Schlagwort-Archive: FAMILIENGESCHICHTE

‚MUTTI‘ MUSS STAUBSAUGEN


ANNA-2018.11.02

WIE DIE KRANKHEIT DAS GESAMTE UMFELD DER FAMILIE VERÄNDERTE, SCHLEICHEND, FAST UNAUFFÄLLIG

Der Alltag ging weiter, aber irgendwie und irgendwo war Annas Demenz auch immer mit dabei.
Anna hatte ein verstaubtes Bild von der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Und sie liess sich davon nicht mehr abbringen. Jetzt, nach ihrer Krankheit, erst recht nicht mehr.

Es gab Routinen, eben täglich wiederkehrende Dinge. Die meisten davon sind unabdingbar, Peter mochte manche davon trotzdem nicht.

Er musste sich dazu eben zwingen. Dazu gehörte der Anruf bei Anna.

„Aber dir macht das doch so viel Spaß“, sagten einige seiner Freunde, die ihn kannten.

Anna war dement. Das wussten alle. Und alle wussten, dass sie Aufmunterung brauchte.

Klara kümmerte sich, fuhr hin zu Anna, organisierte Arzt- und Frisörbesuche. Lukas war täglich bei Anna und schaute, wie es ihr ging.

Diejenigen Menschen, die Peter kannten, in dem Fall den Schreiber, und die seine Familie kannten, die wussten natürlich genau, über wen er berichtete.

Aber er wollte eine gewisse Distanz halten. Zum einen aus Respekt. Und zum anderen, weil er das ja alles in kleinere Geschichten packte und das Recht hatte, etwas wegzulassen, zu überhöhen oder etwas hinzuzudichten.

Peter war schon nahe dran an der Wahrheit, wenn er darüber in seinen Texten schrieb. Klara war das oft genug zu nah. Inzwischen weiß sie aber, dass Peter stets mit Wertschätzung schrieb und aus einer Perspektive heraus, von der er faktisch die Figur beobachten konnte.

Das gab ihm die nötige Sicherheit, die Distanz zu halten, aber auch wieder nahe genug dran zu sein, um über etwas zu schreiben, was passiert war.

Die größte Herausforderung war, mit einem demenzkranken Menschen zu sprechen und ihm keinerlei Vorhaltungen zu machen. Das verstand nämlich Anna nicht, man verunsicherte sie dadurch nur.

Denn Veränderungspotenzial, das gab es bei Anna nicht mehr, nur noch in Richtung der Verschlechterung ihrer Krankheit.

Klara sagte dann meist zu Peter: „Aber du könntest dich verändern, und du tust es nicht, du stellst dich einfach blöd an, wenn du etwas machen sollst.“

Darin war Peter nun mal geübt.
Doch zurück zu Anna. Sie rief Peter eines Abends zweimal an und fragte ihn, ob es ihm gutgehe.

In Wirklichkeit wollte sie Klara sprechen, wen sonst, ihren Schwiegersohn? Ja, ja. Wenn die Sonne ‚mal im Westen aufging‘, dann vielleicht.

Aber sie hatte vergessen, dass Klara donnerstags erst gegen 18.00 Uhr Schluss hatte und dann noch von Kreuzberg hierher zurückmusste, zurück in den Wald, der zu der Zeit schon dunkel war.

Also könnte Peter sagen: „Anna, das haben wir doch vor einer halben Stunde besprochen.“ Und anschließend könnte er sich darüber bei Klara aufregen.

Früher hat er das getan: „Deine Mutter denkt, dass ich Zeit ohne Ende habe. Und wenn ich fünfmal erkläre, dass ich auch außerhalb meines geliebten Schreibtisches zu Terminen muss, Interviews absprechen, interessante Menschen treffen. Keiner schenkt mir das Geld.“

„Ich sauge jetzt gleich“, sagte Peter zu Anna am Telefon.

„Oh Gott, und das als Mann!“, erwiderte sie. Wie aus der Pistole geschossen. Ohne nachzudenken. Jetzt kam Peter sich nicht mehr vor, wie Ironman, sondern wie Weichmann.

Sollte er jetzt sagen, dass dies sein Veränderungspotenzial der letzten Jahre war?

„Weißt du Anna, das ist bei uns im Haus schwere körperliche Arbeit.
Du weißt doch, was es bedeutet, die Treppen immer hoch und runterzugehen.“

„Ich weiß“, sagte Anna.
„Wirklich?“ Peter hakte lieber nicht nach.

