Archiv der Kategorie: ANNA IST DEMENT

Kurzgeschichten über den Umgang mit an Demenz erkrankten Angehörigen.

ANNA IST DEMENT (40)

ANNA HAT DEN ANRUF VON LUKAS SCHON WIEDER VERGESSEN

Es ist schon spät, als Anna sich bei Lukas am Telefon meldet.
„Ich bin gerade beim Abendbrot“, sagt Lukas leicht genervt zu Anna.

Anna druckst herum, bis sie salbungsvoll über die Lippen bringt: „Ich wollte dir auch nur ein wunderschönes Abendessen wünschen.“

„Aber Mutti“, die Stimme von Lukas zittert vor Empörung, „wir haben doch gerade miteinander gesprochen.“

„Ach, haben wir das? Na dann kann ich ja wieder auflegen“, antwortet jetzt Anna. In ihrer Stimme schwingt mit, wie beleidigt sie gerade von dem ist, was Lukas ihr gesagt hat.

Lukas ärgert sich darüber, dass er sich mal wieder nicht im Griff hatte. Dabei wollte er sich nicht aufregen, egal, was Anna von sich gab.

„Mutti, was wolltest du mir denn noch mitteilen?“, fragte er nun schon versöhnlicher.

„Du, stell dir vor, Peters Vater ist tot.“
Lukas verschluckte sich an dem Stück Brot, das er kurz bevor das Telefon klingelte in den Mund geschoben hatte.

„Und Mutti, stell du dir vor, das habe ich dir vor einer halben Stunde erzählt. Das kannst du also nur von mir wissen.“
Anna schwieg.

„Bist du noch da?“, fragte Lukas.
„Ja, aber ich kann das nicht glauben, dass ich das schon wieder vergessen habe.“

„Mutti, das ist überhaupt nicht schlimm. Dafür sind wir doch da. Um dir zu helfen, dich an das alles zu erinnern. Wie war denn dein Tag heute?“

„Ach, es war so schön auf dem Balkon bei mir. Die Sonne schien und die Blumen blühen. Es ist einfach herrlich.“
Anna hatte das alles Lukas schon vor einer halben Stunde erzählt, mit den gleichen Worten.

„Mutti, das ist doch wunderbar.“
Lukas hatte mal wieder die Kurve gekriegt.

ANNA IST DEMENT (39)

„ACH WAS, DAS STIMMT NICHT“

„Was hat Mama gesagt, als die Schwester ihr mitteilte, dass Vati gestorben war?“, fragte Peter Helga.
„Sie hat ‚ach was‘ gesagt, ‚das stimmt nicht‘“, antwortete Helga auf Peters Frage am Telefon.
Peter war das erste Mal froh, dass seine Mutter, Getrud Gerber, dement war. Nicht die Tatsache an sich war das, was ihn freute. Nein, das bestimmt nicht.
Aber dass sie diesen traurigen Moment so verarbeiten konnte, weil ihr Gehirn die Nachricht emotional einfach nicht mehr so intensiv aufnahm.
Das war vor Jahren Peters größte Sorge. Er wusste, wie sehr die beiden voneinander abhingen.
In diesem Jahr waren sie 69 Jahre verheiratet.
Sein Vater hatte ihm bei einem der letzten Gespräche gesagt, wie sehr er Getrud geliebt hatte.
Und nun, eine Woche vor dem 90. Geburtstag von ihr, da starb er einfach.
Am letzten Samstag hatte sein Vater ihn noch gefragt, ob Peter mit Mama verheiratet sei.
Er hatte Mühe, seine Gedanken zusammenzunehmen.
„Nein, ich bin der Sohn von Mama und von dir. Und du bist verheiratet mit Mama.“
„Ach so“, meinte er und ließ seinen Kopf wieder sinken.
Gertrud spielte mit dem Hund von Helga.
„Mama, Vati ist nicht mehr“, versuchte es Helga noch einmal.
„Stimmt das?“, fragte Gertrud und streichelte den Hund weiter.

ANNA IST DEMENT (38)

ES TRAF IHN WIE EIN KEULENSCHLAG

Es sollte ein Tag werden, wie jeder andere auch.
Peter hatte sich viel vorgenommen.
Dann kam der Anruf von Helga.

„Vati ist heute Morgen friedlich eingeschlafen“, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. Peter wusste, dass es mit seinem Vater zu Ende ging. Doch nun, da es die bittere Wahrheit war, zuckte er dennoch zusammen.

Er besprach mit Helga kurz, was nun zu tun ist.
Dann kam die Stille. Wie oft hatte er sich mit seinem Vater gestritten, gefetzt, sachlich und unsachlich.

Nun war der nicht mehr da. Er würde nie wieder da sein.
Peter hatte sich vorgenommen, sich nach außen nichts anmerken zu lassen.

Er wollte darüber nicht sprechen. Doch nun rannen ihm die Tränen übers Gesicht, die Buchstaben verschwammen vor ihm.

Noch bei einer seiner letzten Telefonate hatte ihm sein Vater zugerufen: „Halt endlich deine Schnauze.“
Peter hatte sofort aufgelegt, so entsetzt war.

Bei seinem letzten Besuch im Krankenhaus, sagte sein Vater zu ihm:
„Das musst du richtig verstehen. Ich mein‘ das doch genau anders herum.“

„Ach so. Das habe ich dann komplett falsch verstanden“, entgegnete Peter trocken.

Helga rutschte vor Lachen fast vom Stuhl. Sein Vater schmunzelte.

„Wer sind Sie“, fragte er Peter wenig später.
„Ich bin’s. Dein Sohn. Und das ist Krümel, deine Urenkelin“, sagte Peter und zeigte auf ein Foto.

„Ja, Krümel, die kenne ich. Natürlich kenne ich sie“, sagte sein Vater noch einmal, diesmal mit vorwurfsvollem Unterton.
Jetzt war das alles vorbei, die kleinen und größeren Plänkeleien, das Dozieren über geschichtliche und aktuelle Vorgänge in der Politik, die Diskussion über gute Bücher.
Ihm wird der messerscharfe Verstand seines Vaters fehlen, das ewige Ringen mit ihm über die Bedeutung von etwas Gesagtem und vor allem von dem, was unausgesprochen blieb.

Peter wird Krümel Geschichten erzählen, sie zum Schreiben mit der Hand ermuntern, zu lesen, fröhlich und mit wachen Augen durch das Leben zu gehen. Und Peter wird ihr von ihrem Uropa erzählen.
Das wird er tun. Denn das alles würde seinem Vater gefallen.

ANNA IST DEMENT (37)

PETER WARTET AUF HELGA

Es dauerte noch eine Weile, bis sich eine Kellnerin ihm näherte, gemächlich und mit grimmigen Gesicht.“

„Sollte sie wegen seiner Anfrage Ärger bekommen haben?“, fragte Peter sich.
„Sie wünschen?“, fragte ihn die Kellnerin, die nun direkt neben ihm stand und ihn mit einem wütenden Gesichtsausdruck anschaute. .

„Können Sie mir dieses Getränk hier empfehlen?“, fragte Peter und zeigte auf die Karte, auf der ein Glas mit einem Mix aus Gin Tonic, etwas Weißwein, aufgefüllt mit Sprudel, und einer am Rand aufgesteckten Apfelsinenscheibe zu sehen war.

„Das ist immer eine Geschmackssache!“, antwortete die Kellnerin verschnupft.

„Das stimmt“, sagte Peter. Er war wieder auf Kampfmodus eingestellt. Er schaute die Kellnerin jetzt selber mit einem provokanten Gesichtsausdruck an. Klara hasste diese Eskapaden. Sie meinte, es lohne sich nicht, sich laufend mit den Leuten anzulegen.

Peter sah das ähnlich, jedenfalls wenn Klara mit dabei war. Aber dass die Kellnerin sich nicht einmal für das späte Erscheinen entschuldigte, reizte es ihn, weiterzumachen.

„Gott sei Dank haben Sie sich so unendlich viel Zeit gelassen, bis Sie es an meinen Tisch geschafft haben. Dadurch konnte ich mir schon ein Bild machen.“

„Wir sind ja schließlich nicht auf der Flucht“, sagte die Kellnerin und wirkte nun in ihrer Körperhaltung noch bedrohlicher. Sie hatte rustikale Lederhosen und ein kariertes Hemd an.

„Ja Sie, Sie sind gewiss nicht auf der Flucht. Sie ganz bestimmt nicht. Sie haben lediglich die Gabe, die Kunden in die Flucht zu schlagen. Ich überlege auch gerade, ob ich gehe.
Aber gut, dann bringen Sie mir bitte das Getränk.“

Die Kellnerin notierte die Bestellung regungslos, drehte sich um und lief davon.
Wenige Augenblicke danach kam eine junge Kellnerin und schaute Peter ängstlich an.

„Hier Ihr Getränk. Zum Wohl“, flüsterte sie fast.
„Oh, das ist aber eine nette Bedienung. Donnerwetter, geht doch. Vielen Dank.“

Das Gesicht der jungen Kellnerin hellte sich und sie lief fröhlich davon.
Vom Tresen her traf ihn der eiskalte Blick der ersten Kellnerin. Peter hob das Glas und prostete ihr zu. Sie drehte sich demonstrativ um.

„Wie im 5 Sterne Hotel“, sagte Peter laut und schlürfte genussvoll das eiskalte Getränk hinunter.
Als er das Glas absetzte, stand Helga vor ihm.

„Na, drangsalierst du schon wieder nette Menschen?“, fragte sie Peter.

Peter stand auf und rang sich ein Lächeln ab. Immerhin hatten sie sich ein paar Jahre nicht gesehen.
Und Helga fuhr fort: „Du, ich war hier jahrelang Stammgast“, sagte Helga.

„Na, dann kann ich den Frust der Kellnerin verstehen“, entgegnete Peter.
Helga hasste ihn dafür, denn sie konnte gegen ihn im Gespräch meist wenig ausrichten.
Sie holte trotzdem zum Gegenschlag aus.

„Und, hast du es mit deinem kleinen Flitzer bis hierher geschafft?“, fragte ihn Helga.
Sie selbst fuhr einen SUV Porsche und wollte Peter treffen.
Ach weißt du, der kleine Jeep, ich nenne ihn „Mister Trump“, hat Biss.

Ich mag ihn. Und meine Enkelin erst, die zeigt schon von weitem mit dem kleinen Finger auf ihn, wenn sie ihn sieht. Da kann mir doch egal sein, was ein paar versnobte Porsche-Fahrer denken.“
Helgas Gesicht lief rot an, sie zog es jedoch vor zu schweigen.

ANNA IST DEMENT (36)

FAHRT NACH DRESDEN

Peter hatte keine Lust, noch einmal zum Hörer zu greifen. Er schickte eine WhatsApp-Nachricht:
„Lass uns nicht streiten. Jetzt müssen wir zusammenstehen. Ich bin dazu bereit und komme am Dienstag nach Dresden.“

Von Helga kam ein kurzes ‚ok‘ zurück.
Dienstagfrüh, das Thermometer sollte auf 35 Grad Celsius ansteigen. Bei diesen Temperaturen konnte man überall hinfahren, nur nicht nach Dresden.

Peter erinnerte sich, wie drückend es in der Stadt im Sommer war.
Sie wohnten direkt im Stadtzentrum. An den Hängen, da war es auszuhalten, aber im Herzen der Stadt legte sich die Hitze wie eine Glocke über die Straßen und Häuser.

Das Gefühl, keinen großen See in der Nähe zu haben, bedrückte Peter deshalb besonders.

Ein Grund für ihn, später zur Marine zu gehen. Er war die ersten Jahre in Schwerin aufgewachsen. Der Schweriner See war für ihn herrlich. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass es woanders noch hätte schöner sein können.

Später dann begann er die Ostsee zu lieben, das Wasser, den ständigen Wind und das Gefühl der Freiheit, das man nicht beschreiben konnte.

Peter wollte nicht zu sehr hetzen und entschloss sich, möglichst frühzeitig nach Dresden aufzubrechen.
Der Berliner Ring war voll. Auf der rechten Spur reihte sich ein LKW an den anderen.

Peter blieb auf der linken Spur und ärgerte sich, dass hinter ihm jemand drängelte.
Früher war er genauso gewesen. Für ihn war klar, dass er mit seinem 7er BMW Vorfahrt hatte, zu wichtigen Terminen.
„Was für ein eitler Gockel du doch manchmal warst“, sagte er sich heute im Stillen.

Nach drei Stunden Fahrt auf der glühenden Autobahn, bei stickiger Luft und einer Sonne, die selbst noch durch die getönten Scheiben gleißte, war er in Dresden angekommen. Er fuhr in die Tiefgarage, direkt an der Frauenkirche und begab sich nach oben.

