ALLTÄGLICHES-2021.10.05
Vom Nachsinnen über dein Leben im gewöhnlichen Alltag
Krümel war am Wochenende bei uns gewesen.
Wir ließen uns dann ganz auf unsere Enkelin ein. Klara kochte und backte, versorgte sie mit Süßigkeiten, mehr als ihre Mama es zulassen würde.
Ich schmiss mich auf den Fußboden, holte die Spielzeugkiste hervor, in denen die kleinen Autos verstaut waren.
Und wir schauten mit Krümel die ‚Hunde‘, einen Zeichentrickfilm, in dem wir mittlerweile schon mitspielen können.
Ich hätte gern im Fernsehen etwas über die Sondierungsgespräche der Parteien erfahren, aber wir wollten Krümel natürlich nicht stören, wenn sie auf der Couch saß, ein Bein über meinen Arm legte und mit dem Kopf auf der anderen Seite lag.
Sie kaute an einer Banane und war ansonsten nicht ansprechbar, denn sie verfolgte ‚ihre Hunde‘ in der Zeichentrickserie hartnäckig.
Na klar, es war auch anstrengend mit Krümel.
Meist sind wir nach ihrem Besuch so kaputt, dass wir hinterher irgendeinen Film anmachen und uns nur noch knapp unterhalten.
Diesmal habe ich Krümel erst am Montagmorgen zurückgebracht. Wir sind sofort in Richtung Kita gefahren. Krümels Mama hatte Frühdienst und so wollten wir nicht, dass unser kleiner Liebling so früh aufstehen musste.
„Ich schlafe in deinem Arbeitszimmer und Krümel kann in meinem Bett schlafen, damit wir sie früh nicht wecken und du trotzdem gleich den Laptop für dein Homeoffice um halb Sechs anschmeißen kannst“, habe ich zu Klara gesagt.
Die war sofort einverstanden, Krümel natürlich auch.
„Oma!“, rief sie nachts freudig, als sie noch einmal aufwachte, kerzengerade im Bett saß und sich dann gleich wieder in eine andere Richtung auf die Bettdecke schmiss.
Ich wachte früh auf, fühlte mich zerschlagen, war aber guter Dinge, weil wir so ein schönes Wochenende hinter uns hatten.
Auf dem Weg zur Kita kam ich nur langsam vorwärts, die B 2 nach Berlin rein war gesperrt und die Autos stauten sich.
„Geht weg, Autos, wir wollen in die Kita!“, rief Krümel laut. Es störte sie wenig, dass sie wohl keiner der Fahrer in den anderen Autos neben und vor uns hört.
Mit einer Stunde Verspätung kamen wir an und Krümel hüpfte fröhlich die Treppen zu ihrer Kita-Gruppe hoch.
„Hallo Krümel!“, riefen zwei Mädchen, die uns entgegenkamen.
„Das ist mein Opa“, sagte Krümel und zeigte auf mich.
„Aber er ist ja schon ein alter Mann“, sagte sie noch, und senkte dabei ihre Stimme.
Ich war geschockt, hielt inne, obwohl ich ebenfalls im hohen Tempo die Treppen mithochgestiegen war. Gerade hatte mir im Fitness-Studio jemand gesagt, dass ich noch jung aussehen würde.
Aber Krümel sprach unerbittlich die Wahrheit aus.
Ja, ich bin tatsächlich ein alter Mann.
Ich dachte kurz an meine Oma, die für mich schon mit 56 Jahren eine alte Frau war.
Ich kam ins Grübel, als ich auf der Rückfahrt von der Kita war.
‚Warum lebst du eigentlich so und nicht anders? Wieso arbeitest du noch im Alltag, obwohl du dich doch mit anderen Dingen beschäftigen könntest?
Machte es überhaupt noch Spaß, im Alltag Geschichten zu schreiben, Interviews mit interessanten Menschen zu führen, oder sollte ich mich zurückziehen, nur noch im Wald laufen, morgens ein bisschen Kraftsport im Fitness-Center machen?
Es ist komisch: Erst wenn du einen Impuls von außen erhältst, du vielleicht krank wirst, dann fängst du an, über den Sinn deines Lebens im Alltag nachzudenken.
So ging es mir mit der klaren Ansage von Krümel auf der Kita-Treppe.
Aber war es nicht das, was das Alltagsleben ausmachte – dass ich Krümel zur Kita brachte, mich danach an den Schreibtisch setzen und arbeiten würde?
Es ist schon wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, über wieviel Reichtum du gerade im Alltag verfügen kannst, wenn du den entsprechenden Blickwinkel wählst.
Am Wochenende wird Krümel vier, und ich, ich bin ja schon viel älter, einfach ein alter Mann eben.
Ich habe ihr die Jahre voraus, sie hat noch ihr ganzes Leben vor sich.
Ich weiß inzwischen, wie wertvoll die Momente sind, wo ich mit ihr auf dem Fußboden sitzen und die Spielzeugautos über den Teppich schieben kann.
Wir sind beide glücklich in dem Moment, trotz des großen Altersunterschiedes.
Und darauf kommt es an, wenn es um den Sinn im Alltagsleben geht.
Mehr lesen:
2021: https://uwemuellererzaehlt.de/mein-freund-der-alltag/alltaegliches-2021/
2020: https://uwemuellererzaehlt.de/mein-freund-der-alltag/alltaegliches-2020/
2019: https://uwemuellererzaehlt.de/mein-freund-der-alltag/alltaegliches-2019/
2018: https://uwemuellererzaehlt.de/mein-freund-der-alltag/alltaegliches/