BRIEF AN MEINE ENKELIN ÜBER EIN NEUES BUCH MIT KINDERLIEDERN

MAL SCHNELL ERZÄHLT
Der Brief liegt nun auch schon wieder ein Jahr zurück.
Trotzdem erinnere ich mich gern daran, weil er zeigt, wie schnell sich Krümel entwickelt. Das Liederbuch nehmen wir gern zur Hand. Aber noch lieber singen wir ‚Oh Tanne-Baum‘. Und dann fragt Krümel: „Opa, noch maaal?!!“
Das ist der Brief:

Lieber Krümel,
während du dich wahrscheinlich noch im Bett herumdrehst und hoffentlich schöne Träume hast, habe ich heute mit etwas ganz Besonderem begonnen. Nämlich, ein neues Liederbuch für Kinder anzuschauen.

Oma brachte gestern so ein Buch mit. So etwas habe ich noch nicht gesehen. Auf dem Deckel ist ein Bär abgebildet. Er läuft, lacht und singt. Woran ich das erkenne?

Nun, daneben sind kleine Noten abgebildet. Das ist aber nur die eine Hälfte des Buchdeckels. Auf der anderen Seite gibt es einen Notenschlüssel. Und wenn du dort auf die einzelnen Bilder drückst, dann ertönt ein Lied. Im Buch selbst sind dann einzelne Liedtexte abgebildet.

Zum Beispiel: Kommt ein Vogel geflogen. Jetzt muss ich nur noch herausbekommen, welcher Text zu welcher Melodie passt. Damit bin ich heute Morgen beschäftigt.

Oma sagt: „Jetzt kannst du mal deine Lieder vergessen.“
„Welche?“, habe ich gefragt.
„Na, ‚…auf der Reeperbahn… zum Beispiel“, sagte sie.

Aber mit den neuen Liedern ist es so, wie mit den neuen Spielzeugen. Wir bekamen früher zwar nicht so viele neue Sachen zum Spielen. Cowboys mit Pistolen schon. Und wir freuten uns, wenn wir diese Cowboys hatten, und wir sie in den Kampf schicken konnten.

Doch nach einer gewissen Zeit, da holten wir die alten Wäscheklammern hervor und der Cowboy lag in der Ecke.

Was ich damit sagen will?
Also, wir werden bestimmt mit dem Buch so einiges anstellen, schöne Kinderlieder singen oder besser, ich brumme und du rufst dann wieder ‚lala‘, oder so ähnlich. So richtig kann ich es ja noch nicht verstehen, was du ausdrücken willst.

Pure Lebenslust ist es allemal. Aber schließlich wirst du wieder das alte Staubtuch hervorholen und es über das Buch decken und danach eine deiner vielen Puppen damit einrollen oder das Feuerwehrauto einwickeln.

Auf jeden Fall wird dich das Tuch erneut in seinen Bann ziehen. Das Liederbuch ist auch noch da, liegt aber zwischen der kleinen Küche, deinem Roller und den Puppen.

Und das ist der Zeitpunkt, wo ich dann zu „Auf der Reeperbahn…“ übergehen kann. Ich wünsch‘ dir einen schönen Tag. Einen wirklich schönen Tag, an dem du lachst und durch die Wohnung rennst, um etwas Neues zu entdecken oder die Videos von Mama aus dem Regal schmeißt.

ICH GRATULIERE ZUM MUTTERTAG!

Ich ertappe mich immer noch dabei, dass ich den Muttertag einfach vergesse. Da bin ich eben ein Ossi, der seiner Mutter und Oma und später seiner Frau eher zum 8. März gratulierte, dem Internationalen Frauentag.

„Wann ist eigentlich Muttertag?“, habe ich gestern Abend noch Klara gefragt.

„Morgen!“, sagte sie knapp und ich meine, dass ich einen leisen Vorwurf herausgehört habe.

„Hast du das immer noch nicht begriffen?“ Oder: „Du wirst es wohl nie begreifen?“, so in der Art wird sie gedacht haben, als sie meine Frage hörte.

Na klar denke ich heute an meine ‚Frauen‘!

Zuerst gratuliere ich meiner Mama, die im Pflegeheim liegt, im 91. Lebensjahr, nicht mehr aufstehen kann und dement ist.
„Liebe Mama, ich bin in Gedanken bei dir, und ich weiß, dass du gut betreut und gepflegt wirst. Das macht deine Tochter, meine Schwester, und ich bin ihr sehr dankbar dafür.

Ich denke an meine Oma, die mich in den ersten zehn Jahren in Schwerin betreut, gepflegt und von Herzen geliebt hat. Meine Mutter war arbeiten und Oma hat für uns gesorgt, morgens Streuselkuchen mitgebracht, mittags Pudding zum Nachtisch gekocht und zwischendurch mir ein Messer an die Stirn gehalten, weil ich mal wieder gegen die Teppichstange mit dem Roller gerast bin.

Und sie hat mich gewarnt, weil ich nach Moskau zum Studium gehen wollte.
„Geh‘ nicht dorthin, werd‘ lieber Koch“, hat sie gesagt.
Wie recht sie hatte. Trotzdem habe ich nicht auf sie gehört.

Und dann ist da noch die andere Oma, die von Klara. Was haben wir gelacht, wenn sie abends in Sassnitz in unsere Wohnung kam und kleine Geschichten erzählt hat. Ich vermisse sie noch heute und wir erzählen viel am Sonntagsfrühstückstisch von ihr.

Klaras Mutter, Lauras Oma – sie war stets für uns da und ich habe nie ein böses Wort von ihr gehört. Wir werden sie heute anrufen und ihr gratulieren.

Klara habe ich bereits zum Muttertag gratuliert.
Laura ist nun auch schon seit fast drei Jahren Mutti.
Unser größtes Glück, Krümel, hat ja zu Klara erst jüngst gebrabbelt:

„Oma, nicht Mutti zu Uroma sagen. Mutti da oben.“ Und sie hat dabei mit ihrem kleinen Finger zu ihrer Mutter gezeigt.
„Meine Mama!“, das sagt sie manchmal und damit ist alles gesagt, die ganze Liebe, die sie für ihre Mutter mit zweieinhalb Jahren empfinden kann, ausgedrückt. Das andere ist noch zu kompliziert für sie.

Ich denke aber auch an meine Freunde.
Kürzlich habe ich mit der Mutter meines Freundes telefoniert. Sie ist bescheiden, sehr fleißig, und sie liebt ihre Kinder und ihre beiden Enkel über alles.