Als er aus der Tür heraustrat, hatte er den Eindruck, jemand würde ihm direkt einen dicken Hammer mitten ins Gesicht schlagen.
Peter bog in eine kleine Straße ein. Sie nannte sich „Salzgasse“.
Er staunte, wie viel neue Häuser, Hotels, kleine Läden, Restaurants entstanden waren.

Dresden zeigte sich von seiner besten Seite, weltoffen und mit herrlich restaurierten historischen Gebäuden. Allein die Frauenkirche machte auf ihn immer wieder einen grandiosen Eindruck.

„Warum wird nur von ‚Pegida‘ gesprochen und nicht von den schönen Seiten der Stadt, den höflichen und netten Menschen, den Sachsen. Ihren Dialekt hatte Peter nie angenommen, obwohl er über zehn Jahre in der Stadt verbracht hatte. Aber die sächsischen Laute riefen doch in ihm so etwas wie ein Heimatgefühl hervor.

Peter setzte sich in das Café, wo er sich später auch mit Helga treffen wollte.
Er saß bereits eine halbe Stunde, bis er sich entschloss, an die Theke zu gehen.

„Entschuldigen Sie, bedienen Sie hier alle Gäste, oder gibt es ein Auswahlprinzip?“
Der Mitarbeiter hinter der Zapfsäule schaute ihn entgeistert an.

„Aber selbstverständlich, mein Herr, wir bedienen alle.“
„Und warum warte ich dann über eine halbe Stunde dort hinten in der Ecke?“, fragte Peter zurück.
„Wir kommen sofort“, sagte der Mitarbeiter entschuldigend.

ANNA IST DEMENT (35)

DU MUSST MIT NACH DRESDEN KOMMEN

Freitagmittag. Helga Geiger, Peters Schwester rief an. Sie wohnt auf Sylt, gemeinsam mit ihrem Mann, Thomas Geiger.

„Vati will nicht mehr leben, er isst nicht mehr und er trinkt nicht mehr“, sagte Helga am Telefon zu Peter.

„Woher weißt du das?“, fragte Peter.
„Ich habe doch meine Verbindungen ins Pflegeheim“, sagte Helga.
Ja, die hatte sie zweifelsohne. Aber Peter kannte Helga nur zu gut. Sie übertrieb oft, dramatisierte die Situation.

„Du musst am Dienstag unbedingt mit nach Dresden kommen. Es ist viel zu organisieren.“

Peter zögerte. Er ließ sich ungern in etwas hineintreiben, wollte die Fäden selbst in der Hand behalten.

Aber Helga war nun mal näher dran, an Manfred und Gertrud Gerber. Schließlich hatte sie jahrelang in dem Heim in leitender Position selbst gearbeitet und kannte das Personal gut.

„Willst du etwa einen geschäftlichen Termin im Pflegeheim mit privaten Zielen verbinden?“, fragte Peter.
Jetzt platzte es aus Helga heraus:

„Wie kommst du darauf? Das ist eine Unterstellung!
Ich verbitte mir das.“

„Du kannst bitten, so viel du willst. Aber ich werde doch wohl noch fragen dürfen, warum ich bei dem Termin wirklich dabei sein soll.“
Bei Peter saß das Misstrauen tief, sehr tief.

Die Wunden, die in den vergangenen Jahren bei Peter entstanden waren, die schmerzten immer noch.
Zuviel hatte Helga ihm versprochen und dann nicht gehalten.
Jetzt sagte er das aber nicht.

Stattdessen brüllte er sie an: „Wenn du glaubst, dass du mich im Ton eines Untergegebenen behandeln kannst, dann hast du dich geirrt. Mir ist es egal, dass du eine Million auf dem Konto hast, aber du redest trotzdem mit mir in einem ordentlichen Ton.“

Peter hatte sich selbst im Ton vergriffen, so sauer war er auf Helga.

„Ich habe nicht eine Million“, entgegnete Helga wütend.
„Nein, das glaube ich dir sogar. Du hast mindestens zwei Millionen auf dem Konto“, gab Peter zurück.

Helga legte auf.

Peter schlug die Schilddrüse, er war wütend, wusste, dass er sich im Ton vergriffen hatte, und musste trotzdem eine Entscheidung treffen.

Schweren Herzens wählte er noch einmal die Telefonnummer von Helga.
Es ging keiner ran.

ANNA IST DEMENT (34)

WIR WAREN SCHÖN EIS ESSEN – IM BALTIC – HOTEL

 

„Wie war es beim Arzt, Mutti?“, fragt Klara abends Anna.
Klara wusste, dass Anna einen Arzttermin um 17.00 Uhr hatte.
Lukas war mit ihr zusammen dort gewesen.

„Welcher Arzt?“, fragte Anna erstaunt.
„Du warst doch heute in der Praxis, gemeinsam mit Lukas.“

„Mit Lukas? Was will der denn dort?“
„Mutti, er hat dich begleitet, damit alles klar geht.“
„Stimmt!“, sagte sie jetzt.

„Und weißt du, wir waren hinterher schön Eis essen“,  setzte Anna hinzu.

„Ach, das ist ja wunderbar. Wo seid ihr denn gewesen?“, hakte Klara nach.

Am Telefon entstand eine Pause. Klara spürte körperlich, wie es in Anna arbeitete.

„Ja, im Baltic-Hotel“, bekam sie schließlich heraus.
„Im Baltic-Hotel?“, fragte Klara verwundert.

„Ja. Es hat so gut geschmeckt“, schwärmte Anna.
Klara verabschiedete sich von Anna und rief Lukas an.

„Wie war’s denn im Baltic-Hotel?“, fragte Klara Lukas.
„Im Baltic-Hotel? Wie kommst du darauf?“, fragte Lukas.

„Mutti hat das gesagt.“
„Quatsch, wir waren beim Arzt, sind anschließend im Stralsunder Hafen gewesen und danach waren wir bei mir auf dem Hof. Ich habe ein Eis am Stiel ausgegeben“, sagte Lukas.

Er holte tief Luft und sagte: „Du, Mutti wusste nicht einmal mehr, dass wir im Stralsunder Hafen waren.“

„Wirklich nicht?“, fragte Klara.
„Wirklich nicht.“

„Naja, du hast ihr jedenfalls einen wunderschönen Tag bereitet, denn sie hat richtig gute Laune. Wir können das andere nicht ändern. Wir können es nur so akzeptieren, wie es ist. Und ihr wenigstens ein paar schöne Stunden bereiten“, sagte Klara zu Lukas.

„Das stimmt“, seufzte der. Es fiel ihm schwer, den geistigen Verfall von Anna zu begreifen, seiner Mutter, die sich veränderte, allmählich, unaufhaltsam.

ANNA IST DEMENT (33)

UND WIEDER DIE BLÖDE SPRITZENKISTE

Samstag, 22.00 Uhr. Das Handy klingelte.
Lukas hatte Freunde eingeladen. Er hatte den Grill angeschmissen, es lief leise Musik und die Gäste unterhielten sich angeregt. Die Stimmung war gut, das Wetter auch. Der Abend konnte nur noch besser werden.

Bis dahin jedenfalls.
„Ja bitte“, sagte Lukas. Er hatte nicht auf sein Display geschaut und vermutete, dass es Urlauber waren, die Fragen zu ihrer Ferienwohnung hatten.

„Ja, ich bin’s“, sagte eine leise Stimme.
Lukas erkannte sofort seine Mutter und merkte, dass es etwas nicht in Ordnung war, wieder mal.

„Weißt du, kannst du mir nicht mal die Kiste mit den Spritzen öffnen?“, fragte Anna ihn.

„Warum soll ich die Kiste öffnen, Mutti?“, fragte Lukas sie.
„Na, ich muss mich doch morgen früh spritzen“, antwortete Anna, nun schon mit einem lauteren, fast bösen Unterton.

Lukas hatte die Kiste im Baumarkt selbst gekauft, sie noch weiter verstärkt und ein dickes Schloss davor gehängt. Anna verstand nicht, dass die Schwestern vom Pflegedienst jeden Tag dreimal bei ihr vorbeikamen und sie spritzten. Sie vergaß es einfach.

„Mutti, das macht doch der Pflegedienst. Der kommt morgen gegen 07.30 Uhr“, sagte jetzt Lukas.
„Welcher Pflegedienst? Hier ist noch nie einer gekommen“, antwortete Anna störrisch.

Schließlich gelang es Lukas, seine Mutter davon zu überzeugen, die Finger von der Kiste zu lassen und auf die Schwestern am nächsten Tag zu warten.

Er hatte das Telefonat mit Anna beendet. Es war ja alles gut gegangen. Aber Lukas kochte innerlich.

Er konnte sich nicht damit abfinden, dass seine Mutter geistig so verfiel. Von Tag zu Tag mehr.

Der Abend war für ihn gelaufen.
„Du weißt doch, wie deine Mutter ist und wie du darauf reagieren musst“, versuchten ihn seine Freunde nun ihn aufzumuntern.

Ja, er wusste alles. Dass er sich nicht innerlich aufregen sollte, keine Eskalationen zulassen durfte. Er wusste es von Klara, von den Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes.

Es war alles klar. Nur eine Sache konnte ihm keiner erklären: Wie er eine innere Distanz hinbekam zu seiner Mutter. Er konnte es nicht und er wollte es nicht. Der Abend war irgendwie gelaufen.

ANNA IST DEMENT (33)

STIPPVISITE BEI ANNA
Klara besucht Anna. Die weiß davon im Vorfeld nichts, weil es sie zu sehr aufregen würde.

Klara sitzt im Zug von Stralsund nach Berlin. Es ist Sonntag und sie kehrt zurück von einem Besuch bei Anna. Sie war drei Tage bei ihr, um sie aufzumuntern, die Küche zu streichen und die Wohnung aufzuräumen.

Klara taucht immer wieder ein Stück in ihre Vergangenheit ein, wenn sie in Stralsund. Sie ist hier aufgewachsen, hat den Beruf einer Bürokauffrau erlernt, war viele Jahre dort sehr glücklich.
Das alles ist lange her. Es hat sich viel geändert. Und Anna, ihre Mutter, hat sich geändert.

Früher, da freute sich Anna, wenn Klara sie besuchte. Anna kochte dann, bezog die Betten neu, brachte die Wohnung auf Hochglanz.
Jetzt war es anders.

Klara hatte ihrer Mutter gar nicht gesagt, dass sie kommen wollte. Anna konnte diese Aufregung nicht mehr vertragen, auch wenn das ja etwas Positives war.

Also klingelte Klara an der Tür, der Summer ertönte und sie ging die Treppen hinauf.
„Das gibt’s doch nicht“, rief Anna erstaunt aus, als Klara vor ihrer Tür stand.
„Wo kommst du denn jetzt her?“, fragte Anna.
„Direkt aus Berlin“, sagte Klara kurz angebunden, obwohl es gar nicht stimmte.

Peter hatte Klara morgens nach Bernau gefahren, wo sie den Zug um 4.41 Uhr nach Stralsund nahm.

Aber für Anna war das zu kompliziert. Für sie war das alles Berlin. Dort arbeitete Klara, Laura auch und Peter, ja der war auch aus Berlin, für Anna jedenfalls.

„Was wollen wir jetzt machen?“, fragte Anna.
„Am besten, du lässt mich erst einmal zur Tür rein“, sagte Klara, nachdem sie sich auf dem Hausflur die Schuhe ausgezogen hatte.

ANNA IST DEMENT (32)

WARUM KURZGESCHICHTEN?

Wenn Herausforderungen und Konflikte in der Pflege nur abstrakt beschrieben werden, erreichen sie die Menschen nicht. Leser wollen sich mit konkreten handelnden Figuren identifizieren können. 

 Ich habe mir schon oft den Kopf darüber zerbrochen, warum ich mir überhaupt die Mühe mache und mich mit einem Bein in die Gefilde des belletristischen Schreibens begebe. Eine schwierige Frage und eine einfache Antwort darauf gibt es wohl nicht.

Es sind vor allem Erkenntnisse und Erfahrungen, die ich im Verlaufe meiner freiberuflichen journalistischen Arbeit gesammelt habe, die mich überhaupt zu diesen Gedanken veranlassen.

Was meine ich?

Es ist ein Unterschied, ob du irgendeinen Vorgang in der Pflege lediglich beschreibst, oder aber, ob du versuchst, es so zu schreiben, wie es die konkreten Menschen erleben und manchmal auch darunter leiden.

Ein Beispiel: „Die Kommunikation mit Demenzkranken erfordert ein hohes fachliches Können, sensibles Herantasten im Gespräch, Verständnis und Herzenswärme.“

Was ist daran falsch, was ich gerade geschrieben habe? Vermutlich gar nichts.

Aber ich denke, der Leser überfliegt es, nimmt es zur Kenntnis und vergisst es wieder.

