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‚ICH BRAUCH‘ BEDENKZEIT‘

ANNA

ANNA-2022.01.07

Was bisher war:
Knut, der ‚Hamburger‘ spielte die Lieder von Freddy Quinn und alle im Saal schunkelten mit.
Herbert, ein Mitbewohner, saß neben Anna und versuchte, sich ihr anzunähern.
Anna wies ihn brüsk zurück. „Wenn das Wilhelm sieht, dann bekommst du einen Kinnhaken…“
Nur das Wilhelm, der Mann von Anna, schon über 20 Jahre tot war.
Schwester Beate saß in der hinteren Reihe des Saals, während Knut auf dem Akkordeon spielte und die Gäste mitsummten.
Beate konnte nicht viel sehen, aber sie spürte, wie glücklich die Gäste in der Tagespflege waren, wenn sie für ein paar Stunden, dem ‚Betreuten Wohnen‘ entrinnen konnten.

Die Veranstaltung mit Knut, dem ‚Hamburger‘ war zu Ende und die Gäste klatschten begeistert Beifall.

Beate saß immer noch auf ihrem Stuhl und war gerührt, weil die Bewohner aus dem Haus ‚Sörensen‘ so eine schöne Abwechslung genießen konnten. Sie war froh, dass sie den Seemann Knut angesprochen hatte.

Herbert ging hinter Anna, als sie den Saal der Tagespflege verließen. Herbert war noch betroffen von dem Vorgang im Saal. War er tatsächlich zu weit gegangen, als er versucht hatte, den Arm um Anna zu legen?

Dabei wollte er doch nur ein wenig Gemütlichkeit aufkommen lassen, mit Anna schunkeln und Freude haben. Oder redete er sich das nur ein, und er verfolgte in Wirklichkeit mehr?

Er wusste es selbst nicht so richtig.
„Herbert, wo bleibst du denn?“, ertönte es vor ihm. Anna hatte sich zu ihm im Gehen umgedreht und rief den Namen Herbert so, als sei in Wahrheit ihr Wilhelm gemeint. Sie hatte den Vorgang von vorhin bereits wieder vergessen.

Herbert blieb vorsichtshalber doch hinter ihr. Wer wusste das schon, wie es gemeint war. Vielleicht kam Wilhelm doch noch um die Ecke und verpasste ihm einen Kinnhaken. Es passierten ja so viele merkwürdige Dinge.

„Hallo, ihr Lieben!“, rief Schwester Ulrike, die an der Tür stand, „war es schön?“

„Ach ja, so schön“, antwortete einige, während sie auf sie zugingen.
Schwester Ulrike blieb noch an der Tür stehen und wartete, bis Schwester Beate auftauchte.

„Beate, kannst du mal in mein Zimmer kommen?“, sprach Ulrike sie an.

„Ist irgendetwas passiert?“, fragte Beate sie verblüfft.
„Nein, nein, ich will mit dir nur in Ruhe etwas besprechen.“
„Ist gut, ich komme gleich, ich will nur sehen, dass alle wieder gut auf ihre Zimmer kommen“, sagte Beate noch.

Schwester Ulrike nickte und verschwand auf der Etage in ihrem Büro.
Sie hatte ihren Schreibtisch so gestellt, dass sie direkt auf den Sund schauen konnte, wenn sie daran saß und etwas erarbeiten musste.

Sie blickte hinaus und sah in der Ferne ein kleines weißes Schiff, das offensichtlich langsam vor sich hin tuckerte. Wahrscheinlich war es die Fähre, die die Leute nach Hiddensee brachte.

Sie sah viele weitere Boote, die aber eher wie kleine schwarze Punkte von ihrem Zimmer aus zu erspähen waren. Kleine Anglerboote, die auf dem Wasser schaukelten und auf Hering aus waren.

Es klopfte und Ulrike schreckte hoch.
„Ja bitte“, sagte sie etwas förmlich, obwohl sie wusste, dass es nur Beate sein konnte.

Sie kannten sich schon aus früheren Zeiten, eigentlich schon aus der Zeit, als beide noch im Sund-Krankenhaus als Krankenschwestern arbeiteten.

