Peter und Klara waren froh, dass Anna nun Essen auf Rädern bekam, sie nicht mehr selbst kochen musste und jeden Tag außerdem eine Schwester vorbeikam, die ihr das Frühstück bereitete.
Peter dachte gerade daran, wie gut es war, dass Klara, Lukas und er so zusammenhielten, sich eng absprachen und jeder wusste, was seine Aufgabe bei der Betreuung von Anna war.
Lukas hatte gerade ein neues Schloss in die Tür bei Anna in Stralsund eingebaut und der Schwester einen Schlüssel gegeben, damit diese nicht so lange warten mussten, bis Anna öffnete.
Klara hatte alle organisatorischen und finanziellen Fragen geklärt, die mit der intensiveren Betreuung zusammenhingen und Peter dokumentierte alles, fertigte die nötigen Schriftstücke, schrieb die E-Mails.
„Die Schwester ist aber auch nicht sattelfest in der Rechtschreibung“, sagte Peter zu Klara, die nebenan vor ihrem Laptop saß. Sie hatte Homeoffice-Tag.
Peter hätte nie gedacht, dass Klara mit der Technik klarkam und hintereinander weg ihre Dokumente abarbeitete.
„Darauf kommt es doch jetzt gar nicht an. Wenn alles läuft und Anna auch zufrieden ist, dann lass die doch ruhig falsch schreiben“, sagte Klara und schüttelte innerlich darüber den Kopf, womit sich Peter schon wieder befasste.
Der antwortete nicht, denn er war inzwischen mit seinen Gedanken ganz woanders.
Wie mochte es wohl seiner Mutter in Dresden im Pflegeheim gehen?
Sie war im 92. Lebensjahr und konnte nicht mehr aufstehen. Seine Schwester, Helga Geiger, kümmerte sich um sie. Jedenfalls sagte sie das.
Aber Peter war sich sicher, dass im Pflegeheim alles getan wurde, damit sich seine Mutter wohlfühlte.
Er hatte sie seit dem Tod seines Vaters vor zwei Jahren nicht mehr gesehen.
Damals war alles so schnell gegangen.
Wenige Tage, bevor Manfred Gerber starb, war er noch einmal bei ihm gewesen, zusammen mit Klara.
Sie hatten am Bett gesessen und ihn angeschaut. Seine Arme waren dünn geworden und übersät von den Einstichen der Spritzen und Kanülen aus dem Krankenhaus.
Klara und Peter brachten kein Wort heraus.
„Einer muss der Sprecher sein“, sagte sein Vater nach einer Weile, in der für ihn typischen Art.
Selbst im Angesicht seines eigenen Todes, blieb er sich treu.
Klara und Peter müssen heute lachen, wenn sie sich an diesen Moment zurückerinnern.
Auch wenn Peter kein sehr enges Verhältnis zu seinem Vater gehabt hatte, sie sich mehr gestritten hatten, als das normal war, so schnürte es ihm doch die Kehle zu, wenn er jetzt daran, dass er nicht mehr da war.
Peter schaute vor sich auf den Schreibtisch. Da stand ein Kalender zum Drehen. Es waren der Tag zu sehen, der Monat und die jeweilige Zahl des Tages.
Manfred Gerber hatte ihn mal aus Petersburg mitgebracht, damals hieß die Stadt ja noch Leningrad.
An den Kalender durfte keiner ran. Manfred Gerber drehte ihn höchstpersönlich jeden Tag um, solange er das noch konnte. Er steckte dabei die Zunge leicht raus und blies die Backen auf, so als müsste er zehn Kilo in die Luft stemmen.
Peter hatte ihn dafür gehasst, damals jedenfalls.
Nun drehte er selbst jeden Tag den Kalender um, jeden Morgen und dachte kurz an seinen Vater.
Es war seine Art, ihm ein wenig die Ehre zu erweisen, bevor Peter an seine Tagesaufgaben ging.
Peter überlegte, ob er zum Hörer greifen sollte, um Helga anzurufen und sich nach seiner Mutter zu erkundigen.