Archiv der Kategorie: ANNA IST DEMENT

Kurzgeschichten über den Umgang mit an Demenz erkrankten Angehörigen.

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2017.05.29

Werbebriefe, die nimmt Anna für bare Münze, denkt, sie müsse diese unbedingt beantworten. Dort stand ja: „Liebe Frau Sturm, wir freuen uns auf Sie.

Schicken Sie die  Rückantwort noch heute ab. Ein wunderschönes Gratis-Geschenk wartet darauf, von Ihnen in Empfang genommen zu werden, liebe Frau Sturm!“

„Da muss man doch antworten“, meint Anna. Und sie wird böse, wenn man ihr nicht zustimmt.

Klara geht in das Hauptpostamt in der Friedrichstrasse und schildert ihre Situation. „Meine Mutter gibt ununterbrochen Geld aus, kauft eine Bluse nach der anderen.  Was soll ich nur tun?“

„Ich weiß genau, wovon Sie sprechen.“ Die Schalterangestellte zeigt viel Verständnis.

„DIE MACHT DER GUTEN GEFÜHLE: WIE EINE POSITIVE HALTUNG IHR LEBEN DAUERHAFT VERÄNDERT“
(FREDRICKSON/NUBER/HÖLSKEN)

„Mein Vater hat die Post versteckt. Er hat keine Briefe, keine Mahnungen mehr geöffnet.  Nur durch Zufall kamen wir dahinter.

Und das nur deshalb, weil uns der Stromanbieter informiert hat, dass sie den Strom bei ihm abstellen wollen.“

„Und was haben Sie daraufhin getan?“

„Wir haben uns von meinem Vater eine Vollmacht geben lassen, dass wir die Post zu uns umleiten können und ihm danach die Briefe aushändigen.“

„Was hat er gesagt?“
„Ihr wollt mich alle betrügen und ruinieren. Wenn das eure Mutter noch erlebt hätte! Schämt euch!“ Klara schaute ungläubig. „Das ist ja furchtbar.“

„War es auch. Schließlich aber hat er eingewilligt“, sagt der Postbeamte.

IM WARTEZIMMER VON DR. SILBERFISCH

ANNA

ANNA-2017.05.28

Klara fährt nächste Woche nach Stralsund. Sie will es ihrer Mutter vorher nicht sagen.

Sondern: Sie will – gemeinsam mit ihrem Bruder Lukas – zu Dr. Silberfisch.

Sie wollen ihn um Rat fragen, was sie tun können wegen ihrer Mutter Anna, wie es weitergehen soll, wie lange sie noch in ihrer Wohnung bleiben kann.

Die Praxis von Dr. Silberfisch steht bei Anna hoch im Kurs.
Das liegt nicht nur am Arzt, wenngleich sie schon lange Patientin bei ihm ist.

Da, wo die Praxis heute ist, da war früher eine Drogerie, Annas ehemaliger Arbeitsplatz.

Für Anna ist es schon deshalb ein Höhepunkt, wenn sie in die Praxis gehen kann.

Sie kennt sich dort immer noch gut aus.
Und Anna kommt heute noch ins Schwärmen.

Sie fängt gleich im Wartezimmer an zu erzählen, was dort früher war und wie die einzelnen Räume aufgeteilt waren.

„Und da oben, da haben wir immer Mittag gemacht, Schwester.“
„Ach ja?“, fragt Schwester Erika und verdreht die Augen verstohlen zu ihrer Kollegin.

Anna weiß nicht, dass sich die Schwestern heute Praxishelferinnen nennen.

Und das stört sie auch nicht im Geringsten.
„Manchmal, da haben wir dort auch Kaffee getrunken und Kuchen gegessen“, fährt Anna unbeirrt fort.

„Ach, das war schön.
Und die Kunden, die in die Drogerie hineinkamen, die mochten uns“, meinte sie.

„Frau Sturm, der Doktor wartet jetzt auf Sie. Bitte gehen Sie doch durch.“

„Ja, das mach‘ ich doch glatt.“
Anna ist im Arztzimmer verschwunden.

„Sooo…“, sagt Schwester Erika – also die Praxishelferin Erika.
„Das hätten wir jetzt wieder. Na ja, wer weiß, wie wir mal werden.“
„Meinst du?“, fragt ihre Kollegin.
„Na ja“, seufzt Erika, „wer kann das heute schon wissen?“

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ANNA

BERTA HAT AUFGELEGT

Anna kann sich die Namen ihrer Freunde und Bekannten nicht mehr merken.

Anna ruft an: „Es war schön gestern bei der Diamantenen Hochzeit.“
Anna hatte vergessen, dass Klara zur Arbeit gefahren war und dachte, sie träfe sie am Telefon an.

Jetzt musste sie mit ihrem Schwiegersohn vorlieb nehmen.

