WAS GLÜCK IM ALLTAG IST – DARÜBER KÖNNEN DIE MEINUNGEN SCHON AUSEINANDERGEHEN

ALLTÄGLICHES-2021.08.04

‚Mein Haus, mein Pferd, mein Auto‘ – manchmal denkst du, dass dies nur übertriebene Werbung sein kann, dass es so etwas nicht gibt, schon gar nicht unter Menschen, die du geglaubt hast, zu kennen.

Das Telefon klingelte. Ich war nicht gewillt, mich jetzt von einem Anrufer ablenken zu lassen.

Trotzdem war ich neugierig und schaute deshalb auf das Display. Es war eine Nummer von der Ostsee.

War etwas passiert mit Klaras Mutter, rief die Einrichtung des Betreuten Wohnens an?

Das konnte nicht sein, denn die Vorwahl war eine andere.
Ich war neugierig geworden und drückte auf die grüne Taste des Telefons.

„Hallo Uwe, hier ist der Dieter“, ertönte eine sonore Stimme

„Dieter, welcher Dieter?“ Ich wusste nicht, wer das sein sollte.

Plötzlich schoss es mir durch den Kopf. Die wohlgesetzte Betonung der deutlich artikulierten Worte, das richtige Einhalten von Pausen. Das konnte nur einer sein.

„Bist du es Dieter, der jetzt an der Ostsee wohnt?“
Ich kam mir blöd vor, so zu fragen, aber Dieter verstand mich.
„Ja, der bin ich.“

Ich hatte Dieter bestimmt zehn Jahre nicht gesehen und nichts gehört von ihm.

Wir waren damals befreundet, hatten gemeinsame Coachingsseminare abgehalten.

Dieter wollte in der Zeit unbedingt eine Immobilie erwerben, zur Kapitalanlage, und ich sollte ihm dabei helfen.
Und zwar dort, wo ich wohnte.

Ich hatte gar keine Lust dazu, weil ich wusste, was es bedeutete, Dieter zu helfen.

Er war anspruchsvoll, verliebt in Details und konnte dich damit nerven.

Trotzdem, ich half ihm, lud sogar den Bauträger zum Abendessen ein, um über den Verkaufspreis zu verhandeln und einen ordentlichen Rabatt zu erkämpfen.

Das alles ist mir gelungen und ich war mächtig stolz darauf, dass ich meinem Freund helfen konnte.

Die Jahre vergingen, wir verloren uns aus den Augen.
Zwischendurch rief Dieter mich noch einmal an.
„Ich habe mir noch eine Eigentumswohnung an der Ostsee gekauft, in die ich auch selbst eingezogen bin“, sagte er zu mir und erwartete mein Staunen.

„Wow!“, stieß ich aus, mehr pflichtgemäß, weil ich wusste, dass Dieter das von mir erwartete

„Dieser freie Blick auf das Wasser, du glaubst nicht, wie phantastisch das ist“, schob er noch nach.

Er wollte, dass ich erneut meine Wertschätzung für so viel Glück ausdrückte.

Doch ich hatte nicht mehr die Nerven an diesem Tag, vor vielen Jahren, denn ich war gerade nach Hause gekommen, nach einem zwölf Stunden Tag, vollgestopft mit Meetings und teils nutzlosen, aber nervenaufreibenden Diskussionen über die richtige Strategie in der Steuerung eines internationalen Projektes.

Dieter sagte mir noch, dass er sich nun auf die Rente vorbereiten würde. Er wollte sich ein ganzes Netzwerk aus Kunden erarbeiten, die er dann später coachen wollte.

Wie gesagt, das ist lange her und die Jahre waren vergangen.
Ich hörte nichts mehr von Dieter.

Bis auf den Anruf in der vergangenen Woche.
„Ich habe das Haus verkauft und wollte dir das nur mitteilen“, sagte er.

„Donnerwetter, gratuliere! Für wieviel hast du es denn verkauft?“, fragte ich ihn.

„Darüber möchte ich nicht sprechen.“

„Aber ich habe dir doch geholfen, die Immobilie für einen ordentlichen Preis zu erwerben, da wäre es schon interessant, den Verkaufserlös zu erfahren“, ließ ich nicht locker.