Sie hat ihre Kinder allein großgezogen, ist stets arbeiten gegangen und sie hat sich ihren Humor bewahrt.
Eine großartige Frau.

Oder die Frau meines Freundes, die im vergangenen Jahr zum zweiten Mal Mutter wurde, unter großen Schmerzen.
Und wie sie das alles weggesteckt hat, heute ihre ganze Liebe ihren beiden Söhnen schenkt und nebenher einen großartigen Beruf ausübt, und das ganz bescheiden, ohne sich in den Mittelpunkt zu rücken – das ringt mir Hochachtung ab.

Was wären wir ohne Euch, liebe Frauen und Mütter?
Zunächst einmal wären wir gar nicht auf dieser Welt.
Früher, da habe ich wenig im Haushalt geholfen, und wenn ich von der Arbeit kam, und ein Fussel auf dem Teppich auf dem Boden lag, dann habe ich das natürlich angemahnt.

Und heute? Heute, ja da schwinge ich selbst den Staubsauger, helfe in der Küche und im Garten und verstehe nicht, wie Klara das früher alles allein geschafft hat.
Ich verneige mich vor Euch, liebe Frauen und Mütter, und das ist ausnahmsweise mal ohne ein Augenzwinkern gemeint.

KANNST DU KRÜMEL VON DER KITA ABHOLEN?

MAL SCHNELL ERZÄHLT
Sonst war Krümel schon in der Wohnung, wenn ich sie betreut habe. Aber nun sollte ich sie vom Kindergarten abholen. Es war das erste Mal für mich.

„Weißt du, wie du da hinkommst, Papa?“, fragte mich Laura.
„Ja, sag mir nur wie der Name der Kita ist“, meinte ich zu ihr.
„Pusteblume.“

Und weiter: „Du gehst direkt unten bei uns am Spielplatz vorbei.“
„Warum kann ich mit dem Auto nicht dort direkt hinfahren?“
„Kannst du auch. Aber laufen tut dir doch auch mal gut, oder? Außerdem kannst du dann Krümel ein bisschen den Kinderwagen auf dem Rückweg schieben lassen.“

„Ja, ist gut. Da ist was dran.“
„Jetzt, Papa, pass gut auf, damit du nichts vergisst!“
„Sind wir hier in der Schule? Und wer ist hier eigentlich der Schüler und wer die Lehrerin?“, fragte ich Laura.
„Papa, in der Reihenfolge. Du hast die Frage gerade selbst beantwortet.“

„Gut, dann sag‘ mal an. Aber warte mal. Ich mach‘ gleich mal mein iPhone auf. Da schreibe ich alles rein.“
„Hoffentlich findest du das auch wieder.“
„Denkst du, du kannst nur digital?“
„Ich bin da auch fit.“

Schweigen. Laura antwortet nicht.
„Und wieso hast du mich denn angerufen, als du wieder mal dein Passwort nicht gefunden hast?“, fragt sie dann doch noch.

„Das war etwas völlig anderes. Lass uns anfangen“, sage ich.
„Ach so, bevor ich es vergesse“, werfe ich noch ein: Wie war noch der Name der Kita?“

„Pusteblume! Papa.“
„Warum klingst du so genervt. Man wird doch noch mal fragen dürfen.“
„Ja, aber nicht fünfmal!“
„Warum eigentlich nicht?“

„Papa. Du sagst mir immer, ich soll mich konzentrieren, alles aufschreiben. Schreiben strukturiert das Denken.“
„Das soll ich gesagt haben?“
„‘Jahaa‘ Können wir jetzt anfangen?“

„Ich bin bereit.“
„Du gehst am Spielplatz vorbei, dann die Straße runter, überquerst sie, hältst dich links.“
„Ach, das weiß ich doch“, sage ich.
„Gut, Papa, dann jetzt zu den Sachen.“
„Ja, bitte.“

Laura spricht von einem roten Schal, einer Brotbüchse, einer Wickeltasche, von Schuhen, einem Rucksack, blau-rot.
„Nicht so schnell. Ich schreibe zwar mit 10 Fingern auf der Tastatur.

Aber nicht auf dem Telefon. Da passt immer nur einer meiner Wurstfinger drauf. Meist reicht der Daumen auch noch bis zum Nachbarbuchstaben.“
Endlich hatte ich alles aufgeschrieben. Ich fühlte mich gut vorbereitet.

Nächster Tag. Der Tag der Wahrheit
Ich habe das Auto abgestellt und bin auf dem Weg zur Kita, am Spielplatz vorbei, die Straße runter.

Wie sollte ich mich dann halten? Links oder rechts?
Mir lief der Schweiß, weil ich schnell gegangen war. Es war aber kalt und es wehte ein ziemlich starker Wind.

Den Mantel hatte ich zu Hause vergessen. Ich war zu aufgeregt.
Ich schaute mich um. Eine junge Frau kam mir entgegen.

Die muss das wissen. Die ist bestimmt auch Mutter, dachte ich.
„Bitte entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wo es hier zum Kindergarten geht?“
„Welchen meinen Sie?“
„Gibt’s hier mehrere?“
„Ja, natürlich.“
„Mohnblume.“
„Mohnblume?“
„Die Kita gibt‘ s hier nicht.“
„Nein?“
„Nein!“
„Vielen Dank trotzdem.“

Warum hatte ich mir das nicht aufgeschrieben?
Ich habe die richtige Kita von Krümel dann doch noch gefunden. Zuerst habe ich Krümel die Sachen angezogen, die dem Nachbarkind gehörten. Gott sei Dank, ich bemerkte es rechtzeitig.
Was tun?

Die fremden Sachen wieder ausziehen und die richtigen danach an. Zwischendrin hat Krümel ein Stück Kuchen gegessen. Krümel krümelte dabei mächtig.

Ich suchte einen Papierkorb, fand aber keinen. Also habe ich die Kuchenreste in meine Hosentasche gestopft und sie dort vergessen. Das fiel mir auf die Füße, im wörtlichen Sinne. Nämlich, als ich abends die Hose umgekehrt auf den Bügel hängte.

Zurück zur Kita. Ich musste noch den richtigen Kinderwagen finden.
Habe ich auch. Aber erst einmal habe ich mir den falschen Wagen gegriffen und bin damit losgefahren. Zu meiner Ehrenrettung: Ich hatte den neuen Kinderwagen noch nicht so oft gesehen.

