ANNA-2022.02.04
Was bisher war:
Anna sprach mit Klara und Peter am Telefon.
Schwester Beate hatte Klara gebeten, für ihre Mutter ein paar neue Hosen zu besorgen.
Anna hatte zugelegt, besonders um die Hüfte und den Bauch herum, seitdem sie im Heim untergebracht war.
Klara wollte Peter den Telefonhörer übergebend, damit er auch mal mit Anna sprach.
Aber Peter wehrte sich.
„Er wedelte lautlos mit den Händen, so als wolle er eine Boeing 747 zum Stoppen auffordern.“
Peter erzählte schließlich mit Anna und sie zum Schwärmen:
„Ich war früher selber gern auf dem Hof von Onkel Gottfried.“
Peter fragte Anna, ob sie in der Küche mithalf.
„Bestimmt putzt du oft das Gemüse.“
„Ja, das mach‘ ich“, kam es nun von Anna.
„Also auf dich ist Verlass“, sagte Peter.
„Das kann man wohl sagen“, stimmte Anna zu.
Schwester Beate hatte sich immer noch nicht entschieden, ob sie das Angebot ihrer Chefin annehmen und die Tagespflege leiten sollte. Sie wollte die Entscheidung noch aufschieben und verdrängte deshalb diese Gedanken.
Sie war gerade damit beschäftigt, das Mittagessen vorzubereiten.
Anna war nach dem Telefonat mit Klara wieder in ihr Zimmer gegangen.
Es war ungewöhnlich, denn um die Zeit vor Mittag saß Anna gern in der Küche und schaute den Schwestern zu oder half dabei, das Gemüse oder das Obst zu waschen und zu zerkleinern.
„Hat jemand Anna gesehen?“, fragte Beate in den Raum.
„Die ist in ihrem Zimmer“, sagte Herbert, der gerade zur Küche hereinkam.
„Kannst du sie mal bitten, hierher zu kommen“, forderte Beate ihn auf. Herbert zögerte. Er wollte sich nicht noch einmal so eine Abfuhr von Anna holen.
Er dachte daran zurück, wie er in der vergangenen Woche den Arm um sie gelegt und sie ihn daraufhin brüsk zurückgewiesen hatte.
„Schon gut“, sagte Beate, die merkte, wie zögerlich sich Herbert verhielt.
Sie ging in die Richtung von Annas Zimmer, um zu sehen, was mit Anna los war.
Annas Tür stand offen, sie selbst lag auf dem Bett. Sie war bleich im Gesicht und ihre Hände zitterten.
Beate dachte sofort an eine Unterzuckerung.
Deshalb schwitzte Anna wohl auch. Alle Stresssymptome wiesen auf einen zu niedrigen Blutzuckerspielgel hin – das Schwitzen und Zittern, vielleicht hatte sie ja zusätzlich Herzrasen.
Aber das waren Vermutungen.
Anna muss ins Krankenhaus
„Wir müssen den Arzt rufen“, rief Beate, als sie in die Küche zurückeilte. Nebenan war gleich das Büro.
„Ich mach‘ dass“, sagte Ulrike, die ebenfalls hereingekommen war.
Der Arzt kam schnell.
„Frau Sturm sollte für ein paar Tage ins Sund-Krankenhaus“, sagte er zu Schwester Ulrike.
„Ich habe ihr eine Spritze gegeben, und ihr geht es jetzt wieder so weit gut“, sagte er noch.
„Warum soll ich ins Krankenhaus“, fragte Anna plötzlich.
Sie hatte sich im Bett aufgerichtet und schaute verwirrt in die Runde.
„Keine Sorge, das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme“, redete Beate auf sie ein.
Herbert soll Anna ins Krankenhaus begleiten
„Herbert, die wollen mich ins Krankenhaus verfrachten, aber ich will das nicht.“
Anna blickte zu Herbert, ihrem Mitbewohner, der zwischen dem Arzt, Schwester Ulrike und Beate durchlugte.
Er zog seinen Kopf blitzschnell wieder zurück, als sich alle zu ihm umdrehten.
„Sind Sie Ihr Freund?“, fragte der Doktor.
„Nein, um Gottes Willen“, beteuerte Herbert.