„Hattet ihr denn auch Musik?“, fragte Peter.
„Ja, Berta hat aufgelegt.“ „Oh, Donnerwetter!“, staunte Peter und musste schmunzeln.

Aufgelegt – war das nicht ein Begriff, der längst vergangen war? Oder ist er gerade hip, wenn man an die heutigen Veranstaltungen denkt, wo der DJ auflegt?

Jedenfalls: Anna sprach und dachte modern.
Trotzdem: Wahrscheinlich war das ein ganz normaler Recorder, auf dem die Musik spielte und zwischendurch die CD’ s gewechselt wurden.

Und das tat eben Berta. Sie war die beste Freundin von Anna, schon von Kindesbeinen an, und so wusste Berta auch, welche Musik Anna mochte.

„Waren denn Gäste da, die wir kennen?“, fragte Peter weiter. Anna überlegte kurz und sagte: „Nein, keine.“

Da war er wieder, der Gedächtnisverlust. Peter und Klara kannten bestimmt über die Hälfte derjenigen, die dort Gäste waren.

„Wie heißt noch gleich die Tochter von Berta, ich komme einfach nicht drauf“, fragte Peter jetzt.

„Na, Cornelia, das musst du doch wissen?“, sagte Anna vorwurfsvoll.
Ja, Anna hatte Recht. Peter musste und konnte es wissen.

Anna konnte es im ersten Anlauf nicht wissen, dass es jemand war, den Peter und Klara kannten, und sie musste es vielleicht auch nicht mehr.

Wie sollte man das alles werten?
War es ein schlechtes Zeichen, dass Anna erst nach dem zweiten Anlauf auf die Namen kam?

Oder sollte man es so nehmen, wie es eben war. Anna fiel es schwerer, auf die Namen von Freunden zu kommen, selbst auf die der engsten Freundin?

Peter und Klara entschlossen sich, es positiv zu sehen und Anna dabei zu helfen, sich zu erinnern.

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ANNA

 

SIE HABEN GEWONNEN, FRAU STURM

Anna hält einen Werbebrief in der Hand, in dem ihr 8000 Euro Gewinn versprochen werden. Klara gelingt es nicht, Anna davon abzuraten, an die Firma eine Antwort zu schicken. 

„Ich hab‘ da vielleicht wieder eine Aufregung“, sagt Anna.

Sie hat Klara angerufen, eben wie immer täglich, gegen Abend.
„Was denn für eine Aufregung?“, fragt Klara. „Na, ich habe schon wieder 8000 Euro gewonnen.“

 

„Mutti, du hast nicht gewonnen. Das ist ein Werbebrief. Und wenn du weiter unten liest, dann siehst du, dass du die Chance hast, zu gewinnen.  Eventuell. Aber das ist eher unwahrscheinlich.“

„Ich lese dir jetzt mal vor, was hier steht.“
Anna fängt an, den Werbebrief vorzulesen: „Liebe Frau Sturm, freuen Sie sich! Sie haben gewonnen…
Schicken Sie die Antwort noch heute zurück, und: Vergessen Sie nicht, den beiliegenden Bestellschein auszufüllen… Sobald wir Ihre Rückantwort erhalten haben, sind Sie mit dabei – bei der großen Verlosung für den Hauptgewinn in Höhe von 8000 Euro…Also schicken Sie den Brief noch heute ab, liebe Frau Sturm.“

Klara hat bis zum Schluss gewartet. Sie war dem Rat von Peter gefolgt und hatte ihre Mutter nicht unterbrochen.
Doch es fiel ihr schwer, ruhig zu bleiben, zuzuhören, nicht hineinzureden.

Doch nun platzte es aus ihr heraus: „Mutti, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen.
Das ist ein Werbe-Gag. Du bist eine von Tausenden, die wie du diese Post erhalten haben.  Der Brief erfüllt nur einen einzigen Zweck: Du sollst wieder eine Bluse bestellen, verstehst du das?“

„Ja, aber hier steht, ich habe gewonnen.“
„Mutti, jetzt zerreiß den Brief, und wirf‘ ihn in die Tonne!“
„Meinst du wirklich?“ „Ja!“
Klara konnte nicht mehr.

„Du erreichst nichts, wenn du auf diese Art mit deiner Mutter sprichst.  Anna hat doch jetzt nur ein schlechtes Gefühl, weiß aber nicht so richtig warum und wird dir beim nächsten Mal gar nichts mehr erzählen.“

Peter versuchte Klara zu erklären, dass sie so nicht weiterkam.

„Du hast gut reden. Du redest ja nicht jeden Abend mit ihr.“
Klara war bedient.

ANNA VERGISST DEN VATERTAG

 

AUDIO: https://uwemuellererzaehlt.de/2020/09/15/anna-ist-dement-2/

ANNA IST DEMENT (2)

Anna war der Vatertag immer wichtig. Sie vergaß ihn nie. Nur in diesem Jahr war es anders.

