ESSEN AUF RÄDERN

Für Anna verlieren Tag und Nacht ihre Unterscheidbarkeit.
Sie kocht nur noch unregelmäßig.

„Guten Morgen, Mutti, wie geht es dir?“, fragte Klara am Telefon.

„Ich verstehe nicht, warum du fragst, denn ich will gerade ins Bett gehen.“

„Mutti, es ist jetzt halb zehn Uhr morgens, und du willst schon wieder ins Bett?“, fragt Klara mit leicht genervter Stimme.

„War denn die Schwester schon da und hat dich gespritzt?“, fragte sie weiter.

„Hier war keiner.“

„Hast du denn schon gefrühstückt?“

„Warum soll ich abends noch was essen?“, antwortete Anna ungerührt.

„Mutti, du musst jetzt wach bleiben, denn es ist jetzt nicht Abend, sondern der Tag beginnt erst.“

„Ach so, warum sagt mir das denn keiner?“

„Ich sag es dir ja jetzt!“, also lies doch ein bisschen Zeitung und löse ein Kreuzworträtsel, das machst du doch gern.“
Klara verabschiedete sich nach einigem hin- und her von Anna.

„Ich glaube, jetzt ist es soweit, dass wir etwas unternehmen müssen“, sagte Klara zu Peter, der an seinem Schreibtisch wieder mal eine neue Planungsvariante ausprobierte.

„Mutti denkt schon morgens, dass der Tag vorbei ist, sie kennt die Uhrzeiten nicht mehr und legt sich bereits wieder ins Bett, wenn die Schwester zum Spritzen da war.“

„Wie können wir das verhindern?“, fragte Peter, ohne von seinem Schreibtisch aufzusehen.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass Anna mehr Betreuung bekommt. Ich werde mal mit der Pflegedienstleitung in Sassnitz sprechen“, sagte Anna.

Und kaum hatte Peter darüber nachgedacht, da telefonierte Klara schon mit dem Pflegedienst.

„Ihre Mutter sollte mit Frühstück und Mittag durch uns versorgt werden“, sagte die Schwester.

„Meinen Sie denn, dass es schon so weit ist?“, fragte Klara mit leichten Zweifeln in der Stimme.

Sie wusste, dass es nicht aufzuhalten war und scheute sich dennoch, Anna ein weiteres Stück ihrer Eigenständigkeit im Alltag zu nehmen.

„Frau Sturm muss regelmäßig essen, damit wir auch regelmäßig die nötigen Medikamente verabreichen können“, erwiderte die Schwester.

Klara wusste, dass die Schwester recht hatte. Und sie war sich mit Lukas und Peter einig, dass etwas passieren musste.

Sie erinnerte sich daran, was ihre Hausärztin zu ihr gesagt hatte:

„Wenn Ihre Mutter sich nicht mehr selbst etwas zu Essen macht, dann rückt die Zeit heran, wo sie ins Pflegeheim muss.“
Klara seufzte und fragte Peter, ob er ihr dabei half, alles schriftlich vorzubereiten.

„Was bleibt mir übrig?“, brummte der und machte sich daran, den Pflegedienst offiziell anzuschreiben.

Wenige Tage später rief Klara Anna an.
„Mutti, wie schmeckt dir denn das Essen, das du mittags bekommst?“
„Ach, das ist wunderbar, dass die Schwester mir das Essen vorbeibringt.“

„Was hattest du denn heute Mittag?“, fragte Klara.
„Heute Mittag? Das habe ich vergessen. Aber es war schön, dass die Schwester da war.“