Archiv der Kategorie: KURZGESCHICHTE

Geschichten über den Alltag, kurz, in der Sprache des Alltags. Erzählform: überwiegend aus der Perspektive des personalen Erzählers.

IM WARTEZIMMER VON DR. SILBERFISCH

ANNA

ANNA-2017.05.28

Klara fährt nächste Woche nach Stralsund. Sie will es ihrer Mutter vorher nicht sagen.

Sondern: Sie will – gemeinsam mit ihrem Bruder Lukas – zu Dr. Silberfisch.

Sie wollen ihn um Rat fragen, was sie tun können wegen ihrer Mutter Anna, wie es weitergehen soll, wie lange sie noch in ihrer Wohnung bleiben kann.

Die Praxis von Dr. Silberfisch steht bei Anna hoch im Kurs.
Das liegt nicht nur am Arzt, wenngleich sie schon lange Patientin bei ihm ist.

Da, wo die Praxis heute ist, da war früher eine Drogerie, Annas ehemaliger Arbeitsplatz.

Für Anna ist es schon deshalb ein Höhepunkt, wenn sie in die Praxis gehen kann.

Sie kennt sich dort immer noch gut aus.
Und Anna kommt heute noch ins Schwärmen.

Sie fängt gleich im Wartezimmer an zu erzählen, was dort früher war und wie die einzelnen Räume aufgeteilt waren.

„Und da oben, da haben wir immer Mittag gemacht, Schwester.“
„Ach ja?“, fragt Schwester Erika und verdreht die Augen verstohlen zu ihrer Kollegin.

Anna weiß nicht, dass sich die Schwestern heute Praxishelferinnen nennen.

Und das stört sie auch nicht im Geringsten.
„Manchmal, da haben wir dort auch Kaffee getrunken und Kuchen gegessen“, fährt Anna unbeirrt fort.

„Ach, das war schön.
Und die Kunden, die in die Drogerie hineinkamen, die mochten uns“, meinte sie.

„Frau Sturm, der Doktor wartet jetzt auf Sie. Bitte gehen Sie doch durch.“

„Ja, das mach‘ ich doch glatt.“
Anna ist im Arztzimmer verschwunden.

„Sooo…“, sagt Schwester Erika – also die Praxishelferin Erika.
„Das hätten wir jetzt wieder. Na ja, wer weiß, wie wir mal werden.“
„Meinst du?“, fragt ihre Kollegin.
„Na ja“, seufzt Erika, „wer kann das heute schon wissen?“

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ANNA

BERTA HAT AUFGELEGT

Anna kann sich die Namen ihrer Freunde und Bekannten nicht mehr merken.

Anna ruft an: „Es war schön gestern bei der Diamantenen Hochzeit.“
Anna hatte vergessen, dass Klara zur Arbeit gefahren war und dachte, sie träfe sie am Telefon an.

Jetzt musste sie mit ihrem Schwiegersohn vorlieb nehmen.

„Hattet ihr denn auch Musik?“, fragte Peter.
„Ja, Berta hat aufgelegt.“ „Oh, Donnerwetter!“, staunte Peter und musste schmunzeln.

Aufgelegt – war das nicht ein Begriff, der längst vergangen war? Oder ist er gerade hip, wenn man an die heutigen Veranstaltungen denkt, wo der DJ auflegt?

Jedenfalls: Anna sprach und dachte modern.
Trotzdem: Wahrscheinlich war das ein ganz normaler Recorder, auf dem die Musik spielte und zwischendurch die CD’ s gewechselt wurden.

Und das tat eben Berta. Sie war die beste Freundin von Anna, schon von Kindesbeinen an, und so wusste Berta auch, welche Musik Anna mochte.

„Waren denn Gäste da, die wir kennen?“, fragte Peter weiter. Anna überlegte kurz und sagte: „Nein, keine.“

Da war er wieder, der Gedächtnisverlust. Peter und Klara kannten bestimmt über die Hälfte derjenigen, die dort Gäste waren.