Wie aber ist es mit diesen Sätzen?

„Anna war am Morgen aufgestanden und fühlte sich nicht gut. Was war anders? Sie sollte zum Friseur. Aber wann? Sie wusste es nicht mehr.

Klara hatte es einen Abend zuvor mehrfach gesagt und Anna hatte noch mehr nachgefragt.

Anna griff zum Telefon und rief Klara an.

„Ich will nicht zum Friseur. Ihre Stimme klang aggressiv. Klara überlegte, was sie und wie sie antworten sollte.“

Du tauchst anders in die Situation ein. Du erfasst genauer, um was es hier geht, wie schwierig die einfachsten Dinge des Lebens in der Betreuung eines Demenzkranken konkret im Alltag aussehen.

Die Botschaft des Geschriebenen wird deutlicher, wenn die Hauptfigur ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Und nicht nur zum Gegenstand abstrakter Betrachtung wird.

Wie aber so etwas konkret umsetzen?

Indem ich reale Menschen charakterisiere oder aber eine Figur fiktional erschaffe?

Wie auch immer die konkrete handwerkliche Technik des Schreibens aussieht, ich will es schaffen, dass das Geschehen und die betroffene Figur konkrete Gestalt vor dem inneren Auge meines Lesers annimmt.

Das ist mein Anspruch, ein Experiment eben, das nicht immer gelingt. Aber der Versuch ist es allemal wert.

 

DRITTER ANLAUF BEIM FRISEUR

„Gut, dass ich den Termin gemacht habe“, sagte Anna zu Lukas, als dieser sie wieder vom Friseur abholte.

Anna saß noch auf dem Friseurstuhl, auf dem Tisch vor ihr stand ein halbvolles Glas Sekt. Sie lachte und erzählte mit der Friseuse. Lukas verschlug es die Sprache.

Er musste gerade daran denken, wie viel Mühe es ihn gekostet hatte, Anna bis hierher zu bringen.
Zwei Stunden vorher: Lukas hatte Anna endlich soweit, dass sie loskonnten, um noch rechtzeitig beim Friseur zu sein. „Wo ist jetzt mein Briefkastenschlüssel?“, fragte Anna und wühlte in ihrer Tasche umher.

„Mutti, das kannst du doch machen, wenn wir vom Friseur zurückkommen. Ich möchte nicht zu spät kommen. Wir haben doch schon zweimal den Termin absagen müssen“, drängte Lukas sie.
„Absagen? Wieso absagen? Ich habe nichts abgesagt“, sagte Anna und schaute Lukas grimmig an.

„Mutti, ich habe einmal den Termin vereinbart, dann haben wir ihn wieder storniert, weil du nicht wolltest. Danach hat es Klara noch einmal versucht. Und wieder wolltest du nicht.“
„Ich? Das kann überhaupt nicht sein! Und wieso machen überhaupt die Berliner Termine beim Friseur für mich? Was soll das!“
„Mutti, wir meinen es doch nur gut.“

„Wo ist denn jetzt mein Schlüssel?“ Anna kramte weiter in der Tasche. Endlich hatte sie ihn gefunden und steckte ihn in das Briefkastenschloss und versuchte ihn umzudrehen. Er ließ sich aber nicht drehen.

„Was ist das hier alles? Ich werd‘ noch verrückt“, schnaubte Anna.
„Mutti, kann ich mal?“, fragte Lukas vorsichtig.
Es war geschafft, die Briefkastentür ging auf und als erstes fielen Lukas die Werbebriefe entgegen.

„Die schmeiße ich gleich weg“, sagte Lukas.
„Nein, wie kannst du so was machen! Ich will die lesen. Die schreiben mir.“
„Ja, Mutti, weil sie dein Bestes wollen, dein Geld. Deshalb haben sie dich so lieb.“

Anna schaute Lukas an, als würde der gerade von der Berechnung der optimalen Mondlandung sprechen. Als sie im Auto saßen und Anna schließlich angeschnallt war, konnte Lukas das Auto starten.

Anna schaute verdrossen aus dem Fenster. Ihre Stirn war gerunzelt und ihr Mund verzog sich zu einer Grimasse. Dazu stöhnte sie unentwegt.

„Mutti, jetzt freu dich doch ein bisschen. Schau mal, ich habe extra den Weg am Hafen vorbei genommen, damit du ein wenig auf das Wasser schauen kannst“, versuchte Lukas sie aufzuheitern.
Anna aber reagierte nicht.

„Hier lag das Boot von Onkel Gottfried“, sagte sie plötzlich.
Anna schien sich zu erinnern, ihr Gesicht hellte sich auf und sie schien in Gedanken von ihren schönen Kindheitsjahren eingenommen zu sein.

„Wir sind da“, riss Lukas sie aus ihren Erinnerungen.
„Weißt du, ich will gar nicht aussteigen“, sagte Anna jetzt.
„Mutti, du gehst jetzt da rein“, sagte Lukas mit letzter Verzweiflung zu ihr.

„Rede nicht in dem Ton mit mir“, sagte Anna zu ihm.
Lukas schwieg und Anna stieg aus.
„Schön, dass Sie kommen konnten“, begrüßte die Inhaberin des Friseurladens Anna.

„Ja, ich habe mir die Zeit genommen“, sagte Anna.
Lukas schaute betreten auf den Fußboden. Es sah aus, als versuchte er die dort herumliegenden Haare zu zählen, die noch nicht weggefegt worden waren.

„Möchten Sie ein Glas Sekt, Frau Sturm“, fragte die Inhaberin Anna.
„Ach ja, ein Glas kann man ja mal trinken.“

Die Inhaberin zwinkerte Lukas zu und der zog sich leise zurück.
„Wissen Sie, ich war ja früher viel auf dem Hof von meinem Onkel Taube. Er war Fischer“, sagte Anna zu der Friseuse, während die sich um die Haare von Anna kümmerte.

„Taube? Gottfried Taube“, fragte die Friseuse.
„Ja“, sagte Anna.

„Den kenn ich auch“, sagte die Friseuse zu Anna.
„Sagen Sie bloß!“, staunte Anna.
„Ja, mein Großvater hat mir ab und zu von ihm erzählt. Damals, als der selbst noch ein Fischer war.“

Lukas traute sich nicht Anna zu sagen, dass sie wieder loswollten.
Annas Wangen waren rot, sie saß aufrecht im Sessel und es schien, als wäre sie glücklich. Für den Augenblick wenigstens.

ANNA IST DEMENT (31)

ANNA WILL NICHT ZUM FRISEUR

Anna will nicht den Friseurtermin wahrnehmen, zum zweiten Mal nicht.

Anna lag auf der Couch und hielt eine Banane in der Hand, die sie ab und zu zum Mund führte, um ein Stück davon lustlos abzubeißen. Ihr Gesicht schien ausdruckslos und als Lukas das Zimmer betrat, verharrte sie in ihrem nahezu regungslosen Zustand.

„Mutti, wir haben doch gleich einen Friseurtermin und du hast dich immer noch nicht umgezogen.“

Annas Gesicht verdunkelte sich noch mehr. Ihre Gemütsregungen waren am Vormittag ganz besonders überschattet von ihrer Krankheit.

Sie hatte Angst, rauszugehen, auf andere Menschen zu treffen, sich in neue Situationen hineinzufinden.

Die Demenz hatte sie mürrisch, ja aggressiv gemacht. Erst zum Mittag hin, wenn die Krankenschwester zum Spritzen kam, wurde sie munterer.

Lukas ließ sich in einen der Sessel fallen und schwieg. Es war kurz vor zwölf und die Schwester musste jeden Augenblick an der Tür klingeln.

„Ach Schwester schön, dass Sie kommen und mir helfen, ich hab‘ ja sonst keinen“, sagte Anna bereits an der Tür zu ihr.
„Aber Sie haben doch Ihren Sohn.“
„Ach, der muss doch nur arbeiten.“

Anna schaute missmutig zu Lukas herüber. Lukas trafen diese Worte mitten ins Herz. Er wusste, seine Mutter war dement und man konnte nichts mehr von dem, was sie sagte, auf die Goldwaage legen. Aber es schmerzte ihn, trotz alledem.

„Was willst du eigentlich hier?“, fragte Anna ihn nun.
„Mutti, will nicht schon wieder bei der Friseuse den Termin absagen müssen, nur weil du keine Lust hast.“

„Ich will nicht und ich will mich dafür nicht entschuldigen“, sagte sie mit der Bockigkeit eines kleinen Kindes in der Stimme.

„Dann können wir dir nicht mehr helfen und wir müssen überlegen, ob wir dich für ein Heim anmelden.“

Anna saß eine Weile still und sagte plötzlich: „Meine Strähnen sind grau. Die müssen gefärbt werden. Kannst du mir mal den Mantel geben?“

Lukas schnellte aus dem Sessel hoch und holte aus der Flurgarderobe den Mantel seiner Mutter.

Er hatte ein schlechtes Gewissen. Schon wieder hatte er ihr mit dem Heim gedroht, aber was sollte er tun?

„Kommst du nun endlich?“, fragte Anna ihn und schwenkte ungeduldig den Haustürschlüssel.

ANNA IST DEMENT (30)

DIE BREMER KOMMEN

Fortsetzung

„Wer war denn dran, am Telefon?“, setzte Peter erneut an.
„Ach weißt du, das waren nur die Bremer. Sie wollen mich gleich besuchen.“

„Und freust du dich?“, hakte Peter nach.
„Nö“, sagte Anna wieder leicht gereizt. Anna erzählte Klara abends davon, wie sehr sie unter dem Alleinsein litt. Und nun kam jemand. Das war ihr auch nicht recht.

Doch das waren die Gedanken eines gesunden Menschen. Anna fühlte sich einsam, konnte aber auch nicht mehr damit umgehen, dass ihre Tagesstruktur durchbrochen wurde – essen, spritzen, essen, schlafen, spritzen, fernsehen, telefonieren. Das klingt gleichförmig. War es auch. Aber für Anna war jeder Teil für sich eine Herausforderung.

„Hast du denn schon ein zweites Frühstück gemacht?“ Peter musste das unbedingt fragen. Deshalb rief er überhaupt an, denn er teilte das anschließend Klara mit. Es ging um die Zuckerwerte von Anna, die stabil gehalten werden sollten. Waren irgendwelche Auffälligkeiten, dann informierte Klara anschließend Lukas und der machte sich auf den Weg zu Anna.

Das Netz der Betreuung war dicht geflochten und es wurde zunehmend enger.
„Ja, hab‘ ich.“
„Was hast du denn gegessen?“
„Weiß ich nicht mehr.“
Peter schwieg, machte eine Pause. Das war manchmal besser, für beide Seiten.
„Was gibt es denn zu Mittag bei dir?“, fragte er jetzt.
„Weiß ich nicht, muss ich gucken.“ Aus Anna war nichts herauszubekommen.
„Und weißt du denn, wie lange die Bremer bleiben?“
„Das ist mir scheißegal! Das interessiert mich überhaupt nicht.“

Anna mochte die Bremer, sie hatte sich immer für sie interessiert. Aber nun war es scheißegal. Was treibt einen Menschen an, wenn ihm alles egal ist? Das fragte sich Peter.

Es war wieder die falsche Frage, auch wenn er sie sich nur im Stillen gestellt hatte. Ihm war es nicht egal, und er war gesund, geistig, noch jedenfalls. Anna hatte mit ihrer Demenz zu kämpfen.

Peter musste sich beim nächsten Mal wieder an Annas Gemütsbewegungen gewöhnen und sie mit einer kleinen Geschichte von Krümel aufheitern. Dann lachte Anna, meistens.

ANNA IST DEMENT (29)

DIE BREMER KOMMEN

Anna hat schon wieder das Telefonat mit den Bremern vergessenen, obwohl sie gerade erst mit ihnen gesprochen hat.

Das Telefon war besetzt. Peter versuchte es nach fünf Minuten noch einmal. Jetzt hatte er sich gerade durchgerungen und nun ging Anna nicht ran, weil sie wahrscheinlich selber telefonierte.

Vielleicht rief sie ja wieder seine Eltern im Dresdner Pflegeheim an. Das hat sie Jahrzehnte nicht getan, doch nun tat sie es und verneinte das vehement, wenn Klara sie danach fragte.

Peter wusste es von Klara und die wiederum von Peters Vater. Er sprach mit ihm kaum. Das übernahm Klara. Sie war diplomatischer und keiner musste nach einem belanglos beginnenden Telefonat den diplomatischen Abbruch fürchten.

Aber das mit Peters Eltern, das war eine Story für sich. Bei Anna lagen die Dinge anders. Peter hatte Klara versprochen, sich täglich am Vormittag für ein paar Minuten um Anna zu kümmern.