Klara kam mir entgegen und danach sind wir noch einmal zur Kita zurück. Der Erzieherin am Eingang habe ich gesagt, dass wir nun den richtigen Kinderwagen gegen den falschen austauschen müssten. Ich glaube, die wissen jetzt, wer Krümels Opa ist.

Krümel und Laura sind wieder Zuhause. Klara ist arbeiten. Ich habe meine Ruhe. Ich sitz‘ am Schreibtisch, kann was schaffen. Doch ich krieg‘ Entzugserscheinungen. Chaos beim Abholen von Krümel ist besser.

EIN BUCH, DAS DEINE SICHT AUF DAS LEBEN VERÄNDERT

BRONNIE WARE: ‚LEBEN OHNE REUE‘ 
'52 Impulse, die uns daran erinnern, was wirklich wichtig ist'

Im letzten Drittel deines Lebens spürst du besonders intensiv, was kostbar für dich ist, was du noch erreichen willst, und auch, was du bisher versäumt hast, und was du wahrscheinlich auch nicht mehr aufholen wirst.

Der Schmerz ist dann sehr groß, wenn du fühlst, dass du es nicht mehr schaffen kannst, deine Fehler im Leben zu korrigieren.

Hier setzt das Buch von Bronnie Ware ‚Leben ohne Reue‘ an, nämlich, dir möglichst in einem frühen Stadium deines Lebens darüber klar zu werden, was du wirklich willst.

Ich habe nach dem Abitur vier Jahre lang ein technisches Studium zum Diplom-Ingenieur absolviert, habe anschließend noch einmal vier Jahre Volkswirtschaft studiert und wiederum vier Jahre darin promoviert.

Klingt das gut? Ja, klingt gut.

Und dennoch: Ich wollte mein Leben lang nichts anderes tun, als zu schreiben.

Einfach Autor sein. Ich könnte jetzt eine lange Liste an Ausreden aufführen, warum das nicht so einfach war, mir meinen Traum zu erfüllen.

Aber ich bin dafür zu einer wichtigen Erkenntnis gekommen, die im Buch von Bronnie Ware eine große Rolle spielt: Die Schönheit des Lebens vor allem in den kleinen Dingen des Lebens zu sehen.

Die Autorin war selbst viele Jahre als Krankenschwester für Palliativpatienten zuständig. In den Gesprächen mit ihnen hat sie herausgefunden, was Sterbende im Rückblick in ihrem Leben für wichtig hielten, und was sie möglicherweise hätten mehr tun sollen.

Es ist spannend, das zu lesen, und ich bin froh, dass ich es getan habe.

Ich habe aus diesem Buch viele Einsichten mitgenommen und mit meiner Situation verglichen, und ich lege es deshalb vor allem denjenigen ans Herz, die nach mehr Erfüllung in ihrem eigenen Leben suchen.

 

KRÜMEL TANZT IM KLEID, DAS ÜBER 80 JAHRE ALT IST

WAS DIR WICHTIG IST, DAS ZÄHLT
Es ist etwas Besonderes, wenn uns Krümel, unsere Enkelin, besucht. Sie bringt unseren ganzen ‚Laden' in Schwung und durcheinander. 
Sie ist im Herbst 2017 geboren und wird in diesem Jahr drei Jahre alt. Wie konnten wir vorher nur ohne sie auskommen?

Gestern noch, da saß sie auf meinem Schreibtisch und hat sich gemeinsam mit mir Lieder angehört. Heute ist der Schreibtisch wieder verwaist, nur Stifte und bekritzeltes Papier liegen auf dem Tisch und erinnern mich an gestern.

Der Alltag hat mich wieder und ich muss ihn mir erst wieder zum Freund machen.

Am Samstag, da hatten wir eine kleine Vorstellung von Krümel. Sie hatte das Kleid an, was Klara getragen hat, davor Laura und zuerst Anna.

Es muss an die 80 Jahre alt sein und sieht immer noch hübsch aus. Krümel hat sich darin zur Musik bewegt und ein wenig mit den Hüften gewackelt.

Warum sind das eigentlich die Dinge, die einen wirklich freuen?

Wahrscheinlich, weil du kein Geld dafür brauchst und dich trotzdem unsäglich reich fühlst.

Wie haben wir es nur die ganzen Jahre zuvor ohne sie ausgehalten?

KANNST DU MIR MAL SAGEN, WARUM DER BLUMENKOHL SO HART IST?

„Gibt’s was Neues bei deiner Mutter?“, fragte Peter, nachdem Klara mit Lukas telefoniert hatte.

„Lukas hat es geschafft, dass Anna endlich den Blumenkohl aus dem Gefrierfach freigegeben hat, für den Mülleimer“, sagte Klara.

„Was ist so Besonderes dabei?“, fragte Peter.
„Eigentlich gar nichts, wenn du die Tatsache außer Acht lässt, dass der Blumenkohl seit Monaten vor sich hingammelt.“

„Das verstehe ich“, meinte Peter daraufhin.
„Und das erste, was Mutti sagte war, dass sie nicht begreifen kann, warum der Blumenkohl so steinhart geworden sei“, meinte Klara noch.

„Ruf doch deine Mutter noch einmal an und erkläre ihr das in Ruhe“, meinte Peter jetzt.

„Ach, da habe ich sogar keine Lust zu.“
„Frag sie am Anfang erst einmal danach, ob sie mitbekommen hat, dass auf Rügen die ‚Königslinie‘ Sassnitz-Trelleborg eingestellt wurde, und das nach 111 Jahren.“

Peter wusste es von Lukas. Der hatte ihm gerade einen Zeitungsausschnitt per Post zugeschickt. Darin wurde ausführlich über das Ereignis berichtet.

Lukas hatte den Artikel feinsäuberlich ausgeschnitten, und ihn noch dazu exakt an den Zeitungsrändern beschnitten.
„Das gefällt mir“, meinte Peter.
„Lukas weiß doch, wie ‚pingelig‘ du bist“, entgegnete Klara.
„Das stimmt schon, aber Lukas liebt auch die Ordnung“, sagte nun Peter.

„Ihr nehmt euch beide nicht viel“, sagte Klara.
„Sei froh, dass wir so sind“, meinte Peter.
„Schau dir doch nur mal deinen Schreibtisch an, da kann doch keiner durchfinden.“

„Wer hat denn vorige Woche nicht seinen Impfausweis gefunden, wo du gegen die Pneumokokken geimpft worden bist?“
Peter sagte nun nichts mehr, denn er hatte seinen Impfausweis tatsächlich nicht gefunden.