„Wie heißt noch gleich die Tochter von Berta, ich komme einfach nicht drauf“, fragte Peter jetzt.

„Na, Cornelia, das musst du doch wissen?“, sagte Anna vorwurfsvoll.
Ja, Anna hatte Recht. Peter musste und konnte es wissen.

Anna konnte es im ersten Anlauf nicht wissen, dass es jemand war, den Peter und Klara kannten, und sie musste es vielleicht auch nicht mehr.

Wie sollte man das alles werten?
War es ein schlechtes Zeichen, dass Anna erst nach dem zweiten Anlauf auf die Namen kam?

Oder sollte man es so nehmen, wie es eben war. Anna fiel es schwerer, auf die Namen von Freunden zu kommen, selbst auf die der engsten Freundin?

Peter und Klara entschlossen sich, es positiv zu sehen und Anna dabei zu helfen, sich zu erinnern.

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ANNA

 

SIE HABEN GEWONNEN, FRAU STURM

Anna hält einen Werbebrief in der Hand, in dem ihr 8000 Euro Gewinn versprochen werden. Klara gelingt es nicht, Anna davon abzuraten, an die Firma eine Antwort zu schicken. 

„Ich hab‘ da vielleicht wieder eine Aufregung“, sagt Anna.

Sie hat Klara angerufen, eben wie immer täglich, gegen Abend.
„Was denn für eine Aufregung?“, fragt Klara. „Na, ich habe schon wieder 8000 Euro gewonnen.“

Prof. Dr. med. Silke Heimes hat ein Programm entwickelt, indem es um das Schreiben geht, darum, dass man sich gesund schreibt: „ich schreibe mich gesund – Mit dem 12-Wochen-Programm zu Gesundheit und Ausgeglichenheit“

„Mutti, du hast nicht gewonnen. Das ist ein Werbebrief. Und wenn du weiter unten liest, dann siehst du, dass du die Chance hast, zu gewinnen.  Eventuell. Aber das ist eher unwahrscheinlich.“

„Ich lese dir jetzt mal vor, was hier steht.“
Anna fängt an, den Werbebrief vorzulesen: „Liebe Frau Sturm, freuen Sie sich! Sie haben gewonnen…
Schicken Sie die Antwort noch heute zurück, und: Vergessen Sie nicht, den beiliegenden Bestellschein auszufüllen… Sobald wir Ihre Rückantwort erhalten haben, sind Sie mit dabei – bei der großen Verlosung für den Hauptgewinn in Höhe von 8000 Euro…Also schicken Sie den Brief noch heute ab, liebe Frau Sturm.“

Klara hat bis zum Schluss gewartet. Sie war dem Rat von Peter gefolgt und hatte ihre Mutter nicht unterbrochen.
Doch es fiel ihr schwer, ruhig zu bleiben, zuzuhören, nicht hineinzureden.

Doch nun platzte es aus ihr heraus: „Mutti, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen.
Das ist ein Werbe-Gag. Du bist eine von Tausenden, die wie du diese Post erhalten haben.  Der Brief erfüllt nur einen einzigen Zweck: Du sollst wieder eine Bluse bestellen, verstehst du das?“

„Ja, aber hier steht, ich habe gewonnen.“
„Mutti, jetzt zerreiß den Brief, und wirf‘ ihn in die Tonne!“
„Meinst du wirklich?“ „Ja!“
Klara konnte nicht mehr.

„Du erreichst nichts, wenn du auf diese Art mit deiner Mutter sprichst.  Anna hat doch jetzt nur ein schlechtes Gefühl, weiß aber nicht so richtig warum und wird dir beim nächsten Mal gar nichts mehr erzählen.“

Peter versuchte Klara zu erklären, dass sie so nicht weiterkam.

„Du hast gut reden. Du redest ja nicht jeden Abend mit ihr.“
Klara war bedient.