ging weiter, aber irgendwie und irgendwo war Annas Demenz auch immer mit dabei.
Anna hatte ein verstaubtes Bild von der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Und sie liess sich davon nicht mehr abbringen. Jetzt, nach ihrer Krankheit, erst recht nicht mehr.

Es gab Routinen, eben täglich wiederkehrende Dinge. Die meisten davon sind unabdingbar, Peter mochte manche davon trotzdem nicht.

Er musste sich dazu eben zwingen. Dazu gehörte der Anruf bei Anna.

„Aber dir macht das doch so viel Spaß“, sagten einige seiner Freunde, die ihn kannten.

Anna war dement. Das wussten alle. Und alle wussten, dass sie Aufmunterung brauchte.

Klara kümmerte sich, fuhr hin zu Anna, organisierte Arzt- und Frisörbesuche. Lukas war täglich bei Anna und schaute, wie es ihr ging.

Diejenigen Menschen, die Peter kannten, in dem Fall den Schreiber, und die seine Familie kannten, die wussten natürlich genau, über wen er berichtete.

Aber er wollte eine gewisse Distanz halten. Zum einen aus Respekt. Und zum anderen, weil er das ja alles in kleinere Geschichten packte und das Recht hatte, etwas wegzulassen, zu überhöhen oder etwas hinzuzudichten.

Peter war schon nahe dran an der Wahrheit, wenn er darüber in seinen Texten schrieb. Klara war das oft genug zu nah. Inzwischen weiß sie aber, dass Peter stets mit Wertschätzung schrieb und aus einer Perspektive heraus, von der er faktisch die Figur beobachten konnte.

Das gab ihm die nötige Sicherheit, die Distanz zu halten, aber auch wieder nahe genug dran zu sein, um über etwas zu schreiben, was passiert war.

Die größte Herausforderung war, mit einem demenzkranken Menschen zu sprechen und ihm keinerlei Vorhaltungen zu machen. Das verstand nämlich Anna nicht, man verunsicherte sie dadurch nur.

Denn Veränderungspotenzial, das gab es bei Anna nicht mehr, nur noch in Richtung der Verschlechterung ihrer Krankheit.

Klara sagte dann meist zu Peter: „Aber du könntest dich verändern, und du tust es nicht, du stellst dich einfach blöd an, wenn du etwas machen sollst.“

Darin war Peter nun mal geübt.
Doch zurück zu Anna. Sie rief Peter eines Abends zweimal an und fragte ihn, ob es ihm gutgehe.

In Wirklichkeit wollte sie Klara sprechen, wen sonst, ihren Schwiegersohn? Ja, ja. Wenn die Sonne ‚mal im Westen aufging‘, dann vielleicht.

Aber sie hatte vergessen, dass Klara donnerstags erst gegen 18.00 Uhr Schluss hatte und dann noch von Kreuzberg hierher zurückmusste, zurück in den Wald, der zu der Zeit schon dunkel war.

Also könnte Peter sagen: „Anna, das haben wir doch vor einer halben Stunde besprochen.“ Und anschließend könnte er sich darüber bei Klara aufregen.

Früher hat er das getan: „Deine Mutter denkt, dass ich Zeit ohne Ende habe. Und wenn ich fünfmal erkläre, dass ich auch außerhalb meines geliebten Schreibtisches zu Terminen muss, Interviews absprechen, interessante Menschen treffen. Keiner schenkt mir das Geld.“

„Ich sauge jetzt gleich“, sagte Peter zu Anna am Telefon.

„Oh Gott, und das als Mann!“, erwiderte sie. Wie aus der Pistole geschossen. Ohne nachzudenken. Jetzt kam Peter sich nicht mehr vor, wie Ironman, sondern wie Weichmann.

Sollte er jetzt sagen, dass dies sein Veränderungspotenzial der letzten Jahre war?

„Weißt du Anna, das ist bei uns im Haus schwere körperliche Arbeit.
Du weißt doch, was es bedeutet, die Treppen immer hoch und runterzugehen.“

„Ich weiß“, sagte Anna.
„Wirklich?“ Peter hakte lieber nicht nach.

Dann erzählte sie ihm, dass in der Anbauwand die ganzen Bilder von ihnen standen, von Klara, Laura, Peter.

„Hast du gestern schon erwähnt, vorgestern auch. Jeden Tag erwähnst du das!“

Das könnte Peter erwidern. Tat er aber nicht. Er sprach über die Bilder, die Anna gemalt hatte und bei ihm im Arbeitszimmer hingen.

Das freute Anna und sie verabschiedeten sich.

Peter rief anschließend Klara an: „Deine Mutter sagt, saugen sei keine Arbeit für einen Mann!“

„Ich dachte, du bist schon fertig?“, sagte Klara enttäuscht. Sie war ein klein wenig wie unsere Kanzlerin – immer trocken, aufs Ergebnis aus.

Peter holte den Staubsauger raus, setze seine Lieblingsmütze mit der Aufschrift „Fischkopp“ auf und machte‘ ein ‚Selfi‘.

Gut, er musste noch ein wenig am iPhone herumdrücken, bis er wusste, wie es ging.

Schließlich hat er über WhatsApp an Klara das Foto mit Staubsauger und Mütze gepostet: „Mutti beim Saugen.“

„Schöner Mann“, schreibt sie zurück. „Find‘ ich ja auch“, antwortete Peter.

Ach, irgendwie mochte er Klara doch. Und Anna? Die würde er Morgen wieder anrufen, wie immer, na klar.

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