Die Gespräche verliefen ziemlich gleich und wiederholten sich, manchmal Wort für Wort.

Zum Beispiel, dass die gegenüberliegende Häuserwand so scheußlich feucht aussah. Heute nun lief das Telefonat nicht in seinen gewohnten Bahnen. Als Peter sie zum zweiten Mal anrief, da ging Anna ran.

„Hast du gerade telefoniert?“, fragte Peter.
„Nein. Wie kommst du darauf?“

Peter musste schlucken, weil es ihm schwerfiel, einfach zu glauben, dass Anna nicht mehr wusste, dass sie gerade mit jemanden gesprochen hatte.

„Ich komme darauf, weil dein Telefon besetzt war. Also musst du zwangsläufig mit jemandem kommuniziert haben.“

„Was hab‘ ich gemacht?“ Annas Stimme klang leicht gereizt.
Das war immer so, wenn sie etwas nicht verstand. Dann war natürlich der andere daran schuld.

In diesem Fall Peter. Er gab Anna im Stillen Recht. Musste er dieses hochtrabende Wort ‚kommunizieren‘ nehmen?

Bei jeder Autorenschulung würde man dafür sofort eins auf den Deckel bekommen, weil es ja schlichter formuliert werden könnte, so wie ‚sprechen‘, ‚mit jemandem unterhalten‘, ‚mit jemanden telefonieren.“

Warum also gerade kommunizieren? Peter wusste es nicht. Gerade er, der ein Gegner von schwülstigen Ausdrücken war, die oft intellektuelles Getue zum Ausdruck brachten und in Wirklichkeit Worthülsen waren, mit denen man den anderen beeindrucken wollte. Das ging im Gespräch mit Demenzkranken nun schon gar nicht.

ANNA IST DEMENT (28)

ANNAS SCHLEICHENDE

WESENSÄNDERUNG

Annas Wesen ändert sich nicht merklich, eher unmerklich, aber dafür stetig.

Es fängt mit Kleinigkeiten an, so war es auch bei Anna. Mal hat sie etwas vergessen, dann wieder fühlte sie sich einsam.
„Wir müssen uns damit abfinden, dass Anna nie wieder so wird, wie sie all die Jahre war.“

„Dir fällt es leichter, das zu sagen als mir, denn ich bin die Tochter“, entgegnet Klara Peters Überlegungen. Peter sagte nichts. Er wusste, dass Klara hier richtig lag. Doch was nützte es, man musste sich ja trotzdem der neuen Situation stellen.

„Ich glaube, wir helfen Anna mehr, wenn wir uns auf sie noch besser einstellen, einfach akzeptieren, was sie tut, was sie sagt und auch wie sie es sagt.“

Peter wusste, dass es vor allem theoretische Gedanken waren, die sicherlich ihre Berechtigung hatten. Doch wie war es im Alltag?
Gestern rief Peter an. Anna war seelisch am Boden. Sie hatte einen Arzttermin verpasst. Besser gesagt, sie hatte ihn auf der Couch verschlafen.

„Ich werde mal Lukas informieren, damit er sich darum kümmert, und wir einen neuen Termin bekommen“, meinte Peter zu Anna.
„Nein, das möchte ich nicht. Ich kläre das allein.“

Peter wollte ihr sagen, dass Lukas sich stets um alles kümmerte.
Er ging mit Anna einkaufen, er begleitete sie zum Zahnarzt, besuchte sie täglich in ihrer Wohnung, schaute nach dem Rechten.

Warum also reagierte sie so schroff? Schämte Anna sich, dass sie den Termin versäumt hatte?
Peter griff kurzerhand zum Hörer und wählte die Telefonnummer der Arztpraxis.

„Ich kann gar nicht glauben, dass meine Schwiegermutter gestern einen Termin bei Ihnen hatte“, sagte Peter zur Helferin.

„Doch, sie hatte gestern einen Termin.“
„Donnerwetter“, entfuhr es Peter.

Die Helferin musste lachen. Sie waren sich schnell einig und hatten einen neuen Termin vereinbart.
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„Trag‘ dir doch den Termin gleich ein“, sagte Peter später zu Anna am Telefon.
„Das mach‘ ich sofort“.  Anna wirkte jetzt gelöst.

Am Nachmittag ging Lukas mit Anna auf den Friedhof. Blumen am Grab von Wilhelm niederlegen, Annas Mann.

Wilhelm war nun schon 19 Jahre nicht mehr da. Doch er fehlte Anna sehr. Anna wollte erst gar nicht Blumen kaufen, kein Geld ausgeben.
Das war neu. Lukas übernahm das und kaufte die Blumen.

„Seid ihr denn heute am Grab von Wilhelm gewesen?“, fragte Peter sie abends.

„Ja, ich war da, und ich habe Blumen besorgt und sie zu seinem Geburtstag hingelegt“, sagte Anna.
„Na wunderbar“, antwortete Peter.

ANNA IST DEMENT (27)

DER TÄGLICHE ANRUF BEI ANNA

Die tägliche Kommunikation mit Anna wird schwieriger. 

Der Anruf bei Anna ist eine Sache wie du eben jeden Tag deine anderen Aufgaben in der to-do-Liste abarbeitest.

Das denke ich, doch es ist die pure Theorie. Die Wirklichkeit, die sieht anders aus, und zwar jeden Tag anders.

Gegen 10.00 Uhr schrecke ich hoch, weil ich das Erinnerungstool am iPad mal wieder aktiviert habe und mich doch über die Störung ärgere, wenn es dann tatsächlich soweit ist.

Ich greife zum Telefon und stehe vom Schreibtisch auf, um ein wenig umherzugehen. Es dauert eine Weile, bis Anna den Hörer abnimmt.

„Wie ist das Wetter bei dir?“, frage ich sie zu Beginn. Ich frage das stets zuerst. Nicht das mich das wirklich interessieren würde, da bin ich ganz ehrlich.

Nein, wirklich nicht. Ich könnte den Tag glatt ohne diese Information verbringen. Aber es geht ja nicht um mich. Es geht um Anna. Und die lässt sich Zeit mit der Antwort.

„Weißt du, es ist windig draußen?“, sagt sie nach einer Weile schleppend.

„Warst du denn auf dem Balkon?“, frage ich.
„Nein. Warum?“

„Nun, um den Wind zu spüren.“
„Ach, ich geh‘ doch jetzt nicht auf den Balkon!“

Anna wirkt gereizt, unausgeglichen, störrisch. Ich bleibe ruhig. Ich habe schon ein wenig gelernt. Nicht viel vielleicht, aber ein bisschen jedenfalls.


„Wir dürfen Anna ihre eigene Wesensänderung nicht zum Vorwurf machen“, sage ich zu Klara noch heute Morgen im Auto.

Das ist ein toller Satz, finde ich. Den musst du doch erst mal so formulieren.

Aber ich kann mich nur selbst loben. Ein anderer wird das nicht tun. Klara auf keinen Fall.

Sie antwortet gar nicht. Ich weiß auch warum. Sie denkt: „Na hoffentlich hält der sich selbst daran.“ Ja, das tue, in aller Regel.

Also frage ich Anna weiter: „Hast du denn schon ein zweites Frühstück gemacht?“

„Ne.“
„Willst du es noch machen?“
„Ja, aber nur ein kleines Brötchen. Sonst habe ich mittags keinen Hunger.“

„Ja, das verstehe ich“, sage ich sofort.
„Machst du dir denn auch was zu essen?“, fragt Anna mich.
„Nein, ich werde sonst müde. Und ich muss doch danach weiterschreiben.“


„Das kenne ich nicht.“ Na das glaube ich dir aufs Wort, denke ich. Sage es aber nicht.
„Weißt du, wenn ich etwas Warmes zu mir nehme, dann habe ich danach die Stunde der ‚toten Augen‘“, entgegne ich stattdessen.
„Stunde der ‚toten Augen‘, was ist denn das für ein Quatsch?“

Ich merke, wie langsam meine Schilddrüse anfängt zu pumpen.
Wie gerne würde ich darauf eine knackige Antwort geben, ganz in der mir eigenen Art.

Aber das darf ich nicht. Ich habe es Klara versprochen. Sie freut sich, wenn ich Anna anrufe, aber nur dann, wenn ich mich an die Spielregeln halte. Und das heißt, Anna ist dement, und wir sind diejenigen, die sich darauf einstellen müssen, nicht umgekehrt.

KOTELLET – DAS IST JA WOHL DAS LETZTE (2)

ANNA-2018.11.18

Was sollte Peter jetzt antworten? Und vor allem: Wie sollte er reagieren? Barsch? Brutal, laut?

Oder eher ruhig, besonnen, vielleicht sogar sanftmütig? Jetzt konnte er Anna ja endlich mal sagen, wie es ihm auf die Nerven ging, wenn sie sich für nichts interessierte – als für die Blumen auf ihrem Balkon.

Sonst war Klara meist dabei, wenn Peter sich anschickte, den rhetorisch Schwächeren in die Zange zu nehmen.

Sie hatte deshalb ein Herz für die, die nicht so redegewandt wie Peter reagieren konnten. Sie half darum nicht Peter, sondern denen, die mit Peter einen Disput begannen, die ihn oft überhaupt erst provozierten.

Sie kannte Peter. Sie wusste, dass der sich zwar schon seine Antwort zurechtgelegt hatte, dass seine rhetorischen Truppen längst zum Angriff bereit waren.

Doch sie wusste eben auch, dass er sich zunächst zurückhielt, zum Schein zurückzog. Er senkte in solchen Momenten seine Stimme, ’stopfte sich Kreide in den Mund‘, damit der Feind eingeschläfert wurde.

Er lullte quasi sein Gegenüber ein, damit der noch leichtfertiger wurde und nicht darüber nachdachte, was er noch so alles sagte, was noch an leichtfertigen Gedanken über dessen Lippen kamen.

Der Zeitpunkt für den Gegenangriff war aber nun gekommen.

Peter hielt den Hörer in der Hand, am anderen Ende faselte Anna etwas von ‚so einsam‘ und er versank in einen Traum, in eine unwirklich anmutende Geschichte.

Einer Geschichte, die sich vor Jahrhunderten hätte so abspielen können.

Geben wir Peter in dieser unwirklichen Geschichte den Zusatz ‚Peter, der Entschlossene‘. Dieser war hoch oben auf seinem Pferd vor der Schlachtordnung.

Hinter ihm seine Getreuen, auf die er sich verlassen konnte. Seine Generäle, seine Soldaten. Und dann war da noch seine Frau, die mit ritt in die Schlacht. Sie saß auf einem Pferd, abseits von Peter. Nennen wir sie einfach ‚Sieglinde‘.

Und plötzlich passierte das Unfassbare. Sieglinde löste sich mit ihrem Pferd aus der Schlachtordnung und ritt in Richtung des Gegenübers, des Feindes. Deren Anführer soll der ‚Eiserne Gustav‘ heißen.

Sieglinde ritt also auf den Eisernen Gustav zu und winkte ihm fröhlich entgegen, mit einem Tuch, das sie auch noch selbst bestickt hatte. Der gegnerische Feldherr argwöhnte: „Was wollte Sieglinde, die Angetraute von Peter, dem Entschlossenen?“

Doch den Eisernen Gustav überkam die Neugier. Er übergab das Kommando seiner Truppen an seinen Marschall und ritt Sieglinde entgegen.

„Was willst du? Wir werden euch zermalmen, mit unseren mächtigen Reiterscharen!“, brüllte er schon von weitem.

„Gewiss doch, lieber Eiserne Gustav.“
„Aber ihr müsst euch nicht auf dem Schlachtfeld fetzen, du und mein Peter.“

„Warum nicht?“ Eiserner Gustav war verwirrt.
„Weißt du, mein Mann, der meint das nicht so. Im Gegenteil. Der mag dich sogar. Ein bisschen jedenfalls.“

Sieglinde fährt fortzureden, während ihr der Eiserne Gustav zuhört.
„Peter weiß, dass du der Klügere und der Stärkere bist. Kehrt einfach nach Hause zurück, zu euren Weibern und Kindern und besauft euch nach Herzenslust.“

Eiserner Gustav schaute verdutzt. Dann drehte er sich um und rief seinen Generälen entgegen: „Wir greifen nicht an. Wir drehen um.

Wir haben schon gesiegt. Sieglinde hat gesagt, Peter, der Entschlossene hat sich in die Hosen gepullert und ist indisponiert.“

Die Truppen vom Eisernen Gustav und seine Pferde wieherten vor Lachen und stoben auseinander, trotteten nach Hause.

Peter, der Entschlossene schäumte vor Wut, als Sieglinde zurückkam.

„Was erlaubst du dir, Weib?“

„Ärgere dich doch nicht Peter. Ich habe Gustav gesagt, dass du ihn zermalmen wirst, und dass nichts übrigbleibt von ihm und seinem Volk.

