EIN TAG MIT ANNA

Klara klingelte an der Tür ihrer Mutter.
Es dauerte eine Weile, bis Anna die Tür öffnete.
Sie hatte sich ein wenig auf die Couch gelegt, obwohl es erst gegen neun Uhr am Morgen war.

„Wieso bist du hier in Stralsund und nicht in Berlin?“, fragte sie ihre Tochter.

„Mutti, ich bin seit Sonntag in Stralsund, und Montag habe ich dir gesagt, dass ich am Mittwoch wiederkomme, um deine Fenster zu putzen“, sagte Klara zu ihr.

Klara und Peter hatten sich ein paar Tage freigenommen, um ein wenig auszuspannen, gemeinsam mit Laura und Krümel. Klara nutzte den Aufenthalt, um Lukas zu entlasten und in Annas Wohnung beim gründlicheren Saubermachen zu helfen.

„Mittwoch?“, fragte Anna.
„Ja, Mittwoch ist heute.“
„Aber wieso sagt mit das keiner?“

Klara entgegnete darauf nichts, denn sie hatte nicht mehr die seelische Kraft, auf alle Fragen ihrer Mutter zu antworten.
Der Vormittag verging wie im Flug, obwohl sich Anna nach Kräften dagegen wehrte, dass ihre Tochter in ihrer Wohnung das Zepter übernahm.

Doch Klara hatte es gelernt, sich gegen ihre Mutter durchzusetzen, denn nur so konnte sie ihr wirklich helfen.
Und als Anna sah, wie ihre Fenster nach und nach sauber in der Sonne blinkten, da war sie ruhig und fand das alles recht schön.

Am Nachmittag wollte sich die Familie versammeln, um gemeinsam Kaffee zu trinken.
Anna wollte sich nicht umziehen, sie wollte gar nichts und sich am liebsten auf die Couch schmeißen, wie sie ununterbrochen zu Klara sagte.

„Warum soll ich das Kostüm anziehen, gehen wir zu einer Hochzeit?“
Anna konnte sehr spöttisch reagieren, wenn ihr irgendetwas nicht in den Kram passte.

Annas Charakter hatte sich in letzter Zeit ins Gegenteil von dem verkehrt, was sie einmal ausmachte, ihre Güte, ihr bescheidenes Wesen, aber all das schien die Demenz in ihr allmählich auszulöschen.

Klara hatte es schließlich geschafft, Anna davon zu überzeugen, dass sie sich umzog und mit ihr nach draußen kam.
Unten wartete bereits Peter im Auto auf Anna und Klara.

„Oh, du siehst wirklich gut aus“, rief Peter schon von weitem Anna entgegen.

„So sind wir das gewohnt, wenn wir ausgehen“, antwortete Anna selbstbewusst, so als hätte sie sich nicht noch vor wenigen Augenblicken dagegengestemmt, das Kostüm auch nur aus dem Schrank zu holen.

Sie fuhren zum größten Hotel in der Stadt.
Der Saal, in dem die Plätze reserviert waren, saß kein Gast. Corona hatte auch Stralsund fest im Griff.

„Wozu haben wir überhaupt Plätze reserviert?“, fragte Peter.
Sie setzten sich trotzdem an den Tisch, der für sie vorgemerkt war. Krümel fand das alles herrlich. Sie turnte zwischen den leeren Stühlen und Tischen hin- und her und juchzte vor Freude.

Inzwischen hatten am Tisch gegenüber zwei Gäste Platz genommen. Ausgerechnet in unmittelbarer Nachbarschaft des reservierten Tisches.

Es war ein Ehepaar, beide um die 70 Jahre herum. Der Mann sah brummig aus. Er schaute immer grimmiger, weil Krümel ausgelassen weiter umherlief und laut sang.

Peter erinnerte sich an seine eigene Kindheit, Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Eltern es auch nur im Ansatz zugelassen hätten, dass sie als Kinder so durch die Stuhlreihen eines Lokals hätten toben dürfen.

Aber Peter genoss gerade den Gedanken, dass seine Enkelin ausgelassen und fröhlich sein durfte, so ganz ohne Furcht.