„Wir kennen uns nur flüchtig.“
Das klang, als sich beide zufällig auf der Straße begegnet und hätte flüchtige Blicke miteinander ausgetauscht.
Aber sie waren sich nicht auf der Straße begegnet, höchstens auf dem Flur im ‚Betreuten Wohnen‘.
Hier gab es kein Entrinnen, außer man wurde ins Krankenhaus eingeliefert, oder noch schlimmer.
Der Arzt hatte in der Zwischenzeit einen Krankenwagen geordert und die Überweisung ausgestellt.
„Wilhelm, du begleitest mich doch ins Krankenhaus?“.
Anna schaute Herbert an. Der war verwirrt und ahnte, dass Anna ihn mit ihrem Mann Wilhelm Sturm verwechselte.
„Der Herbert kommt dich vielleicht besuchen, wenn wir wissen, wie es dir geht“, griff nun Beate ein.
„Aber ich denke, du kannst bald wieder an unseren Liedernachmittagen in der Tagespflege teilnehmen“, sagte sie noch.
Anna nickte und winkte, als die beiden Rettungssanitäter sie im Rollstuhl zum Fahrstuhl fuhren.
„Ach, hier geht es raus, das muss ich mir merken.“
Die beiden Sanitäter schauten sich verblüfft an und konnten sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
„So Frau Sturm, jetzt geht es ins Krankenhaus und dann schauen wir mal, dass wir sie wieder gesund kriegen“, sagte einer der Rettungssanitäter, während sie Anna in den Fahrstuhl schoben.
„Ich bin gar nicht krank, die spinnen ja alle.“
Die Sanitäter wechselten nur einen Blick, erwiderten aber nichts darauf.
Schwester Beate rief Klara an.
„Ihre Mutter musste zur Kontrolle ins Krankenhaus. Zur Sicherheit.“
„Was hat sie denn?“, fragte Klara besorgt.
„Ihre Zuckerwerte waren nicht so in Ordnung. Aber es geht ihr schon viel besser. Wenn es so bleibt, dann kann sie sich in ein bis zwei Tagen wieder nach Hause.“
Anna denkt nicht mehr an ihre Wohnung
Schwester Beate hatte gar nicht daran gedacht, dass es Annas Zuhause gar nicht mehr gab, sondern sie nur noch ein Zimmer im ‚Betreuten Wohnen‘ hatte.
„Kannst du dir vorstellen, dass Mutti noch nicht einmal nach ihrer Wohnung gefragt hat“, sagte Klara zu Peter, nachdem sie ihm berichtet hatte, dass Anna ins Krankenhaus gekommen war.
„Das ist doch ein sehr gutes Zeichen, denn dann fühlt sie sich offensichtlich wohl.“
Keiner mochte aussprechen, dass es wohl vor allem daran lag, dass Anna vergessen hatte, wo sie einst gewohnt hatte.
Zwei Tage später rief Klara wieder im Heim an, um zu erfahren, ob Anna wieder aus dem Krankenhaus heraus war.
„Ihre Mutti ist gestern bei uns wieder gelandet und ist gut drauf“, sagte Schwester Ulrike, die gerade Dienst hatte.
„Kann ich sie mal sprechen?“, fragte Klara.
„Klar.“
„Anna, Telefon für dich“, hörte Klara Schwester Ulrike sagen.
„Das ist ja schön, dass du dich mal meldest“, sagte Anna zu Klara.
„Ja, ich wollte nur mal hören, wie es dir geht und ob du den Krankenhausaufenthalt gut überstanden hast“, sagte Klara.
„Ich war nicht im Krankenhaus, ich war die ganze Zeit hier.“
Anna saß gerade in der Küche, auf ihrem Lieblingsplatz, von dem aus sie alles beobachten konnte.
Klara wollte erst etwas dazu sagen, dass Anna sich nicht mehr erinnerte, aber dann schwieg sie doch.
„Und, geht es dir gut?“
„Mir geht es sehr gut!“, sagte Anna.
„Seid ihr auch schmerzfrei“, fragte sie Klara.
Klara war verblüfft. Wieso nahm sie so ein Wort in den Mund?
„Ja, wir sind alle schmerzfrei“, sagte Klara stattdessen und musste doch ein wenig schmunzeln.
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