Da hat er es mit der Angst gekriegt und ist lieber geflohen. Wir haben jetzt kein Blut vergossen, unsere Kräfte geschont und können weiter unsere Ziele verfolgen.“

„Welche Ziele?“, fragte Peter, der jetzt Schwankende.
„Na, die Ernte einbringen, Geld verdienen.“
„Und dann?“

„Dann gut leben, Gustav in seinem Glauben belassen, er sei in Wahrheit der Stärkere und mit gutem Sold mehr Soldaten anlocken, damit wir für den Fall der Fälle gut gerüstet sind.“

„Wir sollten überlegen, ob Sieglinde nicht mehr zu sagen bekommt, in unserem Kriegsrat“, flüsterte Peter seinem treuesten General zu.“

„Noch mehr, mein König“, erwiderte der, „sie beherrscht doch faktisch schon immer unser Reich.“

Peter wachte auf aus seinem Traum.
„Bist du noch da?“, fragte ihn Anna.

„Ja, ja. Ich bin noch da. Weißt du, Anna, du hast Recht. Was für ein Quatsch mit dem Kotelett! Aber sag‘ mal, wie ist eigentlich das Wetter bei euch?“

„Und, wie war es heute mit Anna am Telefon?“, fragte abends Klara.
„Du wunderbar, ich hatte alles im Griff. Du weißt ja, sie erzählt manchmal schon wirres Zeug. Und ihr Charakter verändert sich auch durch die Demenz.“

„Gott sei Dank, dass du da nicht mit der Faust draufhaust und unnötiges Porzellan zerschlägst“, erwiderte Klara

„Das traust du mir zu?“, fragte Peter.
Klara seufzte nur und Peter ging in sein Zimmer, zufrieden mit dem, wie das Telefonat mit Anna gelaufen war.

„Morgen, da werde ich Anna sagen, dass es zum zweiten Frühstück auf See immer Steaks gab, mit Bratkartoffeln. Ja, das war gut“, dachte Peter.

Er konnte nicht aus seiner Haut. Jedenfalls nicht ganz. Aber er konnte ja noch eine Nacht drüber schlafen. Morgen, da würde das Spiel von vorn beginnen.

„Du, wir können Anna gar nichts mehr vorwerfen. Wir sind die Klügeren“, sagte Peter beim Zähneputzen zu Klara.

Klara schwieg. Sie traute ihm intellektuell so einiges zu. Nur seiner Rauflust, der traute sie nicht.

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KOTELLETT – DAS IST JA WOHL DAS LETZTE (1)

ANNA-2018.11.17

Peter schlug Anna vor, sich zum zweiten Frühstück ein Kotelett zuzubereiten und erntete Unverständnis.

Peter rief bei Anna an. Wie jeden Tag. Schließlich hatte er es Klara versprochen, kurz bei Anna durchzuklingeln, zu hören, wie sie drauf war und ob sie etwas zum zweiten Frühstück aß. Sie vergaß es in letzter Zeit immer häufiger.

Dabei war er im Stress und musste sich regelgerecht von den anderen Sachen losreißen.

Er hatte diesmal besonders viel zu tun. Da musste er noch die Fakten zur Ukraine recherchieren, für den geschichtlichen Hintergrund zum Interview mit der Prima Ballerina und er wollte unbedingt wieder Ordnung in seine Pressemitteilungen bringen.

„Wann willst du endlich wieder anfangen, Geld zu verdienen?“, hatte Klara ihn erst kürzlich gefragt.

„Lass doch, dann haben wir weniger Umsatzsteuer zu zahlen“, meinte Peter.

„Und weniger im Portemonnaie“, sagte Klara.

„Du kannst es nicht lassen, mir damit auf die Nerven zu gehen“, antwortete Peter. Er ärgerte sich über Klara und über sich selbst.

Durch seine Krankheit war einiges liegengeblieben.

Aber als erstes arbeitete er nicht etwa das auf, was Geld brachte, sondern das, was ihm Spaß machte. Klara wusste das. Und Peter wusste es auch.

„Jetzt bin ich schon Rentner und ackere mehr als früher“, sagte Peter.

„Du hast gesagt, dass du im Monat locker ein paar Hundert Euro zusätzlich reinbringst.“

„Locker? Das soll ich gesagt haben?“

„Das hast du gesagt und deine gönnerhafte Handbewegung gemacht“, erwiderte Klara.

„Ach, lass mich doch zufrieden. Wenn ich mich einen Tag ans Telefon schwinge, dann wirst du schon sehen.“

„Ja, wenn. Aber ich sehe überhaupt nicht, dass du irgendwelche Anstalten machst.“

Klara gab sich kämpferisch und ließ nicht locker: „Du schreibst nur über das, was dir Spaß macht.“

Peter antwortete nicht mehr.
Und nun saß er am Schreibtisch, hatte ein Haufen to-do-Listen geschrieben und geplant, wann er welchen Kunden mit welchem Ziel erreichen wollte.

Peter hätte auch einfach den Telefonhörer aufnehmen können. Aber das passte nicht zu ihm. Er musste erst eine Struktur schaffen, planen, um ein gutes Gefühl zu haben.

„Schreibst du schon wieder Pläne?“, fragte ihn Klara in so einem Moment, wenn sie sah, wie Peter Papiere auf dem Schreibtisch hin- und herschob.

Peter kam gut voran. Er unterbrach seine Arbeit, um Anna anzurufen.

„Wie geht es dir?“, fragte Peter, nachdem sich Anna am Telefon gemeldet hatte.

Stille. Nach einer Weile: „Och, weißt du, es geht so.“

„Na, du bist wohl heute nicht so gut drauf?“, fragte Peter.

„Nö!“, sagte Anna.

„Was ist denn?“

„Ich bin so allein.“

„Ja, allein. Warum gehst du denn nicht mal raus, vor die Tür. Danach ist alles anders.“

„Keine Lust.“

Peter stutzte. Der Ton gefiel ihm nicht. Er ließ sich nichts anmerken.

„Hast du denn schon dein zweites Frühstück gehabt.“
„Mach‘ ich gleich.“
„Was gibt’s denn?“
„Was soll’s schon geben? Immer dasselbe.“

„Was ist dasselbe?“
„Na, ein halbes Brötchen. Isst du denn etwas Anderes?“
„Ich esse gar nichts. Ich muss arbeiten und habe nur mal eine kleine Pause eingeschoben, um mich zu erkundigen, wie es dir geht.“

Peter merkte, wie seine Schilddrüse anschlug. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er langsam sauer wurde.

„Aber, dass du mich danach fragst, was ich esse. Das versteh‘ ich nicht. Es gibt doch immer das gleiche.“

„Naja, du könntest doch ein gebratenes Kotelett zum 2. Frühstück essen. So wie im Hotel.“

Das sollte ein kleiner Scherz von Peter sein. Aber Anna kam immer weniger mit Humor klar, seitdem ihre Demenz langsam fortschritt. Überhaupt war sie viel übellauniger geworden.

„Das ist ja wohl das letzte, daß du so etwas fragst. Kotelett. Unmöglich ist das!“ Anna schnauzte Peter regelgerecht an.

„Bei allem Respekt Anna. Dein Ton gefällt mir nicht. Wir rufen dich an, weil wir uns um dich sorgen.“ Peter musste sich beherrschen. Er musste diese Situation einfach bewältigen.

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‚MUTTI‘ MUSS STAUBSAUGEN


ANNA-2018.11.02

WIE DIE KRANKHEIT DAS GESAMTE UMFELD DER FAMILIE VERÄNDERTE, SCHLEICHEND, FAST UNAUFFÄLLIG

Der Alltag ging weiter, aber irgendwie und irgendwo war Annas Demenz auch immer mit dabei.
Anna hatte ein verstaubtes Bild von der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Und sie liess sich davon nicht mehr abbringen. Jetzt, nach ihrer Krankheit, erst recht nicht mehr.

Es gab Routinen, eben täglich wiederkehrende Dinge. Die meisten davon sind unabdingbar, Peter mochte manche davon trotzdem nicht.

Er musste sich dazu eben zwingen. Dazu gehörte der Anruf bei Anna.

„Aber dir macht das doch so viel Spaß“, sagten einige seiner Freunde, die ihn kannten.

Anna war dement. Das wussten alle. Und alle wussten, dass sie Aufmunterung brauchte.

Klara kümmerte sich, fuhr hin zu Anna, organisierte Arzt- und Frisörbesuche. Lukas war täglich bei Anna und schaute, wie es ihr ging.

Diejenigen Menschen, die Peter kannten, in dem Fall den Schreiber, und die seine Familie kannten, die wussten natürlich genau, über wen er berichtete.

Aber er wollte eine gewisse Distanz halten. Zum einen aus Respekt. Und zum anderen, weil er das ja alles in kleinere Geschichten packte und das Recht hatte, etwas wegzulassen, zu überhöhen oder etwas hinzuzudichten.

Peter war schon nahe dran an der Wahrheit, wenn er darüber in seinen Texten schrieb. Klara war das oft genug zu nah. Inzwischen weiß sie aber, dass Peter stets mit Wertschätzung schrieb und aus einer Perspektive heraus, von der er faktisch die Figur beobachten konnte.

Das gab ihm die nötige Sicherheit, die Distanz zu halten, aber auch wieder nahe genug dran zu sein, um über etwas zu schreiben, was passiert war.

Die größte Herausforderung war, mit einem demenzkranken Menschen zu sprechen und ihm keinerlei Vorhaltungen zu machen. Das verstand nämlich Anna nicht, man verunsicherte sie dadurch nur.

Denn Veränderungspotenzial, das gab es bei Anna nicht mehr, nur noch in Richtung der Verschlechterung ihrer Krankheit.

Klara sagte dann meist zu Peter: „Aber du könntest dich verändern, und du tust es nicht, du stellst dich einfach blöd an, wenn du etwas machen sollst.“

Darin war Peter nun mal geübt.
Doch zurück zu Anna. Sie rief Peter eines Abends zweimal an und fragte ihn, ob es ihm gutgehe.

In Wirklichkeit wollte sie Klara sprechen, wen sonst, ihren Schwiegersohn? Ja, ja. Wenn die Sonne ‚mal im Westen aufging‘, dann vielleicht.

Aber sie hatte vergessen, dass Klara donnerstags erst gegen 18.00 Uhr Schluss hatte und dann noch von Kreuzberg hierher zurückmusste, zurück in den Wald, der zu der Zeit schon dunkel war.

Also könnte Peter sagen: „Anna, das haben wir doch vor einer halben Stunde besprochen.“ Und anschließend könnte er sich darüber bei Klara aufregen.

Früher hat er das getan: „Deine Mutter denkt, dass ich Zeit ohne Ende habe. Und wenn ich fünfmal erkläre, dass ich auch außerhalb meines geliebten Schreibtisches zu Terminen muss, Interviews absprechen, interessante Menschen treffen. Keiner schenkt mir das Geld.“

„Ich sauge jetzt gleich“, sagte Peter zu Anna am Telefon.

„Oh Gott, und das als Mann!“, erwiderte sie. Wie aus der Pistole geschossen. Ohne nachzudenken. Jetzt kam Peter sich nicht mehr vor, wie Ironman, sondern wie Weichmann.

Sollte er jetzt sagen, dass dies sein Veränderungspotenzial der letzten Jahre war?

„Weißt du Anna, das ist bei uns im Haus schwere körperliche Arbeit.
Du weißt doch, was es bedeutet, die Treppen immer hoch und runterzugehen.“

„Ich weiß“, sagte Anna.
„Wirklich?“ Peter hakte lieber nicht nach.

Dann erzählte sie ihm, dass in der Anbauwand die ganzen Bilder von ihnen standen, von Klara, Laura, Peter.

„Hast du gestern schon erwähnt, vorgestern auch. Jeden Tag erwähnst du das!“

Das könnte Peter erwidern. Tat er aber nicht. Er sprach über die Bilder, die Anna gemalt hatte und bei ihm im Arbeitszimmer hingen.

Das freute Anna und sie verabschiedeten sich.

Peter rief anschließend Klara an: „Deine Mutter sagt, saugen sei keine Arbeit für einen Mann!“

„Ich dachte, du bist schon fertig?“, sagte Klara enttäuscht. Sie war ein klein wenig wie unsere Kanzlerin – immer trocken, aufs Ergebnis aus.

Peter holte den Staubsauger raus, setze seine Lieblingsmütze mit der Aufschrift „Fischkopp“ auf und machte‘ ein ‚Selfi‘.

Gut, er musste noch ein wenig am iPhone herumdrücken, bis er wusste, wie es ging.

Schließlich hat er über WhatsApp an Klara das Foto mit Staubsauger und Mütze gepostet: „Mutti beim Saugen.“

„Schöner Mann“, schreibt sie zurück. „Find‘ ich ja auch“, antwortete Peter.