25. MAI 2017

Es war Christi Himmelfahrt. Manche sagten auch Vatertag oder Herrentag.

Der Tag, an dem man mit dem Bollerwagen durch die Straßen ziehen konnte und Lieder grölen musste, um ernst genommen zu werden.

Peter hatte keine Lust darauf. Er freute sich auf seinen Schreibtisch. Er konnte in Ruhe die Sachen ordnen, vielleicht ein wenig schreiben, aber eben ohne Druck und ohne, dass er angerufen wurde und selbst jemanden anrufen musste.

Jedoch Laura rief an. Sie gratulierte zum Vatertag.

„Danke“, brummte Peter. Er war noch nicht ganz da und saß schweigend am Frühstückstisch.

„Na, ich bin gespannt, ob deine Mutter heute anruft“, sagte Peter zu Klara, so wie nebenher.

„Das hat dich doch bisher eher gestört, wenn dich deine Schwiegermutter angerufen hat und zum Herrentag gratulierte“, antwortete Klara.

„Na so ist es ja nun auch nicht. Ich habe mich schon gefreut.“

Aber der Disput brachte ja gar nichts, denn  das Telefon blieb stumm.

Anna hatte den Vatertag schlichtweg vergessen.

Sie hatte auch vergessen, ihrem Sohn, Lukas, zu gratulieren.
Lukas wohnte in Stralsund, ganz in ihrer Nähe.

Er hatte ein Haus mit einem Hof.  Anna ging dort täglich vorbei. Und an solchen Tagen hatte sie Lukas meist eine Packung mit alkoholfreiem Bier mitgebracht.

Klara rief bei Lukas an: „Hat Mutti dich angerufen und gratuliert?“
„Nein, hat sie nicht.“

Peter war geschockt. Wieder mal war es ein sicheres Zeichen dafür, dass Anna mehr und mehr vergaß.

Klara nahm den Hörer noch einmal in die Hand und fragte Anna direkt: „Mutti, du weißt schon, dass heute Vatertag ist, oder?“

„Ja, ja weiß ich“, beteuerte sie.

„Also grüß‘ Peter schön“, sagte Anna noch und legte auf.

„Das hat sie doch sonst immer selbst gemacht und mir gratuliert“, sagte Peter.

Jetzt war er doch ein wenig beleidigt, obwohl er wusste, dass es einen Grund dafür gab.

Ein Grund, für den Anna nichts konnte – sie war dement.

EINEN SATZ NACH DEM ANDEREN SAGEN

ANNA-2017.05.23

AUDIO: https://uwemuellererzaehlt.de/2021/05/25/anna-2021-05-25/
EINFÜHRUNG:
Laura ist zu Besuch. Peter versucht Laura zu erklären, warum Anna nicht mehr alles versteht.

Sonntagabend.

Klara hatte noch einmal bei Anna angerufen. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter nun vielleicht durcheinander war, weil Laura ihr am Telefon nicht richtig erklärt hatte, dass sie unverhofft aus Berlin zu Besuch gekommen war.

Es war für keinen leicht, mit der Demenz von Anna umzugehen. Nicht für Klara, für Peter nicht und auch nicht für Laura.

„Du musst mit Oma gehirngerecht kommunizieren.“

„Papa, was ist das für ein Quatsch?“, protestierte Laura.

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Was ich damit sagen will: Oma kann nicht mehrere Informationen gleichzeitig verarbeiten. Das verwirrt sie.“

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BETTINA TIETJEN:
‚Unter Tränen gelacht: Mein Vater, die Demenz 
und ich‘

„Was meinst du?“, fragte Laura.

„Nun, du gehst an unser Telefon. Für Oma müsste jetzt Mama am Hörer sein. Stattdessen hört sie deine Stimme. Für sie wohnst du in Berlin und bist jetzt auch in Berlin.

Wir wiederum sind für sie da, wohin sie jetzt auch anruft, im Dorf in der Nähe von Berlin. Also solltest du erst einmal sagen, dass du bei uns spontan zu Besuch bist, in Brandenburg.“

„Spontan zu Besuch?“, fragte Laura dazwischen.

„Das versteht sie doch erst recht nicht.“

„Aber stell dir vor, du würdest die Informationen per Rohrpost versenden – ein Satz folgt auf den anderen, und sie gehen alle in die gleiche Richtung.

Da kannst du ja auch nicht mit dem letzten Satz anfangen, sondern du schiebst den ersten Satz zuerst durch.“

„Na gut Papa, das ist mir zu blöd.“ Peter schwieg. Laura lag vermutlich richtig.

Er war eben auch nicht trainiert auf die Kommunikation mit demenzkranken Menschen.

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