Dann erzählte sie ihm, dass in der Anbauwand die ganzen Bilder von ihnen standen, von Klara, Laura, Peter.

„Hast du gestern schon erwähnt, vorgestern auch. Jeden Tag erwähnst du das!“

Das könnte Peter erwidern. Tat er aber nicht. Er sprach über die Bilder, die Anna gemalt hatte und bei ihm im Arbeitszimmer hingen.

Das freute Anna und sie verabschiedeten sich.

Peter rief anschließend Klara an: „Deine Mutter sagt, saugen sei keine Arbeit für einen Mann!“

„Ich dachte, du bist schon fertig?“, sagte Klara enttäuscht. Sie war ein klein wenig wie unsere Kanzlerin – immer trocken, aufs Ergebnis aus.

Peter holte den Staubsauger raus, setze seine Lieblingsmütze mit der Aufschrift „Fischkopp“ auf und machte‘ ein ‚Selfi‘.

Gut, er musste noch ein wenig am iPhone herumdrücken, bis er wusste, wie es ging.

Schließlich hat er über WhatsApp an Klara das Foto mit Staubsauger und Mütze gepostet: „Mutti beim Saugen.“

„Schöner Mann“, schreibt sie zurück. „Find‘ ich ja auch“, antwortete Peter.

Ach, irgendwie mochte er Klara doch. Und Anna? Die würde er Morgen wieder anrufen, wie immer, na klar.

Mehr lesen: https://uwemuellererzaehlt.de/anna-ist-dement/

 

 

DIE SCHLEICHENDE WESENSÄNDERUNG VON ANNA

ANNA-2017.10.01

Anna spürte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Die Menschen um sie herum merkten es auch. Keiner wusste so richtig damit umzugehen.

Anna war depressiv, weil sie hautnah an sich mitbekam, wie ihr die Krankheit zusetzte. Lukas spürte das zuerst, weil er vor Ort wohnte, in der Nähe von Anna, seiner Mutter.

Klara legte den Hörer auf.

„Worüber habt ihr eben gelacht?“, fragte Peter.

„Stell dir vor, Mutti sagt, dass dies erst der Anfang mit ihr ist und es noch schlimmer wird. Das war irgendwie trotzig und lustig zugleich.“

„Sie bekommt schon mit, dass mit ihr etwas nicht stimmt“, sagte Peter.

„Das ist irgendwie traurig. Ich glaube, dass sie deswegen zwischendurch depressiv wird, weil ihr die Situation klar wird, in der sie sich befindet.“

„Das stimmt.“ Klara verstummte und Peter auch.

Am meisten war Lukas betroffen. Ihn traf alles zuerst. Anna ging zu ihrem Sohn auf den Hof, jeden Tag.

Selbst wenn sie sagte, sie sei nicht dort gewesen, so war sie es doch. Lukas konnte schlecht mit alledem umgehen.

Er hatte selbst mit sich genug zu tun. Erst kürzlich war er im Krankenhaus. Er war knapp einem Herzinfarkt entgangen und trug jetzt zwei Stents in seiner Brust. Anna hatte das kaum zur Kenntnis genommen.

Klara, Peter und Lukas waren darüber geschockt gewesen. Aber Anna hatte sich verändert.

Und sie würde sich weiter verändern. Lukas konnte das schwer verarbeiten oder gar akzeptieren. Anna war seine Mutter.
Und sie blieb es.

Sie war trotzdem eine Andere als die, die er aus seiner Kindheit kannte. Die, die für Klara und ihn alles getan hatte, immer für die Kinder da war – am Faden Schmalzstullen vom Balkon aus dem vierten Stock herunterließ, wenn Klara und Lukas unten spielten.

Und jetzt ging sie durch Stralsund mit einem Gesicht, als wollten alle etwas Schlechtes von ihr.

„Deine Mutter bleibt die, die sie war. Und sie wird trotzdem eine andere werden. Die Krankheit verändert ihre Wesenszüge. Sie kann nichts dafür.

Wir müssen auf sie eingehen. Sie kann es nicht mehr.“
Das waren alles richtige Worte, die Peter da aussprach.

Aber sie verhallten, denn es schmerzte zu sehr, die eigene Mutter so zu sehen, zu erleben, als sei sie ein fremder Mensch und würde sich immer weiter von ihnen entfernen.

