2021.05.12
Peter schwitzte am Schreibtisch. Er wollte es nicht wahrhaben, dass das Thermometer schon wieder auf 30 Grad angestiegen war.
Er musste an seine Mutter denken, die im vergangenen Monat beerdigt worden war und daran, wie die Corona-Regeln den Abschied von ihr so sehr erschwert hatten.
Es waren nun schon wieder zwei Jahre her, seit Getrud Gerber ihren 90. Geburtstag gefeiert hatte. Zwei weitere Jahre hatte sie noch gelebt, obwohl sie bereits schwerkrank war.
Kurz vor ihrem 90. Geburtstag war Getruds Mann und Peters Vater, Manfred Gerber, gestorben.
Es war schwer in dieser Zeit, für Klara und Peter, ihr zu erklären, warum ihr Mann nicht zum Geburtstag erschien. Gertrud war seit Jahren an den Rollstuhl gefesselt und litt an einer schweren Demenzerkrankung.
„Was ist das eigentlich noch für ein Leben, wenn du nicht mehr selber laufen kannst, auf die Hilfe anderer angewiesen bist und die Gedanken auch nicht mehr so wollen, wie man es selber will?“, fragte Peter sich.
Aber es war ein Leben, ein anderes eben, den Umständen angepasst.
Ihm fiel ein, wie er gemeinsam mit Klara irgendwann Anfang des Jahres 2019 Gertrud im Pflegeheim in Dresden besucht hatten.
Als sie ins Zimmer von Getrud kamen, da lag sie im Bett und dämmerte vor sich hin. Der Fernsehapparat war angestellt und jemand erzählte mit gleichförmiger Stimme von den Schönheiten der Mecklenburger Seenlandschaft.
Gertrud sah nicht hin, wenngleich sie es wohl im Unterbewusstsein wahrnahm. Es hatte etwas Beruhigendes und Peter wäre wohl auch nicht eingeschlafen, hätte er sich in den Sessel vor dem Bett gesetzt und auf die Bilder geschaut und dabei die gleichförmige Stimme gehört.
Aber Klara und Peter wollten sich nur erkundigen, wie es Getrud ging und dann zurück nach Berlin fahren.
„Erkennst du mich?“, fragte er seine Mutter.
Sie machte die Augen weit auf, starrte ihn an und sagte dann langsam und mit leiser Stimme:
„Na, du kleiner Hase?“
Peter war zunächst sprachlos. Sollte er sich gekränkt fühlen, oder sollte er lachen?
Er hatte das schon oft erzählt und Klara sagte, dass Peter es als eine Liebeserklärung seiner Mutter zu ihrem Sohn auffassen sollte.
„Naja, ich weiß nicht“, sagte Peter in diesen Momenten.
Gertrud hatte ihn nie groß gelobt, ihn schon gar nicht überschwänglich verhätschelt.
„Du musst lernen, damit du mal so gut wie der Vati wirst“, hatte sie ihm stattdessen oft gesagt.
Und Peter lernte, machte Abitur, studierte zweimal – einmal in einem technischen Fach und dann in einem volkswirtschaftlichen. Schließlich promovierte er nach diesen acht Jahren in weiteren Jahren an einer Uni.
Er schloss die meisten Fächer in beiden Fachrichtungen mit sehr guten Ergebnissen ab, verteidigte die Dissertation mit einer besseren Note als ‚der Vati‘.
Doch Lob gab es dafür von seinen Eltern nicht. Im Gegenteil, sie hatten stets etwas an seiner beruflichen Entwicklung auszusetzen. Peter trug deshalb viel Frust in sich, was seine Erinnerungen anbetraf.
Aber sollte er das jetzt seiner Mutter vorhalten, wo sie sterbenskrank vor ihm lag und sein Vater bereits tot war?
Nein, das wollte er auf keinen Fall. Ihm stand nicht der Sinn nach Rache.
Er war nur traurig, denn er hätte sich ein besseres Verhältnis zu seinen Eltern gewünscht.
Doch das war nun nicht mehr zu reparieren.
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