OMA HEIDE

ANNA-2021.05.19

RÜCKBLICK
Peter erinnerte sich an die schlimmen Zeiten seiner Kindheit. Selbst wenn er die Prügelorgien seines Vaters nicht vergessen konnte, so schaute er heute viel milder auf diese Zeiten zurück.
Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, warum er nicht mehr diese große Wut in sich trug. Lag es daran, dass sein Vater nicht mehr lebte?
(https://uwemuellererzaehlt.de/2021/05/13/anna-2021-05-13/
PETER KANN DIE PRÜGELATTACKEN SEINES VATERS NUR SCHWER VERGESSEN)
Einführung:
Peter wollte nicht weiter in trüben Gedanken an seinen Vater verharren.
Er rief Anna an, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging.
Dabei kamen sie auf Oma Heide zu sprechen, Annas Mutter und Klaras Großmutter, und die Peter ebenfalls sehr mochte.

 

„Wie geht es dir heute?“, fragte Peter. Anna hatte erst nach einer ganzen Weile den Hörer abgenommen.
„Sturm!“, hatte sie recht forsch am Telefon gesagt, so dass Peter zunächst verdattert schwieg.
„Ja, wer ist denn da“, rüffelte Anna ihren Anrufer, so als sie sagen wollte: „Ich hab‘ doch nicht ewig Zeit, mit Ihnen zu telefonieren.“

„Ich bin’s, Peter“, sagte er.
„Hallo Peter, na, wie geht’s?“

Wieder war er verblüfft. Anna fragte Peter nie, wie es ihm ging, auf jeden Fall nicht sofort.

„Danke, mir geht es gut.“
„Klara und Laura auch?“

‚Donnerwetter‘, dachte Peter, ‚das fragte sie doch sonst nie. Sie musste einfach gut drauf sein.

„Mir scheint, dir geht es auch gut?“, fragte Peter zurück, ohne eine Antwort darauf zu geben, wie es Laura und Klara ging.

„Ja, es geht“, sagte Anna nun schleppender.
„Klara ist auf Arbeit und Laura und die Kleine sind auch wohlauf“, schob er noch hinterher.

„Das ist ja schön.“
„Unser Krümel macht uns viel Freude“, sagte Peter noch.
„Ach ja, das glaube ich“, seufzte Anna.

„Sie hat das letzte Mal gesagt, als sie mich am Telefon hörte, dass ich ihr lieber Opi sei“, sagte Peter nicht ohne Stolz.
„Ja, das ist einfach süß“, meinte Anna.

„Was machst du gerade?“, fragte Peter sie.
„Ich sitze hier auf der Couch, habe mir einen Apfel abgeschält und auf meinen Beinen liegt das Fotoalbum. Darin blättere ich jetzt.“

‚Wie aufregend‘, dachte Peter, sagte es aber nicht.
„Oh, wen schaust du dir denn gerade auf den Fotos an?“, fragte er stattdessen.
„Ich musste so viel an Oma Heide denken, und da habe ich einfach mal das Album aus dem Schrank geholt.“

Heide Richter war Annas Mutter, die Oma von Klara und die Urgroßmutter von Laura.

Peter mochte Oma Heide ebenfalls sehr gern. Sie erinnerte ihn stark an seine Oma in Schwerin.

Heide Richter war in Stralsund geboren, im Mai 1912 und im Herbst 1996 verstorben.
Sie war es, die die Familie zusammengehalten hatte, ihr ganzes Leben geschuftet hatte und trotzdem stets gut gelaunt war.

In jungen Jahren war sie eine hübsche Frau. Auf Bildern sah man ihr wohlgeformtes Gesicht, ihre schlanke Figur und ihr Lächeln, mit dem sie die Menschen für sich einnahm.

Sie heiratete einen Bankkaufmann aus Stralsund und aus der Ehe ging eine Tochter hervor, Anna.

Heide Richter war nicht lange mit ihrem Mann zusammen, der Krieg riss sie auseinander.

Nach dem Krieg heiratete Oma Heide erneut, Wolf Richter, einen Fischer aus Ostpreußen, in der Nähe von Königsberg, dem heutigen Kaliningrad.

Wolf Richter brachte drei Kinder mit in die Ehe, zwei Mädchen und einen Jungen.

Oma Heides Bruder, Gottfried Taube, hatte Wolf Richter im Krieg auf einem Marineschiff kennengelernt und ihn mit nach Stralsund genommen. Die erste Ehe von Wolf Richter war auch zu diesem Zeitpunkt schon zerrüttet.

Peter lernte Oma Heide kennen, als er Klara in Stralsund besuchte.
Peter war selbst ein junger Marineoffizier zu dieser Zeit. Oma Heide mochte ihn in der Uniform.

„Peter, du siehst aus wie Prinz Andrew“, sagte sie manchmal zu ihm.
Peter kannte den englischen Prinzen nicht.

Zu der damaligen Zeit kannte er nur die russischen Revolutionäre und die Kriegshelden der Roten Armee aus dem Zweiten Weltkrieg.

Aber Prinz Andrew, der Sohn von Königin Elisabeth? Er wollte nicht so aussehen, wie ein Royal.

Später, nach der Wende, da änderte Peter seine Meinung. Aber da hatte er längst seine Uniform an einen Bäcker aus Kiel verschenkt.

Peter erinnerte sich noch genau, wie er das erste Mal Klaras Oma sah, die die Tür öffnete, als er geklingelt hatte.

Sie stand in voller Waschmontur vor ihm. Klara stand hinter Oma Heide. Sie hatte ihr dabei geholfen, in der Waschküche die große Wäsche auszuwringen und auf die Leine zu hängen.

„Ach, kommen Sie doch rein“, sagte Heide Richter ganz freundlich zu Peter.

Es klang ehrlich, fröhlich und in ihrer Stimme schwang die Neugier mit, wen wohl ihre Enkelin da kennengelernt hatte.

„Nein, danke!“, sagte Peter ein bisschen eingeschüchtert. Er war nicht geübt darin, ein Mädchen bei Ihrer Oma zu besuchen.

„Ich warte hier auf dem Flur auf Klara“, sagte er schnell.
„Das ist aber schade, junger Mann“, sagte Oma Heide.

„Wollen Sie nicht eine Tasse Kaffee mit uns trinken? Ich habe gerade einen frisch aufgebrüht.“

„Ich komm‘ gleich raus“, sprang jetzt Klara Peter bei.
Peter nickte stumm und war froh, als sich die Tür wieder schloss.

Er musste das noch mehr üben. Das war etwas ganz anderes, als Matrosen im Vordeck zu besuchen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Aber Peter fand Oma Heide gut. Sie hatte ihn gleich offen empfangen, war freundlich und offensichtlich auch ein sehr fröhlicher Mensch.

Er sollte recht behalten, mit seiner Einschätzung. Aus dem ersten Eindruck wurde eine Zuneigung, die ein ganzes Leben für Oma Heide anhielt.

Und oft sprach er nicht nur von seiner Oma, sondern im gleichen Atemzug auch von Heide Richter, Klaras Oma und Annas Mutter.

„Weißt du noch, wie Oma Heide im Laden Fisch verkauft hat? Ich habe nämlich gerade ein Foto von ihr, auf dem sie vor dem Fischgeschäft steht und ihrem Mann zusieht, wie der die Fischkisten sortierte.“

„Oh ja, daran kann ich mich auch gut erinnern“, pflichtete Peter Anna bei.
Fortsetzung folgt

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