DU KANNST ÜBER DEMENZ REDEN – ABER DU KANNST SIE NICHT WEGREDEN

RÜCKBLICK – ANNA-2017.10.05

Die Geschichte einer Familie reicht über vier Jahre zurück. Und immer war ein Thema präsent – die Demenz

„Ich denke, dass Anna schon noch mitbekommt, dass sie stets dasselbe fragt. Nur, dass sie eben die Antwort darauf nicht mehr kennt“, sagte Peter.

„Das mag ja alles so sein“, entgegnete Klara knapp. Sie mochte nicht mehr darüber reden. Annas Krankheit, die Sorge darum, was noch alles passieren konnte, das belastete alle ziemlich stark und Klara am meisten.

Irgendwie zog sich das durch sämtliche Gedankengänge. Manchmal sprachen sie schon morgens, 05.00 Uhr beim Frühstück, was Anna am Tag zuvor von sich gegeben hatte.

„Wenn wir in Stralsund wohnen würden und wir hätten ein Haus, und deine Mutter in diesem Haus auch eine Wohnung, dann wäre alles einfacher“, sagte Peter und biss in sein Brötchen.

„Entweder du erzählst morgens schon über Politik oder über meine Mutter und ihre Krankheit.“ Klara war noch nicht bereit überhaupt zu sprechen.

Peter sagte nichts mehr. Er schlug die Zeitung auf und las einen Artikel darüber, warum die AFD in Ostdeutschland so stark geworden war.

‚Die Ossis lebten vierzig Jahre in einer Diktatur, und nun gingen sie rechtsextremen Positionen auf den Leim.‘

Das war der Tenor eines Leitartikels.

„Der Autor macht es sich mal wieder einfach“, sagte er, knüllte die Zeitung zusammen und nahm den Sportteil zur Hand.

„Wovon redest du?“
Klara schaute ihn an.

„Ach nichts. Ich möchte bloß mal wissen, wieviel Mühe sich manche Journalisten machen, um Ursachen von bestimmten Stimmungen tatsächlich auf den Grund zu gehen.

Die haben doch ihre Vorurteile im Kopf, wissen, was der Chefredakteur lesen will und bedienen diese Pauschalannahmen mit Fakten, die in Wirklichkeit nur in deren Köpfen existieren.“

Peter konnte sich darüber aufregen. Aber er würde nichts ändern. Er müsste sich selbst bewegen, einmischen. Vielleicht sollte er das auch tun.

Seine Geschichte erzählen, die er kennt, wo er der Kapitän ist, und wo ihm keiner sagen kann: „Das war ganz anders.“

Er hat ein Bild im Kopf von Ost und West, gespeist aus seinen eigenen Erfahrungen, das gar nicht so grau aussah. Eher bunt.

Würde man sich mehr gegenseitig die eigenen Lebensgeschichten erzählen, dem Anderen zuhören, dann wäre vieles einfacher, glaubte Peter.

„Und was hat das alles mit meiner Mutter zu tun?“, fragte Klara.
Peter sah von der Zeitung auf, in die er hineingemurmelt hatte, ohne zu wissen, dass Klara ihm zuhörte.

„Im Prinzip wenig. Es hat nur etwas mit unserem Leben zu tun, das nicht nur aus der Sorge um Anna besteht“, sagte Peter.

Aber es war gut, dass sie sich kümmerten, um Anna.
Dafür war Peter vor allem Klara sehr dankbar.

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