Das lag vor allem daran, dass er zwar alles auf Kante legte, aber ständig sein Ablagesystem neu strukturierte, es im Computer wechselnd neu vermerkte. Und wenn es ernst wurde, fand er nichts wieder, weder in seinen Dateien, noch auf seinem Schreibtisch.
Klara nahm den Hörer in die Hand, um die Nummer von Anna zu wählen.

„Sturm“, erklang es am anderen Ende des Hörers.
„Hallo Mutti, ich bin’s“, rief Klara in den Hörer, bemüht fröhlich zu klingen.

„Ja, was gibt’s?“, fragte Anna mit verschlafener Stimme.
Immer öfter legte sie sich auch vormittags auf die Couch, statt nach draußen zu gehen.
Das tat sie gar nicht mehr. Klara wollte nicht gleich mit einer Predigt beginnen, dass Anna doch darauf achten sollte, alte Lebensmittel aus dem Kühlschrank zu entsorgen.

„Hast du denn in der Ostseezeitung gelesen, dass die Fährverbindung Sassnitz – Trelleborg eingestellt wurde?“
„Hier bei uns in Stralsund?“
„Nein, Mutti, in Sassnitz auf Rügen, also wenn du über die Rügendammbrücke fährst.“

„Da fahre ich ja nicht mehr“, meinte Anna mit gleichgültiger Stimme. Klara versuchte es noch einmal.
„Mutti, du und Papa, ihr seid doch so gern nach Sassnitz gefahren und von da aus weiter mit der Fähre nach Trelleborg.“

„Und warum fährt das Schiff nicht mehr, ist der Fahrer gestorben?“
Klara gab es auf und wechselte das Thema.

„Mutti“, du kannst die Lebensmittel nicht so lange im Kühlschrank aufbewahren, wie zum Beispiel den Blumenkohl.“
„Ach, der Blumenkohl, der war sowieso steinhart. Wie kann das eigentlich sein, sag mir mal?“ Jetzt klang Annas Stimme angriffslustig, fast bockig.

Sie verstand es, den ‚schwarzen Peter‘ noch geschickt an den Gesprächspartner weiterzureichen. Sie traf ja keine Schuld.

„Na, weil du ihn vorher nicht blanchiert hast.“
„Blanchiert? Ich? Oh, wie ‚smiets‘ du mit ‚de‘ Fremdwörter,“ gab Anna auf ‚Platt‘ zurück.

„Mutti, das erkläre ich dir ein anderes Mal“, sagte Klara.
Auf jeden Fall hast du den Blumenkohl einfach so ins Gefrierfach geschmissen, und selbst da war er schon alt.
Sie war erschöpft und traurig zugleich und mochte nicht mehr sprechen. Sie verabschiedete sich von Anna und legte den Hörer auf.

„Also wirklich, wie vornehm du sprichst, das ist mir auch aufgefallen“, versuchte Peter nun Klara noch aufzuziehen, nachdem sie das Gespräch mit Anna beendet hatte.

„Was meinst du?“
„Na, ‚bloonchiiieren‘, das kenne ich auch nicht“, sagte Peter.
Klara schwieg, sie hatte keine Kraft mehr und auch keine Lust, nach dem Telefonat auf vermeintliche lustige Einwürfe von Peter zu reagieren.

Sie war einfach nur genervt und verzweifelt zugleich.
Doch es gab keinen Ausweg aus dieser Situation. Am besten, sie nahmen es tatsächlich mit Humor.

Auf jeden Fall wollte Klara am nächsten Tag Anna noch einmal anrufen und ihr erklären, wie sie den Blumenkohl frisch halten konnte.

URLAUB IN SASSNITZ – ACH GOTT, WAR DAS SCHÖN – BIS AUF DEN ERSTEN TAG

MAL SCHNELL ERZÄHLT
Wir haben dieses Jahr wieder unseren Urlaub in Sassnitz geplant und die Hotelbuchung steht. Wir überlegen, was wir tun sollen, Zeiten von Corona.
Ich denke erst einmal an den Urlaub im vergangenen Jahr zurück, besonders den ersten Tag.

Wir waren kaum in Sassnitz angekommen, da war ich auch schon mit Krümel auf der einzigen großen Straße in der Stadt unterwegs, in der Hauptstraße eben.

Dort gibt es ein Kaufhaus und da wollte ich mit Krümel reinschauen.
Laura war dort kurz vorher hineingegangen, um noch etwas Urlaubslektüre zu bekommen.

Klara war in der Ferienwohnung geblieben.
„Wollen wir mal deiner Mutter hinterhergehen?“, fragte ich Krümel und die nickte und wollte sofort losstürmen, direkt über die Straße.

„Halt, halt, nicht so schnell, Krümel“, rief ich und bekam sie am Arm zu fassen. Ich hob sie hoch und trug sie über die Straße.

„So, jetzt kannst du ins Kaufhaus laufen und nach Mama sehen“, sagte ich zu ihr, während ich sie absetzte.

Krümel lief in Richtung des Kaufhauses, blieb plötzlich stehen, machte kehrt und sauste auf die Straße zu.
Mit schreckgeweiteten Augen erkannte ich die Gefahr.

„Bleib stehen!“, schrie ich. Doch Krümel hörte nicht.
Was sollte ich tun? Ich stürzte mich in Richtung Straße, auf die Krümel bereits gelaufen war.

Mit einem Hechtsprung erwischte ich sie noch. Ich hatte sie im Arm, aber ich konnte mich nicht halten und flog mit meinem ganzen Gewicht auf den Asphalt zu.

Krümel war in meinem Arm und in Bruchteilen von Sekunden hielt ich sie über mir hoch, streckte sie geradezu in die Luft. Aber, ich konnte nicht verhindern, dass sie ebenfalls mit stürzte. Sie fiel leicht auf den Kopf und fing an zu weinen.

Ich lag auf dem Bauch, auf der Straße und konnte mich nicht bewegen.
„Hättest du doch schon mehr an Gewicht verloren“, fluchte ich im Stillen.

Passanten kamen zu Hilfe. Sie nahmen Krümel, trösteten sie und zu meiner Beruhigung sah ich aus den Augenwinkeln, dass ihr offensichtlich nichts Schlimmes passiert war.