Mehr lesen:  https://uwemuellererzaehlt.de/anna-ist-dement

DAS WIRD NOCH SCHLIMMER

2017.09.30-ANNA

Rückblick 2021 auf den Sommer vor dreieinhalb Jahren. Krümel ist noch nicht auf der Welt, aber alle in der Familie warten gespannt darauf, dass ein neuer Mensch auf die Welt kommt. Es war spannend und aufregend
In derselben Zeit verfiel Anna geistig immer mehr.
In wachen Momenten erkannte sie das selbst. Es war traurig, manches war komisch und manchmal konnte man gar nicht anders, als zu lachen.
Anna rief regelmäßig abends an. Doch die Telefonate waren nicht aufregend. Anna war nicht depressiv, sie sprach klar und man merkte nicht sofort, dass sie an Demenz erkrankt war.

Peter stand auf dem Parkplatz vor dem Discounter und überlegte, ob er die Telefonnummer von Anna wählen sollte.

Er saß im Auto und hatte Langeweile. Klara hatte ihn überredet, doch noch mal schnell beim Einkaufsmarkt vorbeizufahren.

Sie wollte dann gleich bei einem Discounter reinschauen. Dort konnte sie so schön wühlen und nach weiteren Stramplern und Babymützen suchen.

„Hoffentlich reißt du nicht das Dach ab und packst es bei deiner Kaufwut gleich mit ein.“

Klara reagierte darauf gar nicht. Sie war im Kaufrausch. Krümel war noch nicht auf der Welt. Aber sie nahm Stück für Stück einen größeren Platz im Denken ein, von Klara und Peter.

Laura hat ihren Geburtstermin Anfang Oktober. „Wir müssen jetzt einen Notfallplan aufstellen, damit wir wissen, was jeder zu tun hat, wenn es so weit ist“, sagte Peter zu ihr.

„Was soll denn das für ein Plan sein?“ Klara schaute ihn verwundert beim Frühstück an.

„Naja, wenn die Wehen bei Laura anfangen“, meinte Peter.

„Dann fällst du doch schon in Ohnmacht“, konterte Klara.

„Na dann versinkt eben alles im Chaos“, gab Peter beleidigt zurück. Peter wurde aus seinen Gedanken gerissen.

Ein Geländewagen sauste vor ihm heran und bog scharf in die freie Parklücke ein.

Eine Frau stieg aus, schlug ohne hinzusehen die Tür hinter ihrem Rücken zu und stürmte auf den Einkaufsmarkt zu.

„Wieder mal typisch“, dachte Peter. „Kann die sich nicht richtig in die Parklücke stellen?“

Das Auto stand mit zwei Rädern schon auf dem anderen Parkplatz. „Wahrscheinlich ist die gerade von der Arbeit gekommen und muss noch was für die Familie einkaufen.

Einfach haben die es ja nicht gerade“, dachte Peter versöhnlich. Peter hatte nichts zu lesen mitgenommen.

Er mochte nicht mitgehen, wenn sich Klara von einem Wühltisch zum anderen hangelte und ihre Begeisterung nicht zu bremsen war, wenn sie wieder mal ein paar Babysachen hochhielt.

So stellte sich Peter die Hölle vor: eine Menschentraube an den Wühltischen und keinen Stuhl zum Hinsetzen, wo man wenigstens die Leute beobachten konnte.

Das machte Peter dann schon mal gern. Jemanden beobachten, ihn einschätzen, was er wohl beruflich machte oder was das überhaupt für ein Mensch war, der vor ihm stand und in den Sachen herumfingerte.

Diesmal wartete Peter also im Auto. Er wählte die Nummer von Anna.

„Sturm!“, ertönte die Stimme von Lukas.

„Stör‘ ich?“, fragte Peter.

„Ich liege gerade auf dem Boden und repariere das Radio von Mutti.“

„Oh, dann will ich dich nicht weiter davon abhalten, wir können ja später telefonieren.“

„Ja“, antwortete Lukas. Peter drückte auf die rote Taste am Telefon. Bei Anna schien wieder der Teufel los zu sein.

Lukas hatte seine schlechte Laune am Telefon kaum verbergen können.

Klara war mit dem Einkauf fertig und steuerte auf das Auto zu. „Na, Dach auch eingepackt?“

„Guck doch mal, wie niedlich!“ Klara reagierte gar nicht auf die Frage von Peter.

