ANNA IST DEMENT (48)
Peter geht an der Tür seines Vaters vorbei. Dort steht jetzt ein anderer Name auf dem Türschild. Peter muss schlucken.
Peter und Klara hatten sich am Samstagmorgen aufgemacht, um mit dem Auto nach Dresden zu fahren – ins Pflegeheim, dort wo Peters Mutter, Getrud Gerber, seit nun schon über anderthalb Jahrzehnten lebte. Sie war im Sommer 90 Jahre alt geworden und litt stark an Demenz.
„Ob sie uns wohl wiedererkennt?“, fragte Peter.
„Ich hoffe“, antwortete Klara, „aber genau wissen wir es erst, wenn wir vor ihr stehen“, setzte Klara nach.
Peter hatte einen Tag vorher noch die Pflegedienstleiterin, Schwester Eva, angerufen und gefragt, wie es seiner Mutter ginge.
„Ihre Mutter ist ganz munter und erkennt auch die Schwestern, wenn sie zur Tür hereinkommen“, sagte Schwester Eva.
„Das freut mich, dann haben wir ja eine Chance, dass sich meine Mutter freut, wenn wir eintreffen“, meinte Peter.
„Ja, ganz bestimmt“, versicherte die Schwester Peter. Dresden kam näher. Es war die Stadt, in der Peter sein Abitur gemacht hatte und mit der ihn viele Erinnerungen verbanden. Und trotzdem, das Gefühl von wirklicher Heimat wollte nicht aufkommen. Zu lange hatte Peter wohl im Norden gewohnt, in Schwerin und später in Stralsund.
Peter stellte das Navigationsgerät aus, denn er wusste, wie er fahren musste.
Sie fuhren an der Frauenkirche in die Tiefgarage und begaben sich zu Fuß zum Pflegeheim.
„Welchen Stock müssen wir drücken?“, fragte Klara, als im Foyer des Heimes in den Fahrstuhl stiegen.
„Ich glaube der dritte ist richtig“, antwortete Peter und ärgerte sich, dass sie es sich nie merkten, wo Getrud Gerber lag.
„Wir sind einfach zu wenig hier“, sagte Peter und wollte mit diesem Satz sein schlechtes Gewissen beruhigen. Als sie aus dem Fahrstuhl ausstiegen, gingen sie den Gang entlang, der zum Zimmer von Peters Mutter führte.
Sie mussten vorbeilaufen an dem Zimmer, in dem Peters Vater – Manfred Gerber – viele Jahre gewohnt hatte. Seine Frau und er wohnten in den letzten Jahren nicht mehr zusammen. Sie besuchten sich, solange es noch ging, aber die fortschreitenden Krankheiten bei beiden brachten es mit sich, dass die Pflege und Betreuung wirkungsvoller war, wenn beide in verschiedenen Zimmern untergebracht waren.
An der Tür von Manfred Gerber stand jetzt ein anderer Name. Peter bekam weiche Knie. Ihm wurde klar, wie endgültig es war, dass er seinen Vater nie wieder sehen oder sprechen würde.
Am Ende des Ganges war ein Buch aufgeschlagen, in dem die Todesnachrichten untergebracht waren. Peter blätterte das Buch durch und erblickte das Foto seines Vaters.
Es war nicht die letzte Seite. Im Herbst waren weitere Todesanzeigen hinzugekommen.
„Hier kommst nur wieder auf der Bahre raus“, hatte sein Vater mal zu Peter gesagt.
Peter schluckte. Er musste sich zusammenreißen, denn sie waren an der Tür von Getrud angekommen.