Aber ich konnte mich nicht bewegen. Das Bein tat weh, der gesamte Oberkörper auch und ich bekam kaum Luft.
„Wir müssen ihn an den Straßenrand rollen“, hörte ich einen jungen Mann sagen.

„Können Sie aufstehen?“, fragte er mich.
„Geben Sie mir einen kurzen Augenblick“, rang ich mir ab und schnappte nach Luft.

Mehrere Menschen halfen, mich auf den Gehsteig zu rollen.
Inzwischen waren Schaulustigen da, die mich umringten.
Auf der anderen Seite hielt ein Autofahrer an und fragte: „Soll ich den Notarzt rufen?“

„Nein, nein, mir geht es gleich wieder besser!“
„Wirklich?“
„Ja, ich schaffe es allein“, sagte ich leise und versuchte aufzustehen.
„Soll ich Sie hochziehen?“, fragte der junge Mann.
„Tun Sie sich das nicht an“, antwortete ich.
„Wir schaffen das gemeinsam“, sagte er daraufhin.

Ich nickte, reichte ihm meinen Arm und er begann mich hochzuziehen.
Sein Gesicht lief rot an, seine Muskeln spannten sich unterhalb des Hemdes.

Schließlich stand ich wieder.
„Sollen wir jemandem Bescheid sagen?“, fragte die Begleiterin des jungen Mannes. Auf ihrem Arm saß Krümel und schaute schon wieder fröhlich durch die Gegend. Mir wurde gleich leichter ums Herz.

„Ja bitte, meine Tochter ist in das Kaufhaus gegangen.“
Es dauerte nicht lange und Laura kam herausgestürzt.
„Papa, dich kann man auch nicht einen Augenblick allein lassen“, schimpfte sie.

„Alles halb so schlimm“, presste ich hervor und schleppte mich mit ihr und Krümel von dannen.
Klara war in der Ferienunterkunft geblieben.
Sie erschrak, als sie mein blutendes Knie und die Wunde am Oberarm entdeckte.

„Was ist denn nun schon wieder los?“, fragte sie und schaute mich vorwurfsvoll an.
„Wir brauchen Verbandsmaterial“, sagte sie, ohne eine Antwort von mir abzuwarten.

Wir gingen in die nächste Apotheke und bekamen alles, was wir brauchten.
Den restlichen Urlaub lief ich mit Pflaster und Binden am Arm und Knie umher.

Wieder in Berlin.
Wir holten Krümel aus dem Kindergarten ab. Sie war auf der Treppe hingefallen und hatte sich die Lippe gestoßen.

„Hast du ‚Aua‘?“, fragte ich sie.
Krümel nickte.

„Lass mal sehen“, sagte ich.
Krümel zeigte nicht auf ihre Lippe. Nein, sie zog die Hose hoch und deutete mit ihrem kleinen Finger auf ihr Knie, und zwar auf eine heile Stelle

„Aua“, sagte sie und schaute mich an.
Dann zeigte ich ihr die Stelle an meinem Arm.

„Hier auch Aua?“
Krümel nickte.
Sie hatte es nicht vergessen, was in Sassnitz mit mir passiert war.

‚NEIN, NICHT MUTTI ZU OMA SAGEN‘

MAL SCHNELL ERZÄHLT
Krümel versteht nicht, dass Klara zu Anna 'Mutti' sagt. Für sie gibt es nur eine Mutti, und das ist Laura, die sich gerade im 1. Stock des Hauses aufhält, und zu der Laura mit ihrem kleinen Finger hochzeigt. Klara hingegen ist für sie ausschließlich ‚meine Oma‘.

Klara und Peter freuten sich auf den 1. Mai.
Klara hatte Peter überzeugt, dass sie Krümel am Vortag gemeinsam abholen, um mit ihr den Tag zu verbringen.

Abends dann sollte Laura nachkommen. Peter sorgte sich darum, dass es vielleicht zu leichtfertig sei, den Kontakt zu Krümel und Laura wiederaufzunehmen.

„Ich hoffe nur, dass wir keinen Fehler machen, wegen Corona“, sagte er zu Klara.

„Nun hab‘ dich nicht so, ich muss doch am Montag auch wieder zur Arbeit. Es wird schon gut gehen“, entgegnete Klara.

Sie hielt es nicht mehr aus, mit ihrer Sehnsucht nach Krümel, und so wischte sie alle Bedenken vom Tisch. Peter ging es ähnlich. Er wollte seine Enkelin ebenfalls sehen, aber sie und sich selbst nicht in Gefahr bringen.

Dann saßen sie doch alle beim Frühstück und genossen den Feiertag.

Krümel wollte mal wieder nicht so richtig essen. Da griff Peter in die Trickkiste und holte Annika heraus.

Annika war ein kleines Mädchen, so alt wie Krümel, das Peter zu einer Fantasiefigur aufgebaut hatte.

Er erzählte schon Laura früher von Annika, die besser und mehr aß, als es Laura damals tat, so jedenfalls stellte es Peter ihr gegenüber jedenfalls dar.

Und nun war Krümel bereit, mit Annika in den Wettbewerb zu treten.

„Krümel, Annika hat bereits von ihrer Marmeladenstulle abgebissen und kaut kräftig“, sagte Peter.
Krümel schaute ihn an, griff prompt zu ihrem Marmeladenbrot und steckte es schnell in den Mund. Sie lachte dabei und fragte mit vollem Mund: „Opa, ’noo…maaal‘?“

„Noch einmal, Opa“, sollte es eigentlich heißen, aber das bekam sie mit ihren zweieinhalb Jahren noch nicht so hin.

Krümel liebte die Spiele mit Annika und Peter liebte sie auch.
Annika ‚saß hinter dem Küchenradio‘, so hatte Peter es Krümel gezeigt und Krümel ging voll in ihrer Fantasie mit. Laura und Klara freuten sich, dass Krümel auf diese Weise immer wieder von ihrer Stulle abbiß.

Laura ging für einen Moment nach oben, um ein Taschentuch zu holen, als das Telefon klingelte.
Anna war dran.

„Wie geht es euch?“, fragte sie.
„Mutti, uns geht es gut, wir sitzen hier alle beim Frühstück zusammen“, antwortete Klara.

„Nicht Mutti sagen“, mischte sich plötzlich Krümel in das Telefonat ein.