Sie hielt ihm eine Baby-Decke vor die Nase, auf der lauter niedliche Tiere zu sehen waren.

„Mensch, die haben heute Sachen, da kann man nur staunen“, sagte Peter.

Jetzt war er auch begeistert und sah schon vor seinem Auge Krümel auf der Decke liegen. Er würde sie sogar windeln.

Das hatte er sich fest vorgenommen. Das war bei Laura noch anders.

„Ich habe Rückenschmerzen“, hatte er damals immer gesagt.

Doch nun war es anders. Er wollte für seine Enkelin von Anfang an da sein.

„Ich wollte deine Mutter anrufen“, sagte Peter und drehte den Zündschlüssel um.

„Und?“

„Dein Bruder war dran. Er ächzte und keuchte, lag wohl auf dem Boden wegen dem Radio deiner Mutter.“

„Schon wieder?“ Klara war entsetzt.

Gerade hatte Lukas ihr gesagt, dass er das Radio wieder hinbekommen hatte, nachdem Anna alles rausgerissen hatte. Sie fuhren schweigend nach Hause.

Abends rief Lukas zurück.
„Ich krieg noch einen zu viel“, stöhnte er sofort los.

„Warum?“, fragte Klara ihn.

„Mutti hört nicht zu. Sie lässt sich nicht erklären, was sie falsch gemacht hat und fragt ständig dazwischen. Du wirst wahnsinnig. Sie lässt sich nichts sagen, hört nicht zu, ist aufgeregt. Zum Schluss habe ich ihr gesagt, dass ich es nicht mehr aushalte.“

„Und was hat sie geantwortet?“

„Du brauchst hier nicht pampig zu werden, Lukas. Das wird noch schlimmer.“

Klara war still. Dann fing sie an zu lachen und Lukas stimmte ein.

Mehr lesen: https://uwemuellererzaehlt.de/anna-ist-dement/

PETER IST ALLEIN

ANNA

2017.06.04

Peter war nicht mitgefahren, zu Dr. Silberfisch nach Stralsund. Er konnte nicht von seinem Schreibtisch weg.

Er wollte noch einige Artikel fertigstellen. Trotzdem: Er war es nicht gewohnt, allein zu sein.

Dann musste er ja alles selber machen – das Frühstück, abwaschen und was eben sonst noch so im Haushalt anfiel.

Peter war nicht faul. Er schrieb, arbeitete ununterbrochen. Na gut, auf jeden Fall fühlte es sich so für ihn an.

Und wenn er jetzt vor dem Schreiben noch etwas tat, was körperlich anstrengend war, so fiel er danach erschöpft auf seinen Schreibtischstuhl und mochte nicht mehr arbeiten.

Die Kreativität ist dann weg, bildete er sich ein. Er pflanzte sich in dem Fall schon lieber vor den Fernseher, sah sich eine Talkshow an und fluchte über die, die meinten, das Leben, die Politik und die Menschen zu verstehen.

„Du kannst aufhören, in den Fernseher hineinzureden, denn dich hört keiner“, pflegte Klara zu sagen, wenn sie zufällig dabei war.

Heute musste Peter eine Entscheidung treffen – gleich an den Schreibtisch oder zuerst die ungeliebten Arbeiten im Haus?

Peter gab sich einen Ruck. Er ging in den Garten, holte den Rasenmäher heraus und wollte Klara mit einem frisch gemähten Rasenstück überraschen.

Also rollte er das Kabel von der Trommel und steckte den Stecker in die Steckdose am Rasenmäher. So, jetzt konnte es ja gleich losgehen. Doch es bewegte sich nichts.

Peter schlurfte in den Schuppen und schaute, ob er dort einen Schalter umlegen musste.

Er probierte es und knipste den Hebel auf die andere Seite. Aber jetzt. Peter ging schwungvoll zurück. Er drückte auf den Knopf am Mäher. Wieder nichts.

Hatte er etwa den falschen Hebel umgelegt? Davon waren ja zwei an der Steckdose. Peter probierte es noch einmal. Wieder nichts. Verdammt, Klara hatte bestimmt irgendeinen Trick, den sie ihm nicht verraten hatte.