„Bitte versteh`, wenn ich darüber nicht reden möchte“, sagte er.
Ich verstand es nicht, bohrte aber nicht weiter nach.

„Und, wie geht es dir sonst?“, lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung.

„Ach, ich habe meine Wohnung an der Ostsee auch verkauft und mir ein lebenslanges Wohnrecht gesichert.“

„Donnerwetter, musstest du ein zusätzliches Bankkonto eröffnen oder einen zusätzlichen Safe anmieten?“, versuchte ich zu scherzen.
Aber Dieter scherzte nicht.

Nicht, wenn es darum ging, seine großartigen Erfolge kundzutun.
Er sprach dann ganz besonders ausdrucksvoll, bedacht auf die Wirkung jedes einzelnen Wortes.

„Nein, stell‘ dir nur einmal den Blick auf die Ostsee vor. Kannst du dir ihn vorstellen?“

Ich merkte, wie in mir langsam Puls anschwoll.

„Dieter, möglicherweise ist dir entgangen, dass ich mich in meiner Zeit nach dem Abitur im ersten Studium mit dem Fach Schiffsmaschinenbetrieb beschäftigt habe und zur See gefahren bin. Also auch, wenn ich oft im Maschinenraum war, so bin ich doch ab und zu an Deck gegangen, um auf das weite Meer zu schauen.“

„Ja, natürlich“, entgegnete er, obwohl er das nun gar nicht von mir hören wollte.

Dieter wollte einfach nur, dass ich staunte, selbst nach so vielen Jahren.

„Was machst du denn jetzt? Wenn ich das noch richtig in Erinnerung habe, so wolltest du doch jetzt richtig Geld verdienen, mit dem Coaching loslegen, oder?“.

Ich wollte Dieter herauslocken und sehen, ob er sich selbst gegenüber Wort gehalten hatte.

„Nein, ich muss doch nun meine Hobbies ausleben.“
„Was meinst du?“

„Nun, ich schwebe mit meinem Mercedes über die Autobahn und genieße es, diesen Luxus zu haben.“

„Hm“, gab ich von mir.
„Und dann war ich erst kürzlich mit einem Wohnmobil im Urlaub. Einem Mercedes-Wohnwagen.

Du glaubst nicht, was das für einen Spaß gemacht hat. Allein, die Dusche, getrenntes WC, einfach Luxus pur.“

Warum erzählte Dieter mir das alles?
Glaubte er, ich würde ihm dieses Leben neiden oder vielleicht traurig sein, weil ich nicht mit einem Luxus-Wohnmobil in den Urlaub fuhr?

„Dieter, wer wird da nicht schwach, wenn er solche Möglichkeiten hat. Aber was ist mit deiner Familie? Hast du geheiratet, oder bist du mit jemandem zusammen?“

Dieter antwortete nicht, er ging darauf nicht ein.

Ich wusste, dass er stets davon gesprochen hatte, die einzig Richtige für sich zu finden und dafür zu warten.

Doch offensichtlich hatte das nicht geklappt.
Das alles war nicht schlimm, schließlich war es sein Leben.

Aber warum schob er seine vermeintlichen materiellen Vorteile so in den Vordergrund?

Ich würde es nicht klären können, und ich wollte das auch nicht.

Wir sprachen noch kurze Zeit über Belangloses und verabschiedeten uns dann.

Ich wollte ihm noch sagen, dass ich ziemlich glücklich war mit dem, was ich hatte.
Wie ich mich zu Krümel freute, wie Klara und ich gern an die Ostsee fuhren, unser beider Heimat. Wieviel Spaß mir die Arbeit machte.

Aber: Würde ich dann nicht in die gleiche Kerbe hauen, wie es Dieter gerade getan hatte?

Ich ließ es also sein, beglückwünschte ihn zu all seinen Errungenschaften und wünschte ihm alles Gute für den weiteren Weg.

„Was war?“, fragte Klara mich, nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte.

„Ach nichts“, sagte ich.
„Mir ist eben nur wieder klar geworden: Du musst nicht alles haben, aber du solltest das Richtige haben.“

Dieter glaubt das von sich und ich glaube das von mir auch.

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