DIE ‚TODESSPRITZE‘

ALLTÄGLICHES-2021.12.07

WAS BISHER WAR
Die wütende Mitarbeiterin
Es war eine riesige Aufregung im Impfcenter. Ich hatte den falschen Eingang erwischt. 
Ich drückte auf den automatischen Türöffner und wie von Zauberhand, taten sich die Türen auf.
Ich ging die Treppen hoch und befand mich in einem Vorraum.
An den Tischen saßen Soldaten der Bundeswehr.
„Guten Morgen“, sagte ich und sie grüßten höflich zurück.
Plötzlich stürzte eine Frau um die Ecke. Ihr Gesicht war wutverzerrt.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Sie fragte nicht in einem Ton, der nach Hilfe aussah. Sie schrie es aggressiv heraus.
„Ja, ich wollte mich anmelden“, sagte ich.
„Wieso sind Sie hier einfach reingekommen?“
Ich bezwang mich und sagte zu ihr: „Ich bin hier einfach reingekommen und jetzt bin ich hier.“
Sie schaute mich an und war nicht darauf gefasst, dass ich ihr eine Erklärung geliefert hatte, eine präzise Antwort auf ihre Frage. Ich war eben ‚einfach‘ hereingekommen.
Ihr wutverzerrtes Gesicht entglitt ihr endgültig zur Grimasse.
„‘Rauuusss‘“, schrie sie mich an und zeigte mit dem Finger auf den anderen Eingang.
Ich war verdutzt und meine Schilddrüse schlug mir bis zum Hals.
Wieso brüllte sie mich an, war übergriffig im Ton und beleidigte mich, zeigte auf mich, als wäre ich ein Stück Vieh, das man hinaustreiben konnte.
„Sie können zu mir alles sagen, nur nicht in dem Ton“, antwortete ich.
Sie schrie weiter und ich sagte ihr: „Wieso sind Sie so unhöflich? Warum sagen Sie nicht einfach, dass ich zum falschen Eingang hineingekommen bin und ich das Haus wieder verlassen müsste?“
Ich ging zur Tür hinaus. Meine Schilddrüse pochte und ich war am Boden zerstört.
Sie riss noch einmal die Tür auf und brüllte erneut etwas in meine Richtung.
„Ich wusste nicht, dass ich den falschen Eingang genommen hatte“, sagte ich.
„Entschuldigung, das war meine Schuld, aber brüllen Sie mich nicht noch einmal in diesem Ton an.“
Ich drehte mich um und ging zum Auto. Ich war entschlossen, nicht mehr dort hineinzugehen.
Was sollte ich tun? Wieder einen neuen Termin organisieren, den jetzigen nicht wahrnehmen, ohne die Chance zu haben, ihn so schnell online zu widerrufen?
Ich ging die Straße hinunter und war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ich war am Boden zerstört. Und dabei hatte ich mich so gefreut, dass ich einen Impftermin erhalten hatte.

Ich ging ein Stück weiter und schaute auf die andere Seite, auf den Raureif, der sich auf die verbliebenen Pflanzen gelegt hatte. Sie sahen aus, als wären sie verzuckert.

Warum hatte sich diese Frau derart echauffiert? War sie gestresst? Ja, sehr wahrscheinlich. War es ein Machtgehabe von ihr? Unbedingt.

‚Wir haben hier das Sagen, du hast hier zu tun, was wir dir sagen, du bist von uns abhängig.‘

Ich entschloss mich, mir die Spritze abzuholen, trotz aller Widrigkeiten.

Ich ging zurück, mit pochendem Herzen und schlagender Schilddrüse.

Ich wartete, bis die Zeit heran war und drückte entschlossen, aber immer noch aufgeregt die Türklinke herunter.

Ich ging auf den Tisch zu, an dem ein Bundeswehrsoldat saß und mich streng anschaute.

„Haben Sie überhaupt einen Termin?“, fragte er mich mit leicht vorwurfsvollem Ton.

Er war wohl ein wenig voreingenommen, nachdem er Zeuge des Vorfalls geworden war.

„Ja“, sagte ich, „ich habe einen Termin“, antwortete ich auf seine geschlossene Karte.

In dem Augenblick kam die Mitarbeiterin um die Ecke. Sie plagte offensichtlich das schlechte Gewissen.

„Wissen Sie, wieviel Menschen hier am Tag durchlaufen?“, fragte Sie mich.

„Nein, weiß ich nicht?“, antwortete ich knapp.
„Über Vierhundert“, sagte sie.

„Ich bewundere Ihre Aufopferung, Ihren Einsatzwillen, das verdient meinen Respekt. Aber das gibt Ihnen nicht das Recht, mich hier wie ein Stück Vieh aus dem Gebäude herauszubrüllen. Das hätten Sie auch höflicher tun können.“

„Sie sind hier umhergestampft“, sagte sie.
„Was haben Sie nur eine Ausdrucksweise gegenüber anderen Menschen“, sagte ich.

Ich merkte, wie es in mir schon wieder begann zu brodeln.
„Ach wissen Sie, ich bin bereit, dies alles zu vergessen. Sie auch?“

Sie nickte. Mir schien, Sie war auch erleichtert.
Sie ging in den einen Raum und ich begab mich in den Warteraum, in dem die Dokumente überprüft wurden.

Ganz hinten winkte mir ein Mitarbeiter zu, der ausgesprochen höflich zu mir war.

Wollte er die Unhöflichkeit seiner Kollegin ausgleichen?
Wenig später war es so weit.

Ich ging in die Kabine, in die mich die Ärztin gerufen hatte.
Ich traute meinen Augen nicht. Neben ihr saß die Frau, die mich so angeschrien hatte.

Sie hielt den Kopf tief gesenkt und zog eine Ampulle für die Spritze auf.

„Na, jetzt kriege ich ja die Todesspritze.“
Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen. Die Ärztin musste lachen.

Kurze Zeit später verabschiedete ich mich.

„Ein schönes Wochenende!“, sagte ich, bevor ich mich umdrehte, um hinauszugehen.

„Für Sie auch“, sagte nun die Schwester. Sie hatte den Kopf gehoben.
Ich sah das als Friedensangebot an und nickte noch einmal kurz mit dem Kopf.

Mehr lesen: https://uwemuellererzaehlt.de/mein-freund-der-alltag/ ‎