„Warum nicht?“, fragte Klara und lachte.
„Mutti da“, sagte Krümel und zeigte mit ihrem kleinen Finger nach oben, in den 1. Stock, in den Laura gegangen war. Nur Laura sollte in ihren Augen Mutti genannt werden.

Sie verstand es nicht, dass Klara auch eine Mutti hatte. Klara war für sie nur Oma. Fertig.

„Das ist deine Uroma und meine Mutti“, versuchte nun Klara zu erklären.

„Nein, nicht Mutti, Anna“, sagte da Krümel. Sie hatte eben ihr eigenes Bild davon, wie jeder genannt werden sollte.

Ihr Opa saß neben ihr, ihre Oma telefonierte, Annika saß hinter ihrem Küchenradio, Uroma direkt im Telefon und ihre Mutti, ja die war da, wo Krümel mit ihrem kleinen Finger hinzeigte, oben im 1. Stock.

Die Welt war also in Ordnung für Krümel und alle freuten sich auf den Spaziergang am Werbellinsee nach dem Frühstück.

AUF DIE KLEINEN DINGE KONZENTRIEREN

MAL SCHNELL ERZÄHLT
Mai 2019
Ich hatte Schwierigkeiten im Umgang mit einem Kassenautomaten eines Parkhauses. Nicht, weil ich es nicht begriff, was zu tun war, sondern weil ich mich nicht konzentrierte – auf das, was vor mir war.

Uhlandstraße, in der Tiefgarage. Ich stand vor dem Kassenautomaten und musste nur noch das Parkticket einlösen, bevor ich mich ins Auto setzen und in mein Dorf düsen konnte.

Es war ein stressiger Tag gewesen und interessant zugleich. Ich hatte an einem Seminar für kreatives Schreiben teilgenommen und lustige, intelligente Leute kennengelernt.

Neben mir saß ein Arzt aus Wismar. Nett, 65, klug und humorvoll. Wir verstanden uns sofort. Trotzdem war ich abends froh, dass ich das alles hinter mir lassen und nach Hause fahren konnte. Dort warteten auf mich meine Frau, meine Tochter und Krümel, meine Enkelin.

Krümel war mit ihrer Mutter spontan bei uns aufgetaucht, ausgerechnet an dem Tag, an dem ich am Seminar teilnehmen wollte. Und deshalb freute ich mich nun umso mehr, dass ich zu ihnen zurückkonnte. Vorher musste ich noch über den Ku‘ Damm in Richtung Uhlandstraße.

Die Straßen waren am Samstagabend voller Menschen. Die Autos rauschten an mir vorbei. Ich eilte in einem günstigen Moment über die Straße und musste noch einmal auf dem Mittelstreifen halt machen, weil ein weißer Mercedes mit dröhnender Musik an mir vorbeifuhr.

Der Fahrer des Autos schaute mich provozierend an. So, als würde ich gleich etwas zu ihm sagen wollen.
Wollte ich aber nicht. Früher hätte ich das vielleicht getan. Aber inzwischen habe ich eingesehen, dass es ziemlich nutzlos ist, sich über Dinge zu ärgern, die ich nicht ändern konnte.

Als ich in die Uhlandstraße einbog und auf die Tiefgarage zustrebte, war es schon wesentlich ruhiger geworden. Der Lärm vom Ku’Damm drang nur noch gedämpft herüber.

Endlich. Ich war am Kassenautomaten und schob mein Parkticket in den dafür vorgesehenen Schlitz. Ich hatte das Ticket schon eine Weile zwischen die Zähne geklemmt und so war er inzwischen von meiner Spucke durchgeweicht. 25,50 Euro zeigte das Display an.

„Das ist ja Wucher“, fluchte ich laut.
„Ja, das ‚isch‘ teuer“, erwiderte hinter mir eine Stimme.
Es war eine der beiden Frauen, die direkt hinter mir standen. Ansteckungsgefahr durch Corona gab es ja noch nicht.
Ich hatte die Frauen gar nicht bemerkt.

„Sind Sie Schwäbinnen?“, sprach ich sie möglichst politisch korrekt an.
Statt einer Antwort kicherten die beiden Frauen los. Ich war irritiert und fragte sie, ob ich etwas Falsches gesagt hätte.

„Wir sind aus Baden und nicht aus Württemberg“, sagten sie mit vorwurfsvollem Blick zu mir.
„Ach schade, ich dachte, sie würden vielleicht Lörrach oder Freiburg kennen“, sagte ich.

„Ja, freilich kennen wir das, aber Baden ist trotzdem nicht Württemberg.“

„Das mag sein. Und kennen Sie denn den Unterschied zwischen Mecklenburg und Vorpommern?“, fragte ich zurück.
„Wozu?“ Die Damen schauten mich ein wenig von oben herab an und kicherten weiter.

„Ja, wozu auch“, antwortete ich drehe mich abrupt wieder zum Kassenautomaten um. Ich wartete darauf, dass meine Geldkarte wieder zum Vorschein kam.

„Bitte Ihre Geldkarte eingeben!“, stand stattdessen auf dem Display.
„Geht es nicht weiter“, fragte mich jetzt eine der beiden Frauen.
„Nein geht es nicht. Sie hätten den Unterschied zwischen Mecklenburg und Vorpommern kennen müssen.

Das war hier eine Testfrage“, meinte ich im Scherz.
Die beiden Frauen schauten mich an, als ob ich nicht ganz dicht sei. Doch ich hatte ohnehin andere Sorgen.
Ich drückte den Telefonknopf. Am anderen Ende ertönte eine Stimme, die mich nach meinem Anliegen fragte.

„Es kommt jemand vorbei“, sagte der Mitarbeiter am Telefon, nachdem ich meine Frage vorgetragen hatte.
„Ja, aber woher wissen Sie denn, wo ich gerade bin?“, fragte ich zurück.

„Ich beobachte sie“, antwortete der daraufhin.
„Ja, klasse, das ist ja wie früher“, erwiderte ich.
Die beiden Damen wünschten mir Glück und eilten die Treppe zum nächsten Kassenautomaten hinunter.

Glück, das war es nicht, was ich nun brauchte. Eher Geduld. Nach einer guten halben Stunde kam der Mitarbeiter.
„Die meisten stecken ihre Geldkarte dort hinein, wo normalerweise die Geldscheine hineinkommen“, sagte er gleich.

