DIE EINFAHRT VOM HEIM IST DOCH GANZ LEICHT ZU FINDEN

ANNA-2021.07.09

Was bisher war:
Peter hatte sich mit dem Verwaltungsmitarbeiter von Annas Vermietergesellschaft angelegt, weil der unnachgiebig und störrisch war und nicht die Bescheinigung zur Vorlage bei der neuen Einrichtung vorzeigen wollte.
Anna wohnte fast sechzig Jahre in ihrer Wohnung und die Vermieterbescheinigung diente dazu, der neuen Gesellschaft den Nachweis darüber zu erbringen, dass Anna stets ihre Miete bezahlt hatte.
Schwester Ulrike hatte sich mit Beritt in einem Eiscafé getroffen, aber nichts über Olaf und dessen Sympathie für Schwester Saskia im Pflegeheim gesagt.

Einführung:
Klara ist nach Stralsund gefahren und wollte sich vor Ort anschauen, wie das Zimmer im ‚Betreuten Wohnen Sörensen‘ am Strelasund aussah, in das Anna im Herbst einziehen sollte.

„Ich glaube, ich muss da selber hinfahren, um zu wissen, was auf Mutti zukommt“, sagte Klara zu Peter.

„Willst du mitkommen?“, fragte sie ihn noch.

„Ich würde gern mit dir zusammen nach Stralsund fahren, aber ich habe gar keine Zeit, weil so viele Interviews anstehen.

Ich könnte sie natürlich auch verschieben, aber du weißt, wie schwer das wieder neu zu terminieren ist.“

„Ich weiß, ich mach‘ das mit Lukas zusammen.“

„Was sagt Lukas eigentlich zur Situation?“

„Du weißt doch, dass es ihm sehr schwerfällt, sich mit dieser Situation anzufreunden.“

„Ja, ich weiß, und ich verstehe ihn sehr gut. Immerhin ist es seine Mutter, die ihn zwar ab und an nervt, wenn sie alles vergisst oder schlechte Laune hat.

Aber für ihn ist alles mit dieser Wohnung verbunden, aus der nun Anna raus soll, um in ein Heim zu ziehen.“

„Mir geht es genauso“, sagte Klara.
„Wir haben die ganze Kindheit dort verbracht. Anna hat dort ihre glücklichsten Jahre gehabt, und nun ist alles vorbei.“

„Wir müssen uns der Realität stellen. Wir helfen Anna nicht damit, dass wir sie vielleicht davor bewahren wollen, dass sie in ein Heim muss.

Wenn sie noch ein paar schöne und möglichst sorgenfreie Jahre verleben will, dann braucht sie Hilfe, und zwar rund um die Uhr.“
Klara seufzte nur.

Am nächsten Tag war Klara früh in den Zug nach Stralsund gestiegen. Sie hatte viel vor.

Lukas stand schon auf dem Bahnhof, als der Zug aus Berlin einfuhr.
„Na, wollen wir gleich zur Besichtigung fahren?“, fragte Lukas Klara ohne Umschweife.

„Ja, lass uns da sofort hinfahren. Weißt du, wie du da hinkommst?“
Lukas sah Klara an, so als hätte sie ihn gefragt, ob er aufrecht laufen könnte.

„Klaaara“, sagte er stattdessen und zog das ‚a‘ absichtlich lang.

„Schon gut, ich wollte nur sicher sein.“

Lukas und Klara fuhren sofort los und beide schwiegen, obwohl sie sich ein paar Wochen nicht gesehen hatten.

Auf beiden lastete das alles wie ein zentnerschweres Gewicht, das sie nicht mehr von der Brust bekamen.

„Hier sollte doch eine Schranke sein und wo steht jetzt der Name der Einrichtung?“, fluchte Lukas und kurvte nun schon das zweite Mal um die Häuserblocks, die in der angegebenen Straße standen.

„Betreutes Wohnen Sörensen, Olaf Knaspe, was kann ich für Sie tun?“, ertönte eine dunkle Stimme, nachdem Klara die Telefonnummer gewählt hatte, die auf ihrem Zettel stand.

„Ja, Herr Knaspe, Klara Gerber hier, wir haben heute einen Besichtigungstermin für das Zimmer, in das meine Mutter einziehen soll“, sagte Klara.

„Wie ist denn der Name Ihrer Mutter?“, fragte Olaf, ohne sich groß zu bemühen. Er hätte es wissen müssen, dass es Anna Sturm war.

„Wieso fragen Sie denn? Wir beide haben doch den Termin miteinander für heute ausgemacht!“

„Ach so ja.“

„Ja, bis gleich“, antwortete Olaf wieder.

„Moment, wir finden den Eingang zum Gebäude nicht“, sagte Klara. Ihre Stimme überschlug sich nun schon fast, denn in ihr stieg allmählich der Ärger über so viel Gleichgültigkeit hoch.

„Das ist doch ganz einfach zu finden“, antwortete Pfleger Olaf.

„Wissen Sie, wenn Sie dort jeden Tag mehrfach ein- und ausgehen, dann ist es einfach. Ja. Aber wir kommen heute das erste Mal zu Ihnen.“

„Warten Sie, ich drücke mal einen Knopf, dann geht ein Tor auf und Sie können dort durchfahren.“
Olaf drückte auf den Summer.

„Da!“, rief Lukas, „siehst du die Flügeltüren, die sich gerade öffnen?“

„Fahr bloß schnell durch, bevor sie wieder zugehen“, sagte Klara, die sich noch immer über die halb schnoddrige Art des Pflegers ärgerte.

Lukas parkte das Auto auf dem dafür vorgesehenen Platz, stieg aus und streckte sich.

„Hallo, was macht ihr denn hier“, rief aus dem Fenster Berta Hoffmann.

„Das ist doch jetzt nicht wahr“, sagte Lukas.
Charly und Berta Hoffmann waren Freunde von Anna und Wilhelm Sturm.

Sie hatten sich am Strelasund eine Wohnung gesucht, in der sie auch bleiben konnten, wenn sie mal Pflege und Betreuung in Anspruch nehmen wollten.

„Ach, wir schauen hier nur mal, ob das was für Mutti ist“, antwortete Klara, immer noch verdattert, dass ausgerechnet in dem Moment Berta aus dem Fenster sah.

Wahrscheinlich tat sie das sehr oft am Tag.
„Kommt doch mal hoch zu uns“, rief jetzt Charly, der hinter seiner Frau stand.

„Wir haben leider ganz wenig Zeit“, sagte nun Lukas.

„Komm‘ lass uns verschwinden, sonst kommen wir hier nicht wieder weg“, flüsterte er Klara zu.

Die nickte stumm. Sie winkten beide nach oben und ging schnurstracks auf eine andere Eingangstür zu.

Im Flur erwartete sie Schwester Ulrike. Olaf hatte ihr Bescheid gesagt. Er selbst stand hinter Ulrike und schien ein schlechtes Gewissen zu haben.

„Herzlich willkommen, Familie Gerber“, sagte Ulrike.

„Ich bin Klara Gerber, geborene Sturm, und das hier ist mein Bruder, Lukas Sturm. Mein Mann konnte heute nicht mitkommen“, sagte Klara ein wenig verlegen.

„Aha, sehr angenehm. Wollen wir gleich zum Zimmer gehen?“
Ulrike sah die beiden erwartungsvoll an.

„Ja, gern“, sagte Klara.

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