DER ALLTAG HAT MICH WIEDER – SO LANGSAM JEDENFALLS

ALLTÄGLICHES-2021.09.07
Den Tag wertschätzen, erst recht, wenn du keinen Urlaub hast oder gerade Sonntag ist.

Eigentlich wollte ich heute noch gar nicht ins Fitness-Center fahren.
Aber Klara bestand darauf, dass ich mitkam.

„Wer weiß, wie lange der Streik der GDL noch andauert“, sagte sie zu mir am Abend zuvor.

„Der ist morgen, gegen 02.00 Uhr Geschichte“, habe ich geantwortet.

Aber ich wusste natürlich, dass es trotzdem voll würde, in den Vorortzügen und in der S-Bahn.

Also habe ich mich aufgerafft, mit Klara gemeinsam in die Stadt zu fahren, sie zur Arbeit und ich zum Sport.

Kurz bevor der Wecker klingelte, bin ich aufgewacht und habe auf die Uhr geschaut, in der Hoffnung, ich hätte vielleicht noch zwei Stunden, gut, wenigstens eine oder auch nur eine halbe Stunde.

Ich tastete nach dem iPhone, machte die App mit der Uhr auf und siehe da, es war 03.44 Uhr. Eine Minute, bis der Wecker anschlug.

Ich schaltete ihn aus, bevor das dämliche Grillengeräusch anfing, mich zu nerven. Der Alltag streckte seine eiserne Hand nach mir aus.

Es waren nun schon vier Wochen vergangen, seitdem der Urlaub begonnen hatte.

Aber die letzten zehn Tage hatte an der Ostsee nichts damit zu tun, sich zu erholen, am Strand zu liegen und zuzuschauen, wie Krümel den Möwen hinterherjagte.

Wir hatten Klaras Mutter ins ‚Betreute Wohnen‘ gebracht. Es war wahnsinnig anstrengend gewesen, physisch, aber vor allem psychisch.

Aber daran wollte ich in dem Moment nicht denken, während ich mich nach dem Training auf einer Bank vor dem Studio ausruhte und die Wasserflasche leerte.

Es war der schönste Teil am ganzen Sport. Ich hatte es langsam angehen lassen und mich nur auf zehn Geräte konzentriert. Ich wollte mich nicht gleich am ersten Tag übernehmen, obwohl diese Gefahr im Grunde genommen zu keiner Zeit bestand.

Wenn du längere Zeit irgendwo nicht warst, dann gibt es meist Neuigkeiten.

Bei mir war es so, dass ich mit der Karte nicht durch die Sperre an der Eingangstür kam.

„Du musst noch einmal deinen Impfausweis vorzeigen und nachweisen, dass du zweimal geimpft bist“, sagte eine junge Frau, die an mir vorbeistürmte.

Ich bedankte mich und nahm eine Ersatzkarte.
Aber wann kam die Mitarbeiterin? Sicher nicht vor acht.
Ich schaute auf die Uhr, es war kurz vor sechs.

So lange wollte ich dann doch nicht bleiben, an meinem ersten Tag.
Und nun saß ich schon wieder draußen, auf dem Hof, genau zwischen dem Fitness-Studio und dem ‚Backhaus‘, wie das rote Gebäude hinter mir hieß.

Ich setzte die 1,5 Liter Wasserflasche an und beobachtete die Gegend.

Auf der gegenüberliegenden Seite öffnete ein Taxifahrer seine vordere Wagentür und wollte gerade einsteigen. Da kamen drei junge Leute auf ihn zu und schon hatte er die ersten Fahrgäste. Ich erkannte den Fahrer.

Er war ebenfalls jeden Morgen im Studio und quälte sich auf dem Laufband.
‚Nicht schlecht, vom Sport direkt zum Geschäft‘, dachte ich.
Von der anderen Seite näherte sich ein Mann.

Er hielt in der einen Hand einen Besen und in der anderen war eine blaue Tüte. Der Hausmeister aus dem ‚Backhaus‘.

Er machte vor einem Papierkorb halt und kippte dessen Inhalt in den Sack.

„Schon so fleißig?“, fragte ich. Ich wollte höflich sein, schließlich stand er nun direkt vor mir.

„Muss ja!“, sagte der knapp.
„Und Sie, haben Sie Sport gemacht?“, fragte er mich.

„Naja, ich habe heute wieder angefangen, nachdem ich vier Wochen ausgesetzt habe“, entgegnete ich.

„Sind Sie jeden Morgen hier?“, fragte er mich.
„Du kannst mich duzen, und ja, ich bin jeden Morgen hier, in der Regel“, antwortete ich.

„In dem Alter muss man was machen, sonst kommst du nicht mehr hoch“, schob ich noch nach.

„Wie alt bist du denn?“, fragte er mich.

„Gerade 69 geworden.“
„Donnerwetter. Dafür siehst du aber gut aus“, stieß er hervor.
Es klang ehrlich.

Mal abgesehen davon, dass ich es lieber hätte, dass eine Frau so etwas zu mir sagte, aber ich freute mich trotzdem.

„Weißt du, am älter werden ist fast alles Mist. Aber du lernst es, deine verbleibende Zeit mehr zu wertschätzen.“

„‘Det glob‘ ich“, verfiel der Hausmeister ins Berlinern.
„Du versuchst nicht laufend, dir ein anderes Leben zu wünschen, sondern du machst das Beste aus dem, was du hast.

Außerdem: Es kann immer anders werden, aber besser wird das Andere oft auch nicht. Deshalb strenge ich mich mehr an, dass gut zu finden, was vor mir ist. Und das macht dich schon ein wenig glücklicher.“

„Ja, da ist viel dran“, sagte er.
„Bist du Morgen wieder hier?“, fragte er noch.
„Ja, wahrscheinlich“, antwortete ich.

Wir verabschiedeten uns. Er leerte den nächsten Papierkorb aus und ich strebte der Tür entgegen, hinter der es zur Tiefgarage ging.

Ich hatte den Eindruck, dass wir beide bessere Laune hatten und es nicht schlecht fanden, was wir gerade taten, er weiter saubermachen und ich nach Hause fahren, an meinen Schreibtisch.

Eigentlich ist das Leben schön, dachte ich, als ich aus der Garage heraussteuerte, das Parkticket festgeklebt auf meinen Lippen.

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