„Nein. Das habe ich schon alles richtig gemacht. Dement bin ich ja noch nicht“, antwortete ich bestimmt. Der Mitarbeiter reagierte nicht, schloss die Tür auf und ich sah sofort meine Geldkarte.

So freute ich mich selten, wenn ich meine MasterCard sah. Denn zur Freude gab es meistens keinen wirklichen Anlass. Dafür sorgte schon der Kontostand.

„Ich könnte Sie umarmen“, sagte ich zu dem Mitarbeiter.
„Wahrscheinlich habe ich durch mein Gespräch mit den beiden Damen, die gerade gegangen sind, aus Versehen die Geldkarte doch falsch eingesteckt.“

Der Mitarbeiter schmunzelte nur.
„Wenn Sie mögen, können Sie bei ‚Google-Maps‘ eine Wertung abgeben, denn darüber würde ich mich freuen“, sagte er zu mir. „Oh, das tue ich gern“, sagte ich und verabschiedete mich.

Vorher hatte ich noch den Mitarbeiter mit meiner Geldkarte das Ticket bezahlen lassen. Sicher war sicher.

Ich stürzte zu meinem Auto. Aber auf dem Platz stand mein kleiner Jeep nicht. Verdammt, ich musste noch einen Stock tiefer. Endlich, ich sah mein Auto, stieg ein und verließ rasch das Parkdeck. Zuhause angekommen, parkte ich das Auto unter meinem Carport und stieg aus.

In der Tür stand Krümel, mit meiner Mütze auf dem Kopf, einer kleinen Gurke in der Hand, die sie von meinem Abendbrotsteller genommen hatte und quietschte vergnügt, als sie mich sah.

Ich hob sie hoch, und sie strampelte freudig mit den Beinen. „Hast du ein Glas Wein da?“, fragte ich meine Frau und fiel erschöpft in einen der Sessel.

Am nächsten Tag schrieb ich die Einschätzung und vergab die Höchstpunktzahl für den Service. Doch ich glaube, ich habe den Eintrag beim Kempinski-Hotel vorgenommen. In genau der Tiefgarage war ich aber nicht.

Ich sollte den kleinen Dingen des Alltags wieder mehr Aufmerksamkeit schenken, sonst würden daraus große Dinge werden. Meist mit weniger erfreulichen Nebeneffekten.

DIE SACHE MIT DEM 1. MAI

ANNA IST DEMENT (61)

„Bist du auf der Maidemonstration gewesen und gab es auf dem Marktplatz wieder Erbseneintopf mit Bockwurst?“

Lukas hielt für einen Moment den Atem an. Hatte Anna ihn gerade gefragt, ob er zur Maidemonstration war? Wie zu DDR-Zeiten?
Dabei hatte er das nicht einmal in diesen Jahren getan. Er war lieber auf seinem Hof geblieben, an seinem Räucherofen.

Gut, es konnte sein, dass er mittags zum Stralsunder Marktplatz schlenderte, um sich das Treiben auf den Straßen anzusehen und vielleicht eine Bockwurst zu essen.

Und Anna? Sie nahm nie an den Maifeierlichkeiten teil, sie interessierte sich einfach nicht dafür. Ihr reichte es, wenn ihr Mann, Wilhelm Sturm, vom Betrieb aus mitmarschierte. Daran war Anna gewöhnt, es war einfach das Lebensgefühl, das sie gespeichert hatte.

An diesem Tag waren die Bäume meist schon grün, die Sträucher blühten auf und der Frühling kam zur vollen Entfaltung.

Daran erinnerte sich Anna noch und auch, dass Wilhelm mitunter sagte: „Ich habe schon einen Teller Erbsensuppe mit einer Bockwurst aus einer Gulaschkanone gegessen und bin satt. Du brauchst kein Mittag mehr zu machen.“

Das sagte Wilhelm, obwohl Anna bereits den halben Vormittag damit verbracht hatte, das Mittagessen vorzubereiten.

Dafür freute sich Anna umso mehr auf den Nachmittag, auf den Kaffeetisch im Garten, an dem oft Klara und Peter und Laura saßen.
Das war es, was Anna vermisste, was gute Gefühle in ihr auslöste, und das viele Jahrzehnte ihr Leben ausgemacht hat. Ein Leben, mit dem sie zufrieden war, und auch glücklich.

Konnte Lukas ihr verdenken, dass sie ihn nun nach dem 1. Mai fragte?

Nein, das konnte er nicht und er wollte es auch nicht.
„Mutti, die Bockwurst und der Erbseneintopf waren wieder besonders lecker“, sagte Lukas stattdessen.

„Ach ja, das ist schön“, seufzte Anna und schwieg.
Lukas sah in das Gesicht seiner Mutter und entdeckte ein kleines, leises Lächeln.

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KLARA KANN KEINE KNAPPEN ANWEISUNGEN GEBEN

MAL SCHNELL ERZÄHLT
Klara muss sich in der Klinik zur Gymnastik anmelden, traut sich nicht, mir das klar zu sagen und danach erinnert sie mich den ganz Tag daran, dass ich den Termin nicht vergessen soll. 
Naja, sie meint es gut. 
Außerdem bin ich nicht mehr allein, so wie noch bis kurzem, als Klara in der Reha war und ich Schwierigkeiten hatte, die Waschmaschine anzustellen.

„Denk‘ dran, wir müssen heute in die Parkklinik. Ich muss mich zur Gymnastik anmelden und das geht nur donnerstags.“

Das sagte Klara mir donnerstagfrüh, bevor sie kurz nach fünf Uhr dem Bahnsteig zustrebte. Warum sollte ich daran denken, wenn Klara mir sagte, dass sie donnerstags in die Klinik müsse, um sich anzumelden?

Sie hatte mit der Information am Montag begonnen, und nun hatten wir Donnerstag. Ich hörte es also jetzt zum vierten Mal. Selbst wenn ich dement wäre, würde ich das wohl behalten. Ich nickte nur zustimmend.

„Holst du mich denn 15.00 Uhr hier ab?“, fragte Klara noch. Das war eine geschlossene Frage. Ich konnte also mit ‚ja‘ antworten.

Aber es wäre noch spannender, wenn ich die anderen Antwortmöglichkeiten ebenfalls ausschöpfen würde: ‚nein‘, ‚ich weiß noch nicht‘, vielleicht, ‚ich überleg‘ es mir noch am Vormittag und ruf dich zurück‘.

