ANNA-2021.10.08
Klara und Peter wachten im Gasthof ‚Soljanka‘ auf. Sie checkten im Gasthof aus, und wollten abends in Annas Wohnung übernachten. Vorher aber mussten sie Anna in die Kurzzeitpflege bringen. Der Arzt Dr. Silberfisch hatte ihnen dazu geraten. Nur wusste keiner, wie sie es schaffen sollten, Anna dazu zu bewegen, aus ihrer Wohnung zu gehen.
Klara und Peter hatten die zweite Nacht besser geschlafen. Die Autos, die auf der Strasse vor dem Hotel vorbeiratterten, nahmen sie nicht mehr so deutlich wahr, wie es in der ersten Nacht der Fall gewesen war.
„Mir ist nicht wohl dabei, wenn ich an den heutigen Tag denke.“
„Geht mir genauso“, sagte Peter, während er in sein iPad schaute.
„Aber wir müssen da jetzt durch, wir haben keine Wahl.“
Beide schwiegen, während sie im Auto sassen und zu Annas Wohnung fuhren.
Als sie angekommen waren und vor Annas Tür standen, drückte Klara auf den Klingelknopf und holte vorsichtshalber schon mal den Wohnungsschlüssel aus aus ihrer Handtasche.
Die Tür ging auf und Anna schaute Klara und Peter mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was wollt ihr denn hier?“, schleuderte sie den beiden entgegen.
„Guten Morgen, schön dich zu sehen“, sagte Peter übergangslos.
„Wir wollen dich abholen, damit wir eine kleine Fahrt durch Stralsund machen können“, entgegnete Peter.
„Hast du Lust dazu?“, fragte er gleich noch hinterher.
„Ja“, sagte Anna.
„Na bitte, dann freuen wir uns auf einen schönen Tag“, meinte Peter, während er Klara zuzwinkerte.
Anna antwortete nicht.
„Warum seid ihr hier?“, fragte sie stattdessen erneut.
„Wir wollen mit dir einen schönen Ausflug machen“, wiederholte Peter, ohne darauf einzugehen, dass Anna die Frage schon einmal gestellt hatte, ein paar Minuten zuvor.
Peter ging ins Wohnzimmer, schlug die Ostseezeitung auf und überflog flüchtig die Schlagzeilen. Aus dem Schlafzimmer hörte er, wie Anna sich sträubte, auch nur irgendein Kleidungstück anzuziehen.
„Mutti, wir können doch nicht so mit dir auf die Straße gehen“, sagte Klara zu ihr.
„Wieso auf die Straße, was soll ich da?“, fragte jetzt Anna erneut.
„Ich geh‘ schon mal zum Auto runter und warte dort auf euch“, sagte Peter.
Klara fragte ihn noch leise, ob er die Taschen vom Dachboden mit hinunternehmen würde.
Peter nickte und ging zur Tür hinaus. Er holte die Taschen vom Dachboden und begab sich zum Auto.
Klara hatte sie einen Tag zuvor dort deponiert, damit Anna sie nicht fand und wieder auspackte.
Es verging noch eine weitere Stunde, bevor Anna in der Hauseingangstür auftauchte.
Peter war sichtlich erleichtert. Der erste Schritt war getan.
„So, jetzt machen wir eine schöne Hafenrundfahrt und anschließend fahren wir in Richtung Sund-Krankenhaus“, sagte Peter, als Anna endlich im Auto saß.
Anna sagte nichts.
Sie fuhren durch die Stadt und Peter hielt in der Nähe des Hafens an.
„Kommen hier Erinnerungen an deine Kindheit hoch?“, fragte Peter.
„Ja, und wie“, sagte Anna.
„Guck mal, da lagen früher viel mehr Fischerboote und wir haben dort sehr gern als Kinder gespielt und beobachtet, wie die Fischer ihre Ware auf die Pier hievten“, erklärte Anna und lebte dabei zusehends auf.
Klara und Peter waren sichtlich erleichtert, dass Anna gute Laune zu haben schien.
Peter fuhr wortlos in Richtung Sund-Krankenhaus weiter und suchte einen geeigneten Parkplatz.
Klara war ihrer Mutter beim Aussteigen behilflich.
„Es ist besser, ich hole das Gepäck später aus dem Auto“, sagte Peter leise zu Klara.
In der Anmeldung zur Kurzzeitpflege wartete Peter gemeinsam mit Anna auf Klara, die in der Information fragen wollte, wo sie sich melden sollten.
„Was macht Klara da?“, fragte Anna.
„Du, ich habe keine Ahnung“, sagte Peter ausweichend.
Es war ihm unangenehm, dass er nicht die Wahrheit mit Anna besprechen konnte.
Dass es für sie besser wäre, nicht mehr Zuhause allein zu wohnen, und dass sie übergangsweise für ein paar Tage in der Kurzzeitpflege sein müsste.
Doch das hätte alles gefährdet. Der Arzt und das Pflegepersonal hatten ihnen abgeraten, alles zu erklären, sondern lieber eine Wahrheit zu sagen, die Anna auch akzeptieren könnte.
Ein schwieriger Akt, den man erst vollends begriff, wenn man selbst die Verantwortung dafür tragen musste.
Klara kam schnell wieder. Sie fuhren in die dritte Etage.
„Ach das ist ja wunderbar, Frau Sturm, dass Sie so pünktlich kommen“, sagte die Schwester.
„Was will die von mir?“, fragte Anna ihre Tochter, ohne auf die Begrüßungsworte der Schwester einzugehen.
„Ich bin Schwester Erika. Frau Sturm, kommen Sie doch gleich mal mit. Es gibt jetzt Mittagessen“, sagte die zu Anna.
„Was gibt’s denn?“, fragte Anna.
„Rouladen mit Rotkohl.“
Es war eines der Lieblingsgerichte von Anna.
Sie hakte sich wortlos bei Schwester Erika ein und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, in Richtung Speisesaal mit.
Klara und Peter waren verblüfft, aber vor allem froh, dass alles so reibungslos geklappt hatte.
Peter hastete zum Auto und holte Annas Gepäck.
Klara sortierte Annas Sachen aus dem Koffer gleich in den Schrank im Zimmer von Anna ein.
Es war ein Einzelzimmer, modern eingerichtet, mit eigener Toilette und Duschtrakt.
„Hättest du gedacht, dass wir das so gut hinbekommen?“, fragte Peter auf der Rückfahrt.
„Nie im Leben“, sagte Klara. Man merkte ihr an, wie erleichtert sie war.
In Annas Wohnung angekommen, blieb ihnen nicht viel Zeit, zu verschnaufen.
Die Schränke mussten ausgeräumt und die Sachen aussortiert werden, die Anna mit ins ‚Betreute Wohnen‘ mitnehmen sollte.
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