Eigentlich wollte Klara gar nicht, dass Peter den Rasen quälte. Er mähte ihr immer zu viel vom Rasen weg, und außerdem mussten auch ein paar Blumen daran glauben, wenn er sich ans Werk machte.

Aber das kam ja nicht allzu oft vor. Peter kam nicht weiter, der Mäher sprang nicht an, obwohl er nun schon gefühlt einen kleinen Marathon zurückgelegt hatte – zwischen der Steckdose im Schuppen und dem Rasenmäher.

Peter überlegte. Kurzerhand schloss er die Wohnungstür auf, schleifte das Kabel hinter sich her und steckte es in die Steckdose im Gäste–WC. Die Kabeltrommel platzierte er im Waschbecken. Klara sah das ja nicht.

Der Mäher sprang sofort an und schnurrte. Peter konnte beginnen. Doch dann sah er die beiden Liegestühle.

Verdammt, die mussten auch noch beiseite geräumt werden. Schließlich kam er vorwärts und mähte entschlossen Streifen für Streifen.

Als er an den Kirschbaum kam, stieß er sich den Kopf und fluchte. Er hatte sich das nicht so vorgestellt. Eine kleine Rasenfläche und tausend Hindernisse. Peter vergaß, die Fläche hinter dem Baum zu mähen.

Er stellte die Liegestühle wieder an ihren Platz und begutachtete sein Meisterwerk.

Jetzt bemerkte er es: Er hatte eine kleine Ecke vergessen. Das Stück genau hinter dem Baum. Aber nun war der Mäher schon weggestellt, das Kabel aufgerollt.

Das ist nicht so schlimm, sagte sich Peter. Aber es ärgerte ihn trotzdem. Abends rief Klara an. „Na, wie hast du den Tag verbracht?“
„Och, ich habe den Rasen gemäht.“

„Was, das solltest du doch gar nicht!“ „Und ich dachte, du freust dich.“
„Ja, ich freue mich schon“, lenkte Klara ein.

„Aber, sag mal“, fragte Peter, „wo ist der Hebel für den Strom?“
„Welcher Hebel und welcher Strom?“ „Na, damit der Mäher anspringt, wenn ich das Kabel in die Steckdose am Schuppen stecke.“

„Da musst du im Wohnzimmer, hinter der Gardine den einen Schalter anmachen. Dann geht es.“

„Stimmt ja“. Jetzt ärgerte sich Peter, dass er nicht allein darauf gekommen war. „Und wie war es bei Dr. Silberfisch?“
„Das erzähle ich dir morgen.

 

Mehr lesen: https://uwemuellererzaehlt.de/anna-ist-dement/

ANNA

 

WIEDER MAL BEI DR. SILBERFISCH

ANNA

2017.06.03

 Klara war bei Dr. Silberfisch, gemeinsam mit ihrem Bruder Lukas.
Sie erzählte dem Arzt von Anna letzten Bankbesuch.

„Ich habe es auch schon bemerkt, dass Ihre Mutter nicht immer mehr auf der gedanklichen Höhe ist.“

Ja, da hatte er recht. Klara fuhr fort: „Herr Doktor, Sie müssen vielleicht ein paar Dinge wissen, die für uns eindeutige Zeichen einer beginnenden Demenz sind.“

„Was meinen Sie genau?“, hakt Dr. Silberfisch nach.
„Da war die Sache mit der Bank. Meine Mutter ist dort über Jahrzehnte Kundin. Eigentlich schon zu Ostzeiten.

Nur dass die Bank damals anders hieß und eine andere war.“
Dr. Silberfisch schaute sie schweigend an. Man merkte ihm an, dass er sich auf das konzentriert, was nun kam.

„Also um es kurz zu machen – meine Mutter hatte sich nach einer Beratung damit einverstanden erklärt, dass ihr gesamtes Erspartes in verschiedenen Fonds angelegt wird; insgesamt mehrere Tausend Euro.“

„Wirklich?“ „Ja, wirklich.“
„Können Sie sich vorstellen, wie geschockt wir waren?“
„Ja, durchaus.“ „Aber wie haben das denn die Berater angestellt?“

„Herr Doktor“, Klara blickte den Arzt fest an:  „können Sie sich vorstellen, wie sich ein älterer Mensch fühlt, dem eine Mitarbeiterin mit entschlossener Energie einen Fonds verkauft, und sie ihr zudem versichert, dass es das Beste für meine Mutter sei, was sie mit Geld anstellen könnte?“

