PETER KANN DIE PRÜGELATTACKEN SEINES VATERS NUR SCHWER VERGESSEN

ANNA-2021.05.13

RÜCKBLICK:
Peter dachte an seine Mutter, die im vergangenen Monat beerdigt worden war und daran, wie die Corona-Regeln den Abschied von ihr so erschwert hatten. Er erinnerte sich an eines ihrer letzten Treffen und Gertruds Antwort auf seine Frage, ob sie ihn noch erkennen würde: „Na, du kleiner Hase…“

Der Tod seiner Eltern gab Peter die Chance, seine Gefühle zu ihnen zu ordnen, die Möglichkeit, abzuschließen und einen Neubeginn zu schaffen, in den Gedanken und vor allem in seinem Herzen.

In den letzten Jahren hatten die Erinnerungen sein Verhalten gegenüber seinem Vater und seiner Mutter dominiert, die in ihm fortwährend Wut und Enttäuschung, ja Verzweiflung auslösten.

Er hätte dies längst verdrängt, aber er konnte es nicht, weil sein Vater ihm stets einen neuen Anlass gab, das nicht zu tun.

„Sein ganzes Leben hat mein Vater nicht die Kraft aufgebracht, sich mal dem zu stellen, was er uns Kindern angetan hat.“

„Was meinst du damit?“, fragte ihn Klara. Sie saßen am Wochenende beim Frühstück in der Küche.

„Ich meine damit die furchtbaren Prügelorgien, die er uns verabreicht hat, die Angst, die wir Kinder vor ihm hatten, wenn er nach Hause kam.“

Klara schaute ihn an und sagte: „Mein Vater hat manchmal auch den Latschen genommen und hat mich oder Lukas verhauen.“

„Das mag schon sein, aber der entscheidende Unterschied bestand bei meinem Vater darin, dass der keinen konkreten Anlass brauchte, um uns zu schlagen“, erwiderte Peter.

„In der Mehrzahl kamen die Prügelattacken aus dem Nichts.
„‚Der Vati‘, wie meine Mutter ihn vor uns nannte, brauchte keinen Grund. Er schlug aus einer Laune heraus auf uns ein.“

„Wieso hast du eigentlich die meiste Prügel abbekommen?“
„Mein Bruder stotterte, und da ließ mein Vater von ihm ab, um ihn nicht noch mehr zu schädigen.“

„Und deine Schwester?“

„Sie war der Liebling meines Vaters. Sie pullerte sich sofort in die Hosen, wenn mein Vater auch nur die Hand hob.“

„Also bliebst nur du übrig?“
„Ja, so war es. Ich hatte ohnehin oft Widerworte und bot meinem Vater eine Flanke, die weit offenstand, wie ein riesiges Scheunentor.

„Was hat er denn gemacht?“
„Mein Vater, wenn er geschlagen hat?“

„Ja.“

„Er hat dir keine Ohrfeige verabreicht, sondern er hat aus dem gestreckten Arm im Winkel von nahezu neunzig Grad mit brachialer Energie zugeschlagen. Ich hatte danach oft tagelang Kopfschmerzen. Am schlimmsten aber war es, wenn er einen seiner Spazierstöcke nahm.“

„Spazierstöcke?“
„Ja, die standen im Keller in einer Ecke. Ich musste sie in dieser Situation auch noch hochholen.“

„Und dann?“
„Dann sollte ich die Hände nach vorne nehmen, mich runterbeugen und mein Vater schlug mit voller Kraft auf das Hinterteil.

Wenn ich die Hände vor Schmerzen nach hinten nahm, um die Schläge wenigstens ein bisschen zu mildern, dann musste ich sie wieder nach vorn nehmen.

Der Schlag auf die Hände zählte nicht. Also sauste der Stock danach doppelt hintereinander auf mich herunter. Es waren höllische Schmerzen.

Das Schlimme war, dass mein Vater nicht völlig vor Wut aufgelöst schlug, nein, er schlug gezielt, ruhig, mit ganzer Kraft, die ihm zur Verfügung stand.

Du kannst dir vorstellen, was das für ein Kind mit acht Jahren bedeutete.“

Peter hörte auf zu sprechen. Klara schwieg betroffen, obwohl sie seine Schilderungen nicht das erste Mal hörte. Peter hatte es ihr in den ersten Jahren seiner Ehe verschwiegen.

Aber als sein Vater auch später Peter weiter demütigte, zwar nur mit Worten und Gesten, und als er sogar begann, Klara zu beleidigen, süffisant und mitunter niederträchtig, da erzählte Peter ihr, was für ein Mensch sein Vater wirklich war, woher das alles rührte.

„Ich bin davon überzeugt, dass er auch zu DDR-Zeiten gezogen wäre. Zumindest wäre er nicht Professor geblieben. Meine Oma wollte ihn oft anzeigen. Aber irgendwie hat es dann doch keiner getan.“

Peter stand vom Frühstückstisch auf.
„Lass uns nicht das Wochenende mit diesen Erzählungen verderben.
Jetzt, wo er nicht mehr lebt, will ich versuchen, auch die guten Seiten an diesem Menschen herauszustellen“, sagte Peter.

Sein Vater war ein brillanter Redner, ein verdammt guter Schreiber und jemand, der mit seinem Charisma schnell Menschen in seinen Bann schlug.

Diese dunklen und hellen Seiten zusammenzubringen, sie ausgewogen zu betrachten, das war Peter zu Lebzeiten seines Vaters nicht gelungen.

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