Ach, irgendwie mochte er Klara doch. Und Anna? Die würde er Morgen wieder anrufen, wie immer, na klar.

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DIE SCHLEICHENDE WESENSÄNDERUNG VON ANNA

ANNA-2017.10.01

Anna spürte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Die Menschen um sie herum merkten es auch. Keiner wusste so richtig damit umzugehen.

Anna war depressiv, weil sie hautnah an sich mitbekam, wie ihr die Krankheit zusetzte. Lukas spürte das zuerst, weil er vor Ort wohnte, in der Nähe von Anna, seiner Mutter.

Klara legte den Hörer auf.

„Worüber habt ihr eben gelacht?“, fragte Peter.

„Stell dir vor, Mutti sagt, dass dies erst der Anfang mit ihr ist und es noch schlimmer wird. Das war irgendwie trotzig und lustig zugleich.“

„Sie bekommt schon mit, dass mit ihr etwas nicht stimmt“, sagte Peter.

„Das ist irgendwie traurig. Ich glaube, dass sie deswegen zwischendurch depressiv wird, weil ihr die Situation klar wird, in der sie sich befindet.“

„Das stimmt.“ Klara verstummte und Peter auch.

Am meisten war Lukas betroffen. Ihn traf alles zuerst. Anna ging zu ihrem Sohn auf den Hof, jeden Tag.

Selbst wenn sie sagte, sie sei nicht dort gewesen, so war sie es doch. Lukas konnte schlecht mit alledem umgehen.

Er hatte selbst mit sich genug zu tun. Erst kürzlich war er im Krankenhaus. Er war knapp einem Herzinfarkt entgangen und trug jetzt zwei Stents in seiner Brust. Anna hatte das kaum zur Kenntnis genommen.

Klara, Peter und Lukas waren darüber geschockt gewesen. Aber Anna hatte sich verändert.

Und sie würde sich weiter verändern. Lukas konnte das schwer verarbeiten oder gar akzeptieren. Anna war seine Mutter.
Und sie blieb es.

Sie war trotzdem eine Andere als die, die er aus seiner Kindheit kannte. Die, die für Klara und ihn alles getan hatte, immer für die Kinder da war – am Faden Schmalzstullen vom Balkon aus dem vierten Stock herunterließ, wenn Klara und Lukas unten spielten.

Und jetzt ging sie durch Stralsund mit einem Gesicht, als wollten alle etwas Schlechtes von ihr.

„Deine Mutter bleibt die, die sie war. Und sie wird trotzdem eine andere werden. Die Krankheit verändert ihre Wesenszüge. Sie kann nichts dafür.

Wir müssen auf sie eingehen. Sie kann es nicht mehr.“
Das waren alles richtige Worte, die Peter da aussprach.

Aber sie verhallten, denn es schmerzte zu sehr, die eigene Mutter so zu sehen, zu erleben, als sei sie ein fremder Mensch und würde sich immer weiter von ihnen entfernen.

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DAS WIRD NOCH SCHLIMMER

2017.09.30-ANNA

Rückblick 2021 auf den Sommer vor dreieinhalb Jahren. Krümel ist noch nicht auf der Welt, aber alle in der Familie warten gespannt darauf, dass ein neuer Mensch auf die Welt kommt. Es war spannend und aufregend
In derselben Zeit verfiel Anna geistig immer mehr.
In wachen Momenten erkannte sie das selbst. Es war traurig, manches war komisch und manchmal konnte man gar nicht anders, als zu lachen.
Anna rief regelmäßig abends an. Doch die Telefonate waren nicht aufregend. Anna war nicht depressiv, sie sprach klar und man merkte nicht sofort, dass sie an Demenz erkrankt war.

Peter stand auf dem Parkplatz vor dem Discounter und überlegte, ob er die Telefonnummer von Anna wählen sollte.

Er saß im Auto und hatte Langeweile. Klara hatte ihn überredet, doch noch mal schnell beim Einkaufsmarkt vorbeizufahren.

Sie wollte dann gleich bei einem Discounter reinschauen. Dort konnte sie so schön wühlen und nach weiteren Stramplern und Babymützen suchen.

„Hoffentlich reißt du nicht das Dach ab und packst es bei deiner Kaufwut gleich mit ein.“

Klara reagierte darauf gar nicht. Sie war im Kaufrausch. Krümel war noch nicht auf der Welt. Aber sie nahm Stück für Stück einen größeren Platz im Denken ein, von Klara und Peter.

Laura hat ihren Geburtstermin Anfang Oktober. „Wir müssen jetzt einen Notfallplan aufstellen, damit wir wissen, was jeder zu tun hat, wenn es so weit ist“, sagte Peter zu ihr.

„Was soll denn das für ein Plan sein?“ Klara schaute ihn verwundert beim Frühstück an.

„Naja, wenn die Wehen bei Laura anfangen“, meinte Peter.

„Dann fällst du doch schon in Ohnmacht“, konterte Klara.

„Na dann versinkt eben alles im Chaos“, gab Peter beleidigt zurück. Peter wurde aus seinen Gedanken gerissen.

Ein Geländewagen sauste vor ihm heran und bog scharf in die freie Parklücke ein.

Eine Frau stieg aus, schlug ohne hinzusehen die Tür hinter ihrem Rücken zu und stürmte auf den Einkaufsmarkt zu.

„Wieder mal typisch“, dachte Peter. „Kann die sich nicht richtig in die Parklücke stellen?“

Das Auto stand mit zwei Rädern schon auf dem anderen Parkplatz. „Wahrscheinlich ist die gerade von der Arbeit gekommen und muss noch was für die Familie einkaufen.

Einfach haben die es ja nicht gerade“, dachte Peter versöhnlich. Peter hatte nichts zu lesen mitgenommen.

Er mochte nicht mitgehen, wenn sich Klara von einem Wühltisch zum anderen hangelte und ihre Begeisterung nicht zu bremsen war, wenn sie wieder mal ein paar Babysachen hochhielt.

So stellte sich Peter die Hölle vor: eine Menschentraube an den Wühltischen und keinen Stuhl zum Hinsetzen, wo man wenigstens die Leute beobachten konnte.

Das machte Peter dann schon mal gern. Jemanden beobachten, ihn einschätzen, was er wohl beruflich machte oder was das überhaupt für ein Mensch war, der vor ihm stand und in den Sachen herumfingerte.

Diesmal wartete Peter also im Auto. Er wählte die Nummer von Anna.

„Sturm!“, ertönte die Stimme von Lukas.

„Stör‘ ich?“, fragte Peter.

„Ich liege gerade auf dem Boden und repariere das Radio von Mutti.“

„Oh, dann will ich dich nicht weiter davon abhalten, wir können ja später telefonieren.“

„Ja“, antwortete Lukas. Peter drückte auf die rote Taste am Telefon. Bei Anna schien wieder der Teufel los zu sein.

Lukas hatte seine schlechte Laune am Telefon kaum verbergen können.

Klara war mit dem Einkauf fertig und steuerte auf das Auto zu. „Na, Dach auch eingepackt?“

„Guck doch mal, wie niedlich!“ Klara reagierte gar nicht auf die Frage von Peter.

Sie hielt ihm eine Baby-Decke vor die Nase, auf der lauter niedliche Tiere zu sehen waren.

„Mensch, die haben heute Sachen, da kann man nur staunen“, sagte Peter.

Jetzt war er auch begeistert und sah schon vor seinem Auge Krümel auf der Decke liegen. Er würde sie sogar windeln.

Das hatte er sich fest vorgenommen. Das war bei Laura noch anders.

„Ich habe Rückenschmerzen“, hatte er damals immer gesagt.

Doch nun war es anders. Er wollte für seine Enkelin von Anfang an da sein.

„Ich wollte deine Mutter anrufen“, sagte Peter und drehte den Zündschlüssel um.

„Und?“

„Dein Bruder war dran. Er ächzte und keuchte, lag wohl auf dem Boden wegen dem Radio deiner Mutter.“

„Schon wieder?“ Klara war entsetzt.

Gerade hatte Lukas ihr gesagt, dass er das Radio wieder hinbekommen hatte, nachdem Anna alles rausgerissen hatte. Sie fuhren schweigend nach Hause.

Abends rief Lukas zurück.
„Ich krieg noch einen zu viel“, stöhnte er sofort los.

„Warum?“, fragte Klara ihn.

„Mutti hört nicht zu. Sie lässt sich nicht erklären, was sie falsch gemacht hat und fragt ständig dazwischen. Du wirst wahnsinnig. Sie lässt sich nichts sagen, hört nicht zu, ist aufgeregt. Zum Schluss habe ich ihr gesagt, dass ich es nicht mehr aushalte.“

„Und was hat sie geantwortet?“

„Du brauchst hier nicht pampig zu werden, Lukas. Das wird noch schlimmer.“

Klara war still. Dann fing sie an zu lachen und Lukas stimmte ein.

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PETERS MUTTER ERKRANKTE IMMER MEHR AN DEMENZ

ANNA-2017.09.20

Peter regte sich über seinen Vater auf, der es nicht ertrug, dass seine Frau an Demenz erkrankt war.

„Und ich will ihn nicht verstehen“, entgegnete Peter.
„Aber du weißt doch, wie es bei meiner Mutter ist. Irgendwann verlierst du die Nerven, wenn sie dich immer wieder das gleiche fragt.“

„Das ist mir schon klar, doch bei meinem Vater ist das etwas völlig anderes. Er denkt nach wie vor, dass sich alles um ihn drehen muss und er es besonders schwer hat.

Dabei hat meine Mutter genauso unter ihrer Krankheit zu leiden und zusätzlich kommt eben ihre Demenz hinzu.“

„Ja schon“, Klara ließ nicht locker, „du weißt selbst wie es ist, wenn du hintereinander, immer und immer dasselbe gefragt wirst.“

„Es gibt einen Unterschied“, sagte Peter, nämlich, den, dass du irgendwann genervt bist. Das kann ich verstehen. Aber bei meinem Vater kommt noch etwas hinzu, etwas sehr Entscheidendes.

Mein Vater will die volle Aufmerksamkeit für sich und ansonsten in Ruhe gelassen werden. Solange Mama ihm alles besorgt hat, da war sie gut genug, durfte ihm das Essen kochen, die Wäsche waschen und das ganze Gedöns im Haushalt bewerkstelligen.“

„Ja, ja, das ganze Gedöns, so denkst du auch!“, erwiderte Klara.
„Also immerhin sauge ich am Freitag, fege den Carport und habe alles im Blick.“ Peter hatte keine Lust, darauf einzusteigen.

„Weißt du, mein Vater hat mir schon als vierzehnjährigem Jungen bei einem Ausflug in Leipzig gesagt, dass er mich nicht mehr sehen kann. Kannst du dir vorstellen, wie weh das tut, wenn dein Vater so etwas zu dir sagt?“

„Ja und wie bist du von Leipzig nach Dresden gekommen?“, fragte Klara.

„Mit dem Zug natürlich. Der Schnellzug fuhr damals schon in knapp zwei Stunden nach Dresden. Ich brauchte aber fünf Stunden.“

„Warum?“ „Ich war in den falschen Zug gestiegen, in den, der wirklich an jedem Dorfbahnsteig hielt und die Milchkannen mitnahm.“

„Und was hat das jetzt mit deiner Mutter zu tun?“, Klara blickte ihn fragend an.

„Heute, im Pflegeheim, wenn meine Mutter ihn in seinem Zimmer besucht, dann sagt er, dass sie wieder auf ihr Zimmer gehen soll, verstehst du, was mich wütend macht?“

Klara schwieg, sie wusste, es hatte jetzt keinen Sinn weiterzureden. Zu tief waren die Wunden und sie schmerzten wieder, weil sein Vater sich mal wieder in seiner unnachahmlichen Art zeigte.

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ANNA KANN SICH NICHT AN DAS ‚KAUENDE KAMEL‘ ERINNERN

2017.09.20

Anna vergißt die Namen ihrer entfernten Verwandten und, dass diese sie besucht haben.

„Stell dir vor, Mutti wusste heute nicht mehr, dass sie gestern Gundula und ihren Mann zu Besuch hatte!“
Klara war empört und traurig zugleich.

„Wer ist Gundula?“, fragte Peter.
„Da haben wir gerade vor einer Stunde gesprochen – Gunduuulahh aus Stuttgart!“

„Ach ja, Gundula, das kauende Kamel, ich erinnere mich. Ich dachte jetzt auch schon, bei mir fängt es an mit der Vergesslichkeit.“

„Ja, nicht nur mit der Vergesslichkeit, auch mit deinen Ohren. Also sei schön still.“

„Ich sag ja gar nichts mehr“, beschwichtigte Peter.
„Aber du musst doch zugeben, wenn Gundula den Mund öffnet und lacht, dann sieht sie aus wie ein Kamel, das die Zähne bleckt“, setzte Peter nach.