Sie mochten sich und sie respektierten sich gegenseitig, aber eine wirkliche Freundschaft war zwischen ihnen nicht entstanden.
Es war vielleicht besser so, denn nun war Ulrike die Vorgesetzte von Beate.

Ulrike war mehr die Macherin, die Managerin, die Abläufe planen und organisieren konnte, die es verstand, Menschen für sich einzunehmen.

Und Beate war immer eher auf der fachlichen Seite gewesen. Sie fühlte sich vor allem gern in Menschen ein, versuchte ihnen auch in ungewohnter Umgebung ein Gefühl von einem ‚Zuhause‘ zu geben.

Beate war froh, dass sie aus dem medizinischen Bereich des Krankenhauses in die Pflege gewechselt war, den Patienten noch näher sein konnte, nicht nur pflegerisch, sondern auch menschlich.

Ulrike schrak aus ihren Gedanken hoch, als es an ihrer Tür klopfte.
„Ja, bitte.“
„Da bin ich“, sagte Beate und trat vorsichtig ins Zimmer ein. Obwohl sich beide gut kannten, fühlte sich Beate nie ganz wohl, wenn sie zu ihrer Pflegedienstleitung gerufen wurde.

Es war in ihr drin, dieser Respekt, den sie nun mal vor jemandem hatte, der eine Leitungsfunktion ausübte.

„Bitte setz‘ dich doch, Beate“, sagte Ulrike freundlich.
„Kaffee?“
„Ja gern.“

Ulrike holte die bereitgestellten Tassen vor und goss aus der Thermoskanne den Kaffee ein.

„Danke“, sagte Beate, nachdem sie die Kaffeetasse entgegengenommen hatte.

Sie setzte an, um einen Schluck zu trinken und stellte fest, dass der Kaffee noch vom Morgen übriggeblieben sein musste.

Er hatte einen schalen Geschmack und war nicht mehr heiß.
Sie schluckte ihn runter, wie etwas, dem man nicht ausweichen konnte.

„Den Bewohnern schien es gut gefallen zu haben, mit dem ‚Hamburger‘ Knut?“

„Oh ja, ich habe ja hinten gesessen und konnte dadurch nicht alles erkennen, aber die Gäste haben mitgesungen, mitgeschunkelt und einige haben sich sogar untergehakt.“

„Wunderbar.“

„Das müssten wir des Öfteren veranstalten, und nicht nur das, sondern das Konzept für die Tagespflege erweitern.“

„Hm“, sagte Beate kurz und schaute Ulrike unentwegt an.
‚Worauf willst du hinaus?‘, schien sie zu denken.

„Sie hat mich doch nicht hierhergebeten, um mir das allzu Offensichtliche zu erklären, schoss es Beate durch den Kopf.

„Ich brauche dich als Leiterin der Tagespflege“, riss Ulrike sie aus ihren Gedanken.

„Mich?“
„Nein!“
„Doch!“, blieb Ulrike dabei.

Plötzlich war es still im Raum.
Ulrike ließ nicht den Blick von Beate und die wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

„Aber es gibt doch so viele gute und talentierte Kräfte, die außerdem noch viel jünger sind, als ich es bin“, wich Beate aus.

„Das mag schon sein, aber ich brauche dich als ein Fels in der Brandung, jemand, der entschlossen anpackt und auch die Richtung vorgeben kann.“

„Und das soll ausgerechnet ich sein?“, versuchte Beate, sich aus der Schlinge herauszuziehen.

„Beate, du bist kreativ, du hast für uns den Abend mit den Seemannsliedern organisiert. Die Leute spüren, dass du es ehrlich meinst mit ihnen. Sie fühlen sich bei dir geborgen.“

Das hatte Beate nun davon, dass sie sich wie ein Familienoberhaupt um ihre Gäste in der Tagespflege kümmerte und dabei noch vielen ihrer Kolleginnen im Stress zur Seite stand.

„Wir werden mehr tun müssen, was die fachgerechte Planung und Dokumentation anbetreffen.

Du siehst ja selbst, wie viel Zeit dafür draufgeht.
Und wir müssen umfangreiche Vorlagen und Materialien erarbeiten, die es uns erlauben, die Gäste noch individueller zu betreuen.“

Beate schwieg. Was sollte sie tun?
„Ich brauche Bedenkzeit“, sagte sie schließlich.

 

ANNA

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