THURE-22.04.08
DAS DORF SCHEBSAND
Was bisher war:
Thure wachte aus seinem schrecklichen Albtraum auf. Er saß auf den Schienen, mitten auf einer freien Zugstrecke und war an Händen und Füssen an die Gleise gefesselt.
Seine Frau Maria erlöste ihn aus seinem Traum.
Thure erinnerte sich daran, wie er kürzlich mit Emma von der Couch aus ‚Angeln‘ gespielt hatte.
„Los Opa, noch mal, feuerte sie Thure an, der die in seiner Hand vermeintlich befindliche Angel drehte.
Thure hatte zu seinem Dorf eine ‚Hass-Liebe‘ entwickelt.
Er lebte nun schon fast dreißig Jahre dort, fühlte sich einerseits zu Hause und andererseits wiederum fremd.
Schebsand befand sich am Rand von Berlin, im Norden von Brandenburg.
Es war ein Katzensprung nach Buch und auch bis Berlin-Mitte waren es lediglich 20 Minuten.
„Da kannst du auch mit dem Lastenfahrrad hinfahren“, meinte Thure oft im Scherz.
Thure hasste es inzwischen, in den Prenzlauer Berg hineinzufahren, weil ihm der Stadtteil inzwischen zu gekünstelt vorkam.
Manchmal musste er dorthin, um sich beim Frisör die Haare schneiden zu lassen.
Aber anschließend freute er sich umso mehr, wenn er wieder in sein Dorf flüchten konnte, das er in solchen Momenten besonders liebte.
Thure hatte herausgefunden, dass es sich bei Schebsand um ein Platzkerndorf handelte, das sogar den Dreißigjährigen Krieg überstanden hatte
„Das sind eben Ossis aus Stahl und mit Herz“, sagte Thure.
„Die Ossis gab es doch damals noch gar nicht“, wendete dann seine
Tochter Jette ein, was Thure aber nicht gelten ließ.
„Schebsand lag schon immer im Osten“, brachte er das Totschlagargument an.
Aber viel wichtiger war ihm, dass es im Dorf einen Dorfteich gab, wo er sich auf eine Bank setzen konnte und von wo aus er auch das Geschrei der Kinder vom Spielplatz aus der Kita hörte.
„Du darfst jetzt aber nicht ‚oh, oh‘ sagen, wenn ich hier meine Übungen mache“, drang manchmal das dünne, aber energische Stimmchen von Emma zu ihm herüber.
Dann war für Thure die Welt in Ordnung.
Im Osten grenzte Schebsand an riesige Flächen von Weideland, die der ehemaligen LPG gehörten, die sich nach der Wende in eine Genossenschaft umgewandelt hatte.
Thures Haus lag im Süden von Schebsand. Er hatte damals eine Scheune miterworben, in der sich besonders gern Emma aufhielt und spielte.
Einige hundert Meter entfernt von Thures Grundstück war ein See zu sehen, von dem stets eine frische Prise herüberwehte.
Thures Kummer war, dass vor seinem Haus noch zwei weitere Häuser standen, sodass er keinen freien Blick auf den See hatte.
Dafür liebte er sein Haus umso mehr. Es war über 100 Jahre alt, und so manches war überholungsbedürftig, wenn man es mit modernen Standards der heutigen Zeit verglich.
Der Fußboden im Flur bestand immer noch aus den alten braunen Fliesen, über die ein Teppich gelegt war und die nur noch an den Seiten zu sehen waren. Am Ende des Flurs stand eine alte Bauerntruhe, auf der ein weißes Fell lag.
Die Küche befand sich auf der rechten Seite des Hauses. Sie war geräumig und bildete den Mittelpunkt des Familienlebens. An der Fensterseite stand ein langer Holztisch, den Thure extra für die Küche hatte anfertigen lassen.
Auf beiden Seiten des Tisches waren Sitzgelegenheiten vorhanden. Am Fenster konnte man auf einer Holzbank sitzen, die ebenfalls der Länge des Tisches angepasst war.
Auf der gegenüberliegenden Seite standen Korbstühle, die mit blau-weißen Sitzkissen ausgestattet waren.
An den Fenstern hingen Übergardinen, ebenfalls in den Farben blau-weiß.
An der Stirnseite der Küche war noch ein alter Kohleherd zu sehen. Er wurde nicht mehr benutzt und Maria hatte ihn mit vielen kleineren Gegenständen dekoriert.
Zur Zeit standen dort bereits die ersten Osterhasen und eine Vase mit einem Strauch, an dem Ostereier hingen.
Das alles verlieh dem Ganzen eine gemütliche Atmosphäre, sodass sich die Familie oft länger in der Küche aufhielten und Maria beim Zubereiten des Essens zusahen.
Thure und Emma saßen oft auf der Holzbank zusammen. Thure legte manchmal sein Bein auf die Bank und über die Knie von Emma.
„Opa, nimm den Fuß runter“, sagte die Vierjährige dann.
„Das ist mein Erzählfuß, und der muss oben bleiben, sonst kann ich dir keine Geschichten erzählen“, sagte Thure in solchen Momenten zu ihr.
Emma überlegte kurz und sagte dann: „Komm Opa, leg deinen Fuß ruhig hier drauf.“
„Erzähl von der Scheune“, sagte sie weiter und Thure begann sich eine Geschichte von der Scheune auszudenken, in der der Esel ‚Ia‘ lebte, die Katze ‚Benny‘, der Spatz ‚Pipeva‘ und Emmas Kita-freundinnen.
Thure war wie so oft früh aufgestanden. Er wollte weiterkommen mit dem Schreiben und auch einige seiner Kunden anrufen, um zu fragen, ob die Firmenporträts auf dem Blog verlängert werden sollten.
Er hatte einen guten Draht zu seinen Kunden. Es war mehr freundschaftlich, als geschäftlich, was sicher daherkam, dass er so über so manche Firma und Unternehmer schon viele Jahre schrieb.
Thure fand es immer noch spannend, dass er auf einem Hof saß und trotzdem mit der Welt da draußen kommunizierte.
Unvorstellbar zu DDR-Zeiten, in der es nicht mal in jedem Haushalt ein Telefon gab.
Und nicht auszudenken, wie sein Vater reagierte.
„Du kannst doch nicht in diesem Kuhdorf dein Leben wegwerfen“, hatte er oft zu ihm gesagt.
Aber für Thure war es genau andersherum. In Schebsand, so fand er, hatte sein wahres Leben erst begonnen.
Er saß auf der Holzbank in der Küche, hatte seinen Tee vor sich. Es war kurz nach halb fünf Uhr früh.
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