Aber mit Klara konnte man das nicht machen. Sie war entschieden dagegen, auf den Arm genommen zu werden. Sie kam auch nicht auf die Idee mir zu einfach zu sagen, dass ich 15.00 Uhr pünktlich am Bahnhof sein sollte.

Das wäre eine klare Ansage für mich. Und der Ticker würde bei mir ab 14.40 Uhr laufen – Computer aus, Schreibtischhose ausziehen, Jeans anziehen, Portemonnaie, Handy, Autoschlüssel, Schuhe anziehen, Tür zuzuziehen, einsteigen, losfahren und sich fragen, ob man die Tür auch wirklich zugezogen und abgeschlossen hat. Aber all das ersparte ich mir.

Gegen 14.30 Uhr kam noch einmal ein Anruf von Klara:
„Ich bin 15.12 Uhr da. Holst du mich dann ab?“

„Ich ziehe gerade die Jeans an“, sagte ich.
„Ist das nicht ein bisschen früh?“, fragte Klara jetzt besorgt.
Ich könnte ja noch eine Salsa im Wohnzimmer tanzen. Der Computer war ja schon aus. Doch ich kannte keine Salsa.

Also stieg ich ins Auto. Wenn ich Zeit hätte, würde ich mir zum Vertreib noch einmal das Video ansehen, auf dem zu sehen ist, wie Krümel mit mir telefoniert und wie sie auf meine Fragen mit einem Augenaufschlag reagiert.

Klaras Zug kommt auf dem Bahnsteig an.

„Hast du lange warten müssen?“, fragt Klara mich beim Einsteigen.
„Ja, ich habe aber zum Zeitvertreib noch ein paar Turnübungen auf dem Dach gemacht, zum Aufwärmen sozusagen für deinen Gymnastikkurs.“

Klara schwieg. Sie konnte diese Art von Humor nicht ausstehen.

Wir fuhren in die Klinik und hielten auf dem Parkplatz davor. Klara war schon vorgegangen, weil sie bis 16.00 Uhr bei der Anmeldung gewesen sein musste. Ich ging gemächlich den Weg zur Eingangshalle hoch. Es roch nach frisch gemähtem Gras.

Es war doch schön, dass Klara wieder Zuhause war.

KLARA IST WIEDER ZUHAUSE

MAL SCHNELL ERZÄHLT
April 2019
Endlich. Heute sind die drei Wochen von Klara in der Reha-Klinik zu Ende. 
Die Eier im Kühlschrank sind alle, das Toastbrot auch und ich war noch nicht einkaufen.
Die schwarzen Unterhosen haben gereicht und heute hat Klara erst einmal die Waschmaschine gefüttert. Wird jetzt alles wie früher?

Ein wenig müssen wir uns wieder aneinander gewöhnen. Klara sitzt neben mir im Auto und erzählt von Garbo, dem Ungarn, und vom Kniffel-Würfelspiel, abends nach dem Essen, und davon, was sie künftig in der Gesundheit alles beachten will.

„Du kannst mir ruhig sagen, wenn ich dich mal wieder nerve“, antworte ich.

Klara schweigt dazu. Also, wir müssen uns wieder aneinander gewöhnen.

Es soll so sein wie immer. Vielleicht nicht ganz. Gesünder leben, ein bisschen mehr auf einander Rücksicht nehmen, nicht nur die eigenen Dinge sehen und darüber sprechen. Ich habe mir viel vorgenommen.

Mal sehen, was ich davon durchhalte. Ich bin guten Mutes und freue mich auf die neue Zeit mit Klara.

 

 

MEIN ZWIEGESPRÄCH MIT DEM ROSENEIBISCH

ALLTÄGLICHES (47-4)

MAL SCHNELL ERZÄHLT
Klara kommt am Samstag nach Hause, auf Urlaub. Ich hole sie von der Reha ab und bringe sie am Sonntagabend wieder zurück. Und ich habe vergessen, die Blumen zu gießen. Ehrlich gesagt, ich habe total vergessen, dass überhaupt Pflanzen in der Wohnung sind.

Für mich waren andere Dinge wichtig – Fernseher, Kaffeetasse, Schreibtisch, Computer, genügend saubere Unterhosen.
Aber Blumen?

Dabei hatte ich mir doch akribische Notizen gemacht an dem Tag, als Klara mich einwies. Den Roseneibisch, zum Beispiel im Wohnzimmer, den sollte ich einmal in der Woche gießen.

Der ließ die Blätter hängen und hatte sich wohl in sein Schicksal ergeben.
Oder der Flamingo auf der Kommode hinter dem runden Tisch. Ich machte mich sofort an die Arbeit. Zuerst der Roseneibisch.

Ich hatte gelesen, dass Pflanzen auch Gefühle hätten, dass man mit ihnen sprechen sollte. Immer mehr Biologen kommen jetzt um die Ecke, um uns für ihre Sachbücher gefügig zu machen, ich meine natürlich zu sensibilisieren.

Erst kürzlich stand in der Zeitung ein Artikel zu diesem Thema. Und darüber war ein Bild zu sehen, wo nackte Menschen auf einem Baum saßen, zusammengekrümmt, ineinander verschlungen. War das nun ein Werbefoto eines Nacktclubs oder sollten wir jetzt auf Bäume kriechen, um gesund zu bleiben, nackt?

Ich werde mal Klara fragen, was sie davon hält. Die wird sich ihren Teil wieder denken und gar nicht antworten.

Auf jeden Fall habe ich mal den Roseneibisch angesprochen, weil der die Blätter am auffälligsten nach unten baumeln ließ: „Du, entschuldige, dass ich dich erst jetzt bemerkt habe.

Aber wenn ich hier hereingekommen bin, dann musste ich sehr zügig die Fernbedienungen aktivieren, damit ich nicht meine Lieblingsserie verpasste. Doch nun bist du dran. Sauf‘ ordentlich und erzähl‘ der Klara nichts. Sie hat dann noch mehr Oberwasser.

Außerdem habe ich auch nicht die schwarze Wäsche in der Waschmaschine gewaschen. Ich habe die Tragezeit der Unterhosen einfach verlängert. Also nichts für ungut, das nächste Mal gebe ich dich in meinen Erinnerungstool vom iPad ein. Bis bald mal, lieber Roseneibisch.“

Ich keuchte in die Küche, um neues Wasser in die kleine Kanne einzufüllen, für die anderen Pflanzen. Es wurde Zeit, dass Klaras Kur zu Ende geht und sie endgültig nach Hause zurückkam.