Also blickte er zu dem Mann herüber, der Krümel mit finsterer Miene beobachtete. Peter fixierte ihn mit einem Blick, der keine Missverständnisse aufkommen ließ: ‚Sag‘ nur ein böses Wort zu der Kleinen und du wirst es bereuen.‘

Der Mann knickte ein, denn er schaute weg und seine Gesichtszüge lösten sich auf, fast hin zu einem gemütlichen Ausdruck.
Peter schaute nun seinerseits zu Krümel und lockte sie mit einem kleinen Spielzeughund, den er mitführte, an den Tisch zurück.

Anna beobachtete das ganze Treiben ein wenig distanziert, so als würde sie gar nicht dazugehören.

Die Kellnerin kam an den Tisch und fragte, ob die Gäste schon Kuchen ausgesucht hätten.

„Ja, antwortete Klara. Meine Mutter und ich, wir wollen Frankfurter Kranz.“
„Ich auch“, sagte Peter.
„Ich auch“, rief Laura.

„Und was soll ich essen?“, fragte Anna in die Runde. Die Kellnerin schaute irritiert.

„Ihre Tochter hat für sie bereits mitbestellt“, sagte sie.
„Wieso bestellt sie einfach was für mich mit?“, tat Anna entrüstet.
„Weil wir dich eben gefragt haben, was du für einen Kuchen willst und du dich genau dafür entschieden hast, Mutti.“

Klara kochte innerlich, dass Anna so ein Theater vor der Kellnerin abzog.
„Ja gut, dann nehm‘ ich den auch“, sagte Anna.

Wenig später kamen der Kaffee und der Kuchen an den Tisch.
Krümel hing zwischen Peter und Klara und spielte mit dem Hund, während Klara versuchte, ihr zwischendurch ein Stück Kuchen in den Mund zu schieben.

„Da sind wir ja heute wieder auf der steilen Diätkurve“, sagte Peter.
Keiner antwortete ihm und Klara warf ihm einen Blick zu, der hieß: ‚Sei bloß still, oder ich platze vor Wut.‘

Peter wandte sich wieder Krümel zu und beide spielten mit dem kleinen Spielzeughund, bis die Tischdecke immer mehr verrutschte und Klara Peter einen warnenden Blick zuwarf, den Peter aber geflissentlich ignorierte.

„Wieso habe ich so ein Stück Kuchen?“, fragte nun Anna in die Runde mit vollem Mund.

Klara schien ihren Ohren nicht zu trauen.
„Weil wir ihn für dich bestellt haben und du ihn dir gewünscht hast“, sagte Peter schnell, bevor Lukas oder Klara etwas Unbedachtes antworteten.

„Schmeckt dir denn der Kuchen?“, fragte nun Lukas.
„Ja, sehr gut“, antwortete Anna.

Ein paar Minuten war es ruhig am Tisch. Nur Krümel war zu hören, die den Spielzeughund triezte.

„Wieso habe ich dieses Stück Kuchen bestellt?“, erklang erneut die Stimme von Anna.

„Weil er dir besonders gut schmeckt“, sagte Peter nun.
„Ja, das ist wahr, der schmeckt mir sehr gut“, antwortete Anna.

Der Nachmittag war schön, Anna gehörte zur Familie, sie würde immer dazugehören, ganz besonders jetzt, wo die Krankheit fortschritt.

Nach dem Kaffee brachten Peter und Klara Anna gemeinsam nach Hause.

Anna stand noch auf dem Balkon und winkte zum Abschied.
Ein vertrautes Bild, aber auch ein trauriges Bild.

„Denk‘ nicht an das, was kommt, denk‘ an den schönen Moment, den wir Anna heute Nachmittag verschafft haben“, sagte Peter. Klara nickte kurz und blickte traurig aus dem Fenster des Autos.

„Ich weiß gar nicht, ob Mutti das alles noch so schön empfindet, wie wir denken. Oder ob es nicht viel mehr ihre ohnehin gedankliche Alltagsstruktur durcheinanderbringt“, setzte Peter noch nach.

Klara schwieg, denn sie wusste es auch nicht. Und sie wusste vor allem nicht, wie es in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen sollte.