„Ja, schon. Ich kann mir das vorstellen. Aber da gibt es doch eine ethische Komponente.“

„Sehen Sie Herr Doktor, da sind wir ganz einer Meinung. Aber meiner Mutter haben sie gesagt, dass es für eine große und auch ziemlich sichere Sache sei, wenn sie das Geld in verschiedene Aktien – und Immobilienfonds geben.“

„Was hat denn Ihre Mutter geantwortet?“
Sie meinte: „Na gut, dann machen Sie das.“

Und während die Mitarbeiterin die Anträge ausfüllte, da hat meine Mutter ihr erzählt, dass ihr Vater früher in der gleichen Bank gearbeitet hätte, und sie wüsste, was für eine schwere Arbeit die Mitarbeiterin jetzt beim Ausfüllen der Anträge leisten müsste.“
Dr. Silberfisch sagte nichts. Er war sprachlos.

ANNA

 

DIE ANZEICHEN MEHREN SICH

2017.05.29

Werbebriefe, die nimmt Anna für bare Münze, denkt, sie müsse diese unbedingt beantworten. Dort stand ja: „Liebe Frau Sturm, wir freuen uns auf Sie.

Schicken Sie die  Rückantwort noch heute ab. Ein wunderschönes Gratis-Geschenk wartet darauf, von Ihnen in Empfang genommen zu werden, liebe Frau Sturm!“

„Da muss man doch antworten“, meint Anna. Und sie wird böse, wenn man ihr nicht zustimmt.

Klara geht in das Hauptpostamt in der Friedrichstrasse und schildert ihre Situation. „Meine Mutter gibt ununterbrochen Geld aus, kauft eine Bluse nach der anderen.  Was soll ich nur tun?“

„Ich weiß genau, wovon Sie sprechen.“ Die Schalterangestellte zeigt viel Verständnis.

„DIE MACHT DER GUTEN GEFÜHLE: WIE EINE POSITIVE HALTUNG IHR LEBEN DAUERHAFT VERÄNDERT“
(FREDRICKSON/NUBER/HÖLSKEN)

„Mein Vater hat die Post versteckt. Er hat keine Briefe, keine Mahnungen mehr geöffnet.  Nur durch Zufall kamen wir dahinter.

Und das nur deshalb, weil uns der Stromanbieter informiert hat, dass sie den Strom bei ihm abstellen wollen.“

„Und was haben Sie daraufhin getan?“

„Wir haben uns von meinem Vater eine Vollmacht geben lassen, dass wir die Post zu uns umleiten können und ihm danach die Briefe aushändigen.“

„Was hat er gesagt?“
„Ihr wollt mich alle betrügen und ruinieren. Wenn das eure Mutter noch erlebt hätte! Schämt euch!“ Klara schaute ungläubig. „Das ist ja furchtbar.“

„War es auch. Schließlich aber hat er eingewilligt“, sagt der Postbeamte.

IM WARTEZIMMER VON DR. SILBERFISCH

ANNA

ANNA-2017.05.28

Klara fährt nächste Woche nach Stralsund. Sie will es ihrer Mutter vorher nicht sagen.

Sondern: Sie will – gemeinsam mit ihrem Bruder Lukas – zu Dr. Silberfisch.

Sie wollen ihn um Rat fragen, was sie tun können wegen ihrer Mutter Anna, wie es weitergehen soll, wie lange sie noch in ihrer Wohnung bleiben kann.

Die Praxis von Dr. Silberfisch steht bei Anna hoch im Kurs.
Das liegt nicht nur am Arzt, wenngleich sie schon lange Patientin bei ihm ist.

Da, wo die Praxis heute ist, da war früher eine Drogerie, Annas ehemaliger Arbeitsplatz.

Für Anna ist es schon deshalb ein Höhepunkt, wenn sie in die Praxis gehen kann.

Sie kennt sich dort immer noch gut aus.
Und Anna kommt heute noch ins Schwärmen.

Sie fängt gleich im Wartezimmer an zu erzählen, was dort früher war und wie die einzelnen Räume aufgeteilt waren.

„Und da oben, da haben wir immer Mittag gemacht, Schwester.“
„Ach ja?“, fragt Schwester Erika und verdreht die Augen verstohlen zu ihrer Kollegin.

Anna weiß nicht, dass sich die Schwestern heute Praxishelferinnen nennen.