Klara antwortete darauf nicht. Ein Zeichen, dass sie es irgendwie satt hatte, mit den Spötteleien. Aber Peter setzte noch einen drauf.

„Ich denke, es war sooooh schön mit dem Kaffee trinken?“

„War es bestimmt auch. Nur Mutti weiß nichts mehr.“
„Und wie kommst du darauf, dass sich Anna nicht mehr erinnert?“
„Mutti sagte am Telefon, sie verstehe nicht, warum sich Gundula nicht bei ihr meldet.“

Jetzt schwieg Peter. Es war schon traurig und ein sicheres Zeichen, dass die Krankheit bei Anna weiter fortschritt.

 

ANNA IST DEMENT (18)

ICH RUF MAL DEINEN VATER AN

Peters Vater ist im Pflegeheim und unzufrieden mit seiner Situation

„Nichst ist prima“ – schnaubte Peters Vater am Telefon. Bei Anna in Stralsund schien alles in Ordnung zu sein. Peter freute sich auf einen ruhigen Abend.

Und vor allem keine langatmigen Telefonate mit Anna, warum zum Beispiel der Werbebrief, den Anna vor einigen Tagen erhalten hatte, nichts als heiße Luft war. „Sie haben sich die Belohnung von 5000,00 Euro redlich verdient, liebe Frau Sturm!“, stand dort drin.

Klara konnte ihre Mutter überzeugen, dass sie alles zerreißt und direkt in die Papiertonne schmiss. „Mutti, dir schenkt keiner was. Glaub‘ es mir doch einfach“, beschwor Klara am Telefon Anna.

Naja, Anna wollte ihrer Tochter schon glauben. Doch auf der anderen Seite war die Verlockung: Da schrieb jemand an sie persönlich und sprach sie mit „Liebe Frau Sturm“ an. Wer kümmerte sich schon noch so liebevoll um sie. „Ach weißt du, Klara, ich bin so allein“, jammerte Anna am Telefon.

„Mutti, ich weiß. Aber schmeiß jetzt den Brief weg“, Klara konnte kaum noch an sich halten. Dabei war sie die Gutmütigkeit in Person.

„Ja, ja, ich mach‘ das jetzt. Alles kommt weg. Ich will nicht, dass die mir schreiben!“, sagte Anna entschlossen. „Mutti, die werden dir wieder schreiben.“ „Ach ist das nicht scheußlich!“, seufzte Anna.

Klara war am Ende ihrer Kraft und verabschiedete sich von Anna.
Jetzt waren ein paar Tage ins Land gegangen. Anna hatte keine weitere Post bekommen. Es war ruhig und Anna erzählte am Telefon lediglich von ihren Spaziergängen – zum Friedhof oder zu ihrem Sohn Lukas.

Der wohnte Gott sei Dank im Ort.
Also alles im grünen Bereich. Peter legte die Füße hoch. Wahrscheinlich musste er aber gleich hochschnellen und Teller für das Abendbrot in das Wohnzimmer tragen. Aktivität und Engagement waren angesagt. Aber solange Klara noch mit Anna telefonierte und ihm nichts sagte, konnte er sich ja mal nach hinten lehnen, mit der Fernbedienung in Windeseile die Programme durchsurfen und sich den nötigen Überblick für den Abend verschaffen.

„Ich ruf‘ heute Abend mal deinen Vater an!“, ruft Klara Peter zu, bevor sie das Wohnzimmer in Richtung Küche verlässt.

„Mach‘ das bloß nicht.“ Peter war sofort aufgescheucht. Er kannte seinen Vater, der gleich wieder losschimpfen würde über das Heim, über Getrud, die Mutter von Peter.

„Warum jetzt schon wieder eine weitere Baustelle aufmachen?“, fragte Peter Klara.

„Ach, das ist doch nicht schlimm“, versuchte Klara ihn zu beschwichtigen.

Peter seufzte. Er hatte es aufgegeben, dagegen zu reden. Er bewunderte Klara dafür, dass sie sich so rührend kümmerte. Dabei waren ihre Schwiegereltern nicht wirklich nett zu ihr in den vergangenen Jahrzehnten gewesen.

Aber das stand auf einem anderen Blatt.
Manfred und Gertrud Gerber waren jetzt beide im Pflegeheim in Dresden.

Das Heim gehörte Peters Schwester, Helga Geiger. Helga hat das Heim aber verkauft. Nur ihr Name stand noch am Schild.
„Du, das Telefon ist abgeschaltet. Ob dein Vater im Krankenhaus ist?“

Klara schaute Peter besorgt an. Jetzt ging es schon wieder los.
Peter wurde unruhig. Er wollte sich nicht damit befassen. Die Familienbande waren zu zerrüttet, als dass Peter überhaupt noch Interesse an einer engen Verbindung hatte.

Doch konnte er einfach darüber hinwegsehen, dass vielleicht etwas passiert war? Lag Vati im Krankenhaus? Peter schwang sich aus dem Sessel hoch und ging in sein Arbeitszimmer. Er versuchte Helga zu erreichen. Sie ging nicht an das Telefon. Also musste er die Telefonnummer vom Heim heraussuchen. Peter wählte schließlich die Nummer.

„Ja bitte?“, fragte eine Stimme mit russischem Akzent.
„Bitte entschuldigen Sie die Störung“, aber ich kann meinen Vater nicht telefonisch erreichen. Ist etwas passiert?“

„Nein, nein. Ich war vor einer halben Stunde im Zimmer Ihres Vaters. Es ist alles in Ordnung“, antwortete die Schwester.

„Oh, vielen Dank! Auf Wiederhören.“ Peter war erleichtert, dass alles in Ordnung zu sein schien. Für ihn war die Sache erst einmal erledigt.

Peter ging nach unten und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.
Plötzlich klingelte das Telefon. Peter ging ran: „Gerber.“ „Ja hier auch“, erklang es in der gewohnt strengen Weise. Manfred Gerber war 87.

Immer wenn sein Vater ihn ansprach, fühlte er sich wieder zum kleinen Kind degradiert. Das würde wohl nie aufhören. Obwohl er jetzt selbst bald Großvater sein würde.

„Was gibt’s?“ Manfred Gerber schien nicht gut drauf zu sein.
„Was soll es geben? Wir haben uns Sorgen gemacht, ob alles mit dir in Ordnung ist“, entgegnete Peter. Ihm schmeckte der barsche Ton seines Vaters nicht.

Er merkte, wie seine Schilddrüse anschwoll. Es kochte schon wieder in ihm.

„Aber wenn es nichts gibt, dann ist es ja prima“, schob Peter deshalb hinterher. „Nichts ist prima!“, schnaubte sein Vater zurück.
Manfred Gerber wollte von seinem Sohn bedauert werden.

Er wollte ihm ein schlechtes Gewissen einreden, so wie er es immer getan hatte. Schon als er noch klein war.
Peter schwieg einfach. Am Telefon entstand eine Stille, die zum Zerreißen war. Wer jetzt als erster sprach, der war vor dem anderen eingeknickt.

„Mit Mama ist es furchtbar!“, begann sein Vater das Gespräch fortzusetzen.
Peter schwieg. Es versetzte ihm einen Stich, wenn sein Vater so über Mama redete. Sie war 88 Jahre und litt inzwischen an schwerer Demenz.
Trotzdem, sie blieb seine Mutter und doch auch die Frau seines Vaters.

„Ich kann deinen Vater schon ein wenig verstehen“, sagte Klara, nachdem Peter das Telefonat beendet hatte.

Anna kann sich nicht an das kauende Kamel erinnern

Anna ist dement (15)

„Stell dir vor, Mutti wusste heute nicht mehr, dass sie gestern Gundula und ihren Mann zu Besuch hatte!“
Klara war empört und traurig zugleich.
„Wer ist Gundula?“, fragte Peter.
„Da haben wir gerade vor einer Stunde drüber gesprochen – Gunduuulahh aus Stuttgart!“
„Ach ja, Gundula, das kauende Kamel, ich erinnere mich. Ich dachte jetzt auch schon, bei mir fängt es an mit der Vergesslichkeit.“
„Ja, nicht nur mit der Vergesslichkeit, auch mit deinen Ohren. Also sei schön still.“
„Ich sag ja gar nichts mehr“, beschwichtigte Peter.
„Aber du musst doch zugeben, wenn Gundula den Mund öffnet und lacht, dann sieht sie aus wie ein Kamel, das die Zähne bleckt“, setzte Peter nach.
Klara antwortete darauf nicht. Ein Zeichen, dass sie es irgendwie satt hatte, mit den Spötteleien. Aber Peter setzte noch einen drauf.
„Ich denke, es war sooooh schön mit dem Kaffee trinken?“
„War es bestimmt auch. Nur Mutti weiß nichts mehr.“
„Und wie kommst du darauf, dass sich Anna nicht mehr erinnert?“
„Mutti sagte am Telefon, sie verstehe nicht, warum sich Gundula nicht bei ihr meldet.“
Jetzt schwieg Peter. Es war schon traurig und ein sicheres Zeichen, dass die Krankheit bei Anna weiter fortschritt.

© Uwe Müller

KLARA KOMMT AUS STRALSUND ZURÜCK

2017.06.07

Peter ist froh, dass Klara zurück ist und er sich wieder ganz seiner Arbeit widmen kann, ohne zusätzliche Hausarbeiten.

Klara saß im Zug zurück nach Berlin. Sie war froh, dass sie abends wieder in ihrem Bett liegen konnte.

„Ich bin im letzten Waggon“, flötete Klara fröhlich durchs Telefon.
„Ist gut“, brummte Peter. Er war schon auf dem Weg nach Bernau zum Bahnhof. Von dort aus war es am bequemsten, mit dem Auto nach Hause zu fahren.

„Laura kommt auch. Sie ist schon unterwegs hierher“, sagte Peter noch.

„Ach, das ist ja schön“, erwiderte Klara.
„Oh Gott, haben wir denn genug eingekauft?“, fragte Klara gleich weiter.

„Du kannst alle Nachbarn am Wochenende einladen. Wir haben genug im Kühlschrank“, antwortete Peter.

„Na gut, dann bis gleich.“
Peter drückte auf den Telefonknopf im Auto und bog in die Straße zum Bahnhof ein. Er fand schnell einen Parkplatz, stieg aus und überlegte kurz, ob er einen Parkschein lösen sollte.

Er ließ es und ging das Risiko ein, dass er erwischt wurde.
Peter schlenderte auf das Bahnhofsgebäude zu. Es dauerte nicht lange und Laura begrüßte ihn freudig. Sie war für ihn wie aus dem Nichts gekommen.

Aber Peter hatte wie immer die Orientierung verloren, was die Bahnsteige anbetraf, auf denen die S-Bahnen einfuhren. Dabei gab es nur einen, der dafür vorgesehen war.

Peter konnte auch keinen Fahrschein allein lösen. Er fuhr nur mit dem Auto. Und wollte er dann mal ein Ticket selbst kaufen, dann dauerte es Klara und Laura meist zu lange, bis er begriffen hatte, wie das mit dem Fahrscheinautomaten lief. Peter stellte sich gern dumm. Es half ihm.

Aber wehe, wenn er mal allein dastand und es schnell gehen musste.
Peter wusste auch nicht, wie die Waschmaschine anging.

Ein Frevel, wie er selber fand. „Was ist nur, wenn ich krank bin“, sagte einmal Karla. „Ja, dann haben wir ein Problem mit der Waschmaschine“, antwortete Peter.

Er konnte es nicht lassen, Klara oder Laura zu ärgern oder auch beide.

„Das sollte doch eine Überraschung sein“, Papa. Laura hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen.

„Ist es ja auch. Jetzt kann Mama sich ein wenig von dem Schrecken erholen und ist darauf eingerichtet“, scherzte Peter.

Laura und Peter stiegen fröhlich die Treppen zum Bahnsteig hinauf.
Peter schnaufte und war froh, dass er die letzte Stufe nehmen konnte.

„Lass uns da hinsetzen“, sagte Laura und zeigte auf eine freie Bank, die mit ihrem silbernen Metall in der Sonne glänzte.
Sie saßen kaum, da bewegte sich ein Bettler auf sie zu.

Ein Rumäne, vermutete Peter. Der Mann schlurfte an sie heran und schüttelte seinen Becher. Ein Coffee-to-Go – Becher. Wenigstens ist das jetzt ein Mehrweggefäß, dachte Peter bei sich.

Der junge Mann schüttelte den Becher und schaute wie ein Hund, der um eine leckere Wurst bettelte. Aber Laura und Peter blieben hart. Irgendetwas stimmte mit dem Mann nicht.

