Archiv der Kategorie: ALLTÄGLICHES

Mehr Erfüllung im Alltag finden; über einen winzigen Moment im Alltäglichen freuen;
nicht nur über die Arbeit stöhnen, lieber die guten und schönen Seiten in der eigenen Tätigkeit sehen, sie bewusst annehmen.

ANNA IST DEMENT (32)

WARUM KURZGESCHICHTEN?

Wenn Herausforderungen und Konflikte in der Pflege nur abstrakt beschrieben werden, erreichen sie die Menschen nicht. Leser wollen sich mit konkreten handelnden Figuren identifizieren können. 

 Ich habe mir schon oft den Kopf darüber zerbrochen, warum ich mir überhaupt die Mühe mache und mich mit einem Bein in die Gefilde des belletristischen Schreibens begebe. Eine schwierige Frage und eine einfache Antwort darauf gibt es wohl nicht.

Es sind vor allem Erkenntnisse und Erfahrungen, die ich im Verlaufe meiner freiberuflichen journalistischen Arbeit gesammelt habe, die mich überhaupt zu diesen Gedanken veranlassen.

Was meine ich?

Es ist ein Unterschied, ob du irgendeinen Vorgang in der Pflege lediglich beschreibst, oder aber, ob du versuchst, es so zu schreiben, wie es die konkreten Menschen erleben und manchmal auch darunter leiden.

Ein Beispiel: „Die Kommunikation mit Demenzkranken erfordert ein hohes fachliches Können, sensibles Herantasten im Gespräch, Verständnis und Herzenswärme.“

Was ist daran falsch, was ich gerade geschrieben habe? Vermutlich gar nichts.

Aber ich denke, der Leser überfliegt es, nimmt es zur Kenntnis und vergisst es wieder.

Wie aber ist es mit diesen Sätzen?

„Anna war am Morgen aufgestanden und fühlte sich nicht gut. Was war anders? Sie sollte zum Friseur. Aber wann? Sie wusste es nicht mehr.

Klara hatte es einen Abend zuvor mehrfach gesagt und Anna hatte noch mehr nachgefragt.

Anna griff zum Telefon und rief Klara an.

„Ich will nicht zum Friseur. Ihre Stimme klang aggressiv. Klara überlegte, was sie und wie sie antworten sollte.“

Du tauchst anders in die Situation ein. Du erfasst genauer, um was es hier geht, wie schwierig die einfachsten Dinge des Lebens in der Betreuung eines Demenzkranken konkret im Alltag aussehen.

Die Botschaft des Geschriebenen wird deutlicher, wenn die Hauptfigur ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Und nicht nur zum Gegenstand abstrakter Betrachtung wird.

Wie aber so etwas konkret umsetzen?

Indem ich reale Menschen charakterisiere oder aber eine Figur fiktional erschaffe?

Wie auch immer die konkrete handwerkliche Technik des Schreibens aussieht, ich will es schaffen, dass das Geschehen und die betroffene Figur konkrete Gestalt vor dem inneren Auge meines Lesers annimmt.

Das ist mein Anspruch, ein Experiment eben, das nicht immer gelingt. Aber der Versuch ist es allemal wert.

 

JEEPY (20)

KRÜMEL STÖSST DAS TINTENFASS UM
WAS BISHER WAR:
Die Kinder, Fiatine und Jeepys Fahrer haben damit begonnen, die Schatzkarte zu basteln.
Jeepy ist ein bißchen eifersüchtig auf die fröhliche und vorlaute Fiatine.

„Jetzt hört doch auf, euch zu streiten. Es soll doch auch Spaß machen. Schaut mal hier, auf Krümel.

Die sitzt schon auf dem Tisch“, sagte der Fahrer.
Und plötzlich rief er nur noch: „Nein, Krümel, nein.“
Aber es war schon zu spät.

Der Fahrer hatte das schwere Tintenfass aus Marmor mit nach unten gebracht, damit das weiße Blatt auf dem Tisch nicht wegrutschte.

Krümel hatte es schnell raus, den Deckel vom Tintenfass zu öffnen und war mit einem Finger hineingetaucht. Nachdem der Fahrer „nein Krümel, nein“, gerufen hatte, tunkte sie noch schnell einen weiteren Finger ein, denn sie ahnte, dass sie das nicht mehr lange durfte.

Krümel wischte anschließend die blauen Finger an ihrer Strumpfhose ab und später strich sie mit denselben Fingern über das weiße Blatt. Die ersten Flecken waren also auf der Schatzkarte.
„Was soll das sein?“, fragte jetzt ein kleiner Junge.

„Das sind kleinere Seen in der Umgebung. Das passt schon“, sagte der Fahrer schnell und hob Krümel von der Tischplatte, die das mit einem Geschrei quittierte.

„Wo treibt sich nur deine Mama rum“, fragte der Fahrer nun an Krümel gewandt. Doch die hatte auf dem Boden schon wieder einen kleinen Käfer entdeckt, den sie versuchte aufzuheben.
„Gut, Kinder, wer will den Startpunkt einzeichnen?“

JEEPY(9) DIE ERSTEN STRICHE AUF DER SCHATZKARTE

JEEPY (19)

DIE SCHATZKARTE BASTELN
WAS BISHER WAR:
Fiatine und Jeepy schaffen es, dass sich der Fahrer von Jeepy bereit erklärt, bei der Vorbereitung der Schnitzeljagd zu helfen.

„Guten Morgen, alle zusammen. Ich freue mich, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid“, rief der Fahrer von Jeepy.

„Hallo?“,  dachte Jeepy, „gestern Abend hatte der sich doch noch mit den Händen und Füßen dagegen gewehrt, dass er mithelfen soll. Und nun, da tut er so, als sei er der große Macher.“

Aber es war egal. Jetzt waren alle da: Fiatine, die Kinder, Krümel.
„Wo ist eigentlich dein Verkäufer?“, fragte Jeepys Fahrer Fiatine.

„Der ist schon in die Schorfheide gefahren und steckt die Strecke ab, schaut, ob alles in Ordnung ist, oder ob wir Gefahrenstellen umgehen müssen“, antwortete Fiatine.

„Sehr gut!“, rief da der Fahrer.
„So Kinder, aufgepasst. Wir stellen jetzt hier einen Tisch unten den Carport, also dort, wo normalerweise Jeepy steht. Aber der hat es uns erlaubt. Stimmts Jeppy?“