Und das stört sie auch nicht im Geringsten.
„Manchmal, da haben wir dort auch Kaffee getrunken und Kuchen gegessen“, fährt Anna unbeirrt fort.

„Ach, das war schön.
Und die Kunden, die in die Drogerie hineinkamen, die mochten uns“, meinte sie.

„Frau Sturm, der Doktor wartet jetzt auf Sie. Bitte gehen Sie doch durch.“

„Ja, das mach‘ ich doch glatt.“
Anna ist im Arztzimmer verschwunden.

„Sooo…“, sagt Schwester Erika – also die Praxishelferin Erika.
„Das hätten wir jetzt wieder. Na ja, wer weiß, wie wir mal werden.“
„Meinst du?“, fragt ihre Kollegin.
„Na ja“, seufzt Erika, „wer kann das heute schon wissen?“

MEHR LESEN: https://uwemuellererzaehlt.de/anna-ist-dement/

ANNA

BERTA HAT AUFGELEGT

Anna kann sich die Namen ihrer Freunde und Bekannten nicht mehr merken.

Anna ruft an: „Es war schön gestern bei der Diamantenen Hochzeit.“
Anna hatte vergessen, dass Klara zur Arbeit gefahren war und dachte, sie träfe sie am Telefon an.

Jetzt musste sie mit ihrem Schwiegersohn vorlieb nehmen.

„Hattet ihr denn auch Musik?“, fragte Peter.
„Ja, Berta hat aufgelegt.“ „Oh, Donnerwetter!“, staunte Peter und musste schmunzeln.

Aufgelegt – war das nicht ein Begriff, der längst vergangen war? Oder ist er gerade hip, wenn man an die heutigen Veranstaltungen denkt, wo der DJ auflegt?

Jedenfalls: Anna sprach und dachte modern.
Trotzdem: Wahrscheinlich war das ein ganz normaler Recorder, auf dem die Musik spielte und zwischendurch die CD’ s gewechselt wurden.

Und das tat eben Berta. Sie war die beste Freundin von Anna, schon von Kindesbeinen an, und so wusste Berta auch, welche Musik Anna mochte.

„Waren denn Gäste da, die wir kennen?“, fragte Peter weiter. Anna überlegte kurz und sagte: „Nein, keine.“

Da war er wieder, der Gedächtnisverlust. Peter und Klara kannten bestimmt über die Hälfte derjenigen, die dort Gäste waren.

„Wie heißt noch gleich die Tochter von Berta, ich komme einfach nicht drauf“, fragte Peter jetzt.

„Na, Cornelia, das musst du doch wissen?“, sagte Anna vorwurfsvoll.
Ja, Anna hatte Recht. Peter musste und konnte es wissen.

Anna konnte es im ersten Anlauf nicht wissen, dass es jemand war, den Peter und Klara kannten, und sie musste es vielleicht auch nicht mehr.

Wie sollte man das alles werten?
War es ein schlechtes Zeichen, dass Anna erst nach dem zweiten Anlauf auf die Namen kam?

Oder sollte man es so nehmen, wie es eben war. Anna fiel es schwerer, auf die Namen von Freunden zu kommen, selbst auf die der engsten Freundin?

Peter und Klara entschlossen sich, es positiv zu sehen und Anna dabei zu helfen, sich zu erinnern.

MEHR LESEN:

https://uwemuellererzaehlt.de/anna-ist-dement/

ANNA

 

SIE HABEN GEWONNEN, FRAU STURM

Anna hält einen Werbebrief in der Hand, in dem ihr 8000 Euro Gewinn versprochen werden. Klara gelingt es nicht, Anna davon abzuraten, an die Firma eine Antwort zu schicken. 

„Ich hab‘ da vielleicht wieder eine Aufregung“, sagt Anna.

Sie hat Klara angerufen, eben wie immer täglich, gegen Abend.
„Was denn für eine Aufregung?“, fragt Klara. „Na, ich habe schon wieder 8000 Euro gewonnen.“

Prof. Dr. med. Silke Heimes hat ein Programm entwickelt, indem es um das Schreiben geht, darum, dass man sich gesund schreibt: „ich schreibe mich gesund – Mit dem 12-Wochen-Programm zu Gesundheit und Ausgeglichenheit“

„Mutti, du hast nicht gewonnen. Das ist ein Werbebrief. Und wenn du weiter unten liest, dann siehst du, dass du die Chance hast, zu gewinnen.  Eventuell. Aber das ist eher unwahrscheinlich.“

„Ich lese dir jetzt mal vor, was hier steht.“
Anna fängt an, den Werbebrief vorzulesen: „Liebe Frau Sturm, freuen Sie sich! Sie haben gewonnen…
Schicken Sie die Antwort noch heute zurück, und: Vergessen Sie nicht, den beiliegenden Bestellschein auszufüllen… Sobald wir Ihre Rückantwort erhalten haben, sind Sie mit dabei – bei der großen Verlosung für den Hauptgewinn in Höhe von 8000 Euro…Also schicken Sie den Brief noch heute ab, liebe Frau Sturm.“

Klara hat bis zum Schluss gewartet. Sie war dem Rat von Peter gefolgt und hatte ihre Mutter nicht unterbrochen.
Doch es fiel ihr schwer, ruhig zu bleiben, zuzuhören, nicht hineinzureden.

Doch nun platzte es aus ihr heraus: „Mutti, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen.
Das ist ein Werbe-Gag. Du bist eine von Tausenden, die wie du diese Post erhalten haben.  Der Brief erfüllt nur einen einzigen Zweck: Du sollst wieder eine Bluse bestellen, verstehst du das?“

„Ja, aber hier steht, ich habe gewonnen.“
„Mutti, jetzt zerreiß den Brief, und wirf‘ ihn in die Tonne!“
„Meinst du wirklich?“ „Ja!“
Klara konnte nicht mehr.

„Du erreichst nichts, wenn du auf diese Art mit deiner Mutter sprichst.  Anna hat doch jetzt nur ein schlechtes Gefühl, weiß aber nicht so richtig warum und wird dir beim nächsten Mal gar nichts mehr erzählen.“

Peter versuchte Klara zu erklären, dass sie so nicht weiterkam.

„Du hast gut reden. Du redest ja nicht jeden Abend mit ihr.“
Klara war bedient.

EINEN SATZ NACH DEM ANDEREN SAGEN

ANNA-2017.05.23

AUDIO: https://uwemuellererzaehlt.de/2021/05/25/anna-2021-05-25/
EINFÜHRUNG:
Laura ist zu Besuch. Peter versucht Laura zu erklären, warum Anna nicht mehr alles versteht.

Sonntagabend.

Klara hatte noch einmal bei Anna angerufen. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter nun vielleicht durcheinander war, weil Laura ihr am Telefon nicht richtig erklärt hatte, dass sie unverhofft aus Berlin zu Besuch gekommen war.

Es war für keinen leicht, mit der Demenz von Anna umzugehen. Nicht für Klara, für Peter nicht und auch nicht für Laura.

„Du musst mit Oma gehirngerecht kommunizieren.“

„Papa, was ist das für ein Quatsch?“, protestierte Laura.

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Was ich damit sagen will: Oma kann nicht mehrere Informationen gleichzeitig verarbeiten. Das verwirrt sie.“

BETTINA TIETJEN:
‚Unter Tränen gelacht: Mein Vater, die Demenz und ich‘

„Was meinst du?“, fragte Laura.

„Nun, du gehst an unser Telefon. Für Oma müsste jetzt Mama am Hörer sein. Stattdessen hört sie deine Stimme. Für sie wohnst du in Berlin und bist jetzt auch in Berlin.

Wir wiederum sind für sie da, wohin sie jetzt auch anruft, im Dorf in der Nähe von Berlin. Also solltest du erst einmal sagen, dass du bei uns spontan zu Besuch bist, in Brandenburg.“

„Spontan zu Besuch?“, fragte Laura dazwischen.

„Das versteht sie doch erst recht nicht.“

„Aber stell dir vor, du würdest die Informationen per Rohrpost versenden – ein Satz folgt auf den anderen, und sie gehen alle in die gleiche Richtung.

Da kannst du ja auch nicht mit dem letzten Satz anfangen, sondern du schiebst den ersten Satz zuerst durch.“

„Na gut Papa, das ist mir zu blöd.“ Peter schwieg. Laura lag vermutlich richtig.

Er war eben auch nicht trainiert auf die Kommunikation mit demenzkranken Menschen.

MEHR LESEN: https://uwemuellererzaehlt.de/anna-ist-dement/