Er zog unverrichteter Weise wieder ab und setzte sich auf die Bank, die hinter Laura und Peter befestigt war.
Peter fühlte sich unbehaglich. Zuviel hatte er schon von den Taschendiebstählen gehört. Doch dieser junge Mann schien nichts Derartiges im Schilde zu führen.

Der lümmelte sich auf die Bank, krachte die Beine mit den dreckigen Schuhen darauf und begann Musik abzuspielen. Nicht leise. Nein, er drehte die Musik auf, dass sie unter dem Hallendach stark widerhallte.

Ein Gemisch aus orientalischer Tönen und anderen nicht näher zu bestimmenden Rhythmen drang zu den beiden rüber. Peter drehte sich um. Der junge Mann schaute ihn provozierend an. Na gut, dachte Peter bei sich.

Er hat kein Geld bekommen. Dann soll er die Musik dudeln. Eine Ansage kam durch den Lautsprecher: „Bitte Vorsicht an den Bahnsteigen, zwei durchfahrende Züge.“

Es vergingen Sekunden und aus der einen Richtung rauschte der Zug heran. Die Güterwagen rumpelten und schepperten, als würden sie gleich aus den Schienen springen.

Da war die Musik von nebenan ein Ohrenschmaus gegen den Höllenlärm. Jetzt donnerte der Zug aus der anderen Richtung über die Schienen. Wieder hatte Peter das Gefühl, die Waggons brechen gleich durch in die untere Bahnhofshalle hinein, so einen Lärm machten sie.

Endlich Stille. Leise Musik drang an Peters Ohren – es war immer noch die gleiche aus dem Player des jungen Mannes.
Endlich. Der Zug aus Stralsund lief ein. Klara stieg aus und freute sich, dass Laura auch auf dem Bahnhof war.

„Und, was sagt Anna?“ Peter schaute Klara an.
„Ach, lass uns doch erst einmal nach Hause fahren.“
Klara mochte jetzt nicht darüber reden. Peter konnte das verstehen.
Sie stiegen ins Auto und fuhren nach Hause. Alle freuten sich auf ein paar schöne Tage zu Pfingsten. Es war ja genug Zeit, über alles zu sprechen.

„Ach übrigens, Gundula und ihr Mann besuchen heute Anna.“
„Wer?“
„Na Gundula und Hans – Georg“, sagte Klara.
„Ach du meinst das kauende Kamel?“, fragte Peter.
Peter nannte Gundula so. Irgendwie waren sie mal darauf gekommen. Gundula hatte ein großes Gesicht und noch größere Zähne.

„Ich finde das nicht schön, dass du so etwas sagst.“
„Du hast Recht“, antwortete Peter, denn Gundula war ein herzensguter Mensch. Nur ein wenig sparsam. Aber das konnte ja nie verkehrt sein. Schließlich waren sie Schwaben. Aber das war wieder ein anderes Feld.

 

 

 

PETER IST ALLEIN

ANNA

2017.06.04

Peter war nicht mitgefahren, zu Dr. Silberfisch nach Stralsund. Er konnte nicht von seinem Schreibtisch weg.

Er wollte noch einige Artikel fertigstellen. Trotzdem: Er war es nicht gewohnt, allein zu sein.

Dann musste er ja alles selber machen – das Frühstück, abwaschen und was eben sonst noch so im Haushalt anfiel.

Peter war nicht faul. Er schrieb, arbeitete ununterbrochen. Na gut, auf jeden Fall fühlte es sich so für ihn an.

Und wenn er jetzt vor dem Schreiben noch etwas tat, was körperlich anstrengend war, so fiel er danach erschöpft auf seinen Schreibtischstuhl und mochte nicht mehr arbeiten.

Die Kreativität ist dann weg, bildete er sich ein. Er pflanzte sich in dem Fall schon lieber vor den Fernseher, sah sich eine Talkshow an und fluchte über die, die meinten, das Leben, die Politik und die Menschen zu verstehen.

„Du kannst aufhören, in den Fernseher hineinzureden, denn dich hört keiner“, pflegte Klara zu sagen, wenn sie zufällig dabei war.

Heute musste Peter eine Entscheidung treffen – gleich an den Schreibtisch oder zuerst die ungeliebten Arbeiten im Haus?

Peter gab sich einen Ruck. Er ging in den Garten, holte den Rasenmäher heraus und wollte Klara mit einem frisch gemähten Rasenstück überraschen.

Also rollte er das Kabel von der Trommel und steckte den Stecker in die Steckdose am Rasenmäher. So, jetzt konnte es ja gleich losgehen. Doch es bewegte sich nichts.

Peter schlurfte in den Schuppen und schaute, ob er dort einen Schalter umlegen musste.

Er probierte es und knipste den Hebel auf die andere Seite. Aber jetzt. Peter ging schwungvoll zurück. Er drückte auf den Knopf am Mäher. Wieder nichts.

Hatte er etwa den falschen Hebel umgelegt? Davon waren ja zwei an der Steckdose. Peter probierte es noch einmal. Wieder nichts. Verdammt, Klara hatte bestimmt irgendeinen Trick, den sie ihm nicht verraten hatte.

Eigentlich wollte Klara gar nicht, dass Peter den Rasen quälte. Er mähte ihr immer zu viel vom Rasen weg, und außerdem mussten auch ein paar Blumen daran glauben, wenn er sich ans Werk machte.

Aber das kam ja nicht allzu oft vor. Peter kam nicht weiter, der Mäher sprang nicht an, obwohl er nun schon gefühlt einen kleinen Marathon zurückgelegt hatte – zwischen der Steckdose im Schuppen und dem Rasenmäher.

Peter überlegte. Kurzerhand schloss er die Wohnungstür auf, schleifte das Kabel hinter sich her und steckte es in die Steckdose im Gäste–WC. Die Kabeltrommel platzierte er im Waschbecken. Klara sah das ja nicht.

Der Mäher sprang sofort an und schnurrte. Peter konnte beginnen. Doch dann sah er die beiden Liegestühle.

Verdammt, die mussten auch noch beiseite geräumt werden. Schließlich kam er vorwärts und mähte entschlossen Streifen für Streifen.

Als er an den Kirschbaum kam, stieß er sich den Kopf und fluchte. Er hatte sich das nicht so vorgestellt. Eine kleine Rasenfläche und tausend Hindernisse. Peter vergaß, die Fläche hinter dem Baum zu mähen.

Er stellte die Liegestühle wieder an ihren Platz und begutachtete sein Meisterwerk.

Jetzt bemerkte er es: Er hatte eine kleine Ecke vergessen. Das Stück genau hinter dem Baum. Aber nun war der Mäher schon weggestellt, das Kabel aufgerollt.

Das ist nicht so schlimm, sagte sich Peter. Aber es ärgerte ihn trotzdem. Abends rief Klara an. „Na, wie hast du den Tag verbracht?“
„Och, ich habe den Rasen gemäht.“

„Was, das solltest du doch gar nicht!“ „Und ich dachte, du freust dich.“
„Ja, ich freue mich schon“, lenkte Klara ein.

„Aber, sag mal“, fragte Peter, „wo ist der Hebel für den Strom?“
„Welcher Hebel und welcher Strom?“ „Na, damit der Mäher anspringt, wenn ich das Kabel in die Steckdose am Schuppen stecke.“

„Da musst du im Wohnzimmer, hinter der Gardine den einen Schalter anmachen. Dann geht es.“

„Stimmt ja“. Jetzt ärgerte sich Peter, dass er nicht allein darauf gekommen war. „Und wie war es bei Dr. Silberfisch?“
„Das erzähle ich dir morgen.

 

Mehr lesen: https://uwemuellererzaehlt.de/anna-ist-dement/

ANNA

 

WIEDER MAL BEI DR. SILBERFISCH

ANNA

2017.06.03

 Klara war bei Dr. Silberfisch, gemeinsam mit ihrem Bruder Lukas.
Sie erzählte dem Arzt von Anna letzten Bankbesuch.

„Ich habe es auch schon bemerkt, dass Ihre Mutter nicht immer mehr auf der gedanklichen Höhe ist.“

Ja, da hatte er recht. Klara fuhr fort: „Herr Doktor, Sie müssen vielleicht ein paar Dinge wissen, die für uns eindeutige Zeichen einer beginnenden Demenz sind.“

„Was meinen Sie genau?“, hakt Dr. Silberfisch nach.
„Da war die Sache mit der Bank. Meine Mutter ist dort über Jahrzehnte Kundin. Eigentlich schon zu Ostzeiten.

Nur dass die Bank damals anders hieß und eine andere war.“
Dr. Silberfisch schaute sie schweigend an. Man merkte ihm an, dass er sich auf das konzentriert, was nun kam.

„Also um es kurz zu machen – meine Mutter hatte sich nach einer Beratung damit einverstanden erklärt, dass ihr gesamtes Erspartes in verschiedenen Fonds angelegt wird; insgesamt mehrere Tausend Euro.“

„Wirklich?“ „Ja, wirklich.“
„Können Sie sich vorstellen, wie geschockt wir waren?“
„Ja, durchaus.“ „Aber wie haben das denn die Berater angestellt?“

„Herr Doktor“, Klara blickte den Arzt fest an:  „können Sie sich vorstellen, wie sich ein älterer Mensch fühlt, dem eine Mitarbeiterin mit entschlossener Energie einen Fonds verkauft, und sie ihr zudem versichert, dass es das Beste für meine Mutter sei, was sie mit Geld anstellen könnte?“

„Ja, schon. Ich kann mir das vorstellen. Aber da gibt es doch eine ethische Komponente.“

„Sehen Sie Herr Doktor, da sind wir ganz einer Meinung. Aber meiner Mutter haben sie gesagt, dass es für eine große und auch ziemlich sichere Sache sei, wenn sie das Geld in verschiedene Aktien – und Immobilienfonds geben.“

„Was hat denn Ihre Mutter geantwortet?“
Sie meinte: „Na gut, dann machen Sie das.“

Und während die Mitarbeiterin die Anträge ausfüllte, da hat meine Mutter ihr erzählt, dass ihr Vater früher in der gleichen Bank gearbeitet hätte, und sie wüsste, was für eine schwere Arbeit die Mitarbeiterin jetzt beim Ausfüllen der Anträge leisten müsste.“
Dr. Silberfisch sagte nichts. Er war sprachlos.

ANNA

 

ANNA IM HAFEN

2017.05.30

KRISTINA MÜLLER – GASTBEITRAG

In Anna kommen die Erinnerungen hoch, wenn sie im Hafen ist.

Anna saß auf einer Bank im Hafen und schaute gedankenverloren auf die Schiffe, die träge auf dem Wasser schaukelten.

Touristen in kurzen Hosen, Röcken und T-Shirts liefen an ihr vorbei und machten hier und dort ein Foto, während andere sich an einem der letzten Kutter ein Fischbrötchen holten.

Hier am Wasser war es bei der Hitze noch am ehesten auszuhalten, da immer etwas Wind ging. Doch Anna beachtete die vielen Menschen gar nicht.

Sie schwelgte in Erinnerungen an ihre Kindheit, als es hier noch viele Kutter und kleine Fischerboote gab, die früh morgens auf die Ostsee schipperten und mit mehr und manchmal weniger Beute zurückkehrten.

Ihr Stiefvater Wolf und ihr Onkel Gottfried waren Fischer. Auf dem Hof ihres Onkels und ihrer Großmutter, nur Öming genannt, war Anna aufgewachsen und spielte oft in dem alten Schuppen, wo Gottfried die Netze für die Ausfahrten aufbewahrte.

Sie erinnerte sich zu genau an den Geruch und ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Ihre Mutter Heide und Öming saßen im Hof an eben solchen warmen Sommertagen wie heute und nahmen die Fische aus, welche nicht in den direkten Verkauf gingen.

Allein für den Zweck gab es einen Tisch, der nach all den Jahren auch nach gründlicher Reinigung immer wieder Spuren von Blut und Schuppen aufwies. Andere Kinder hätte solch ein Anblick vielleicht verstört, aber Anna war so aufgewachsen und daher behielt sie solche Details in guter Erinnerung.

Sie hatte trotz Kriegszeiten und dem Weggang ihres Vaters eine wirklich schöne Kindheit ohne viele Sorgen verbracht, an die sie zu gern zurück dachte.

Sie seufzte leicht und ließ den Blick wandern, ehe er an einem Eisverkäufer hängen blieb. Sie nickte innerlich und erhob sich von ihrem Ausguck.

Langsam ging sie zu dem Stand und ließ sich ein Leckeis, wie sie es nannte, geben.

So konnte sie der Hitze wenigstens etwas entgegen wirken, ehe der kalte Ostwind in ein paar Monaten wieder Schnee und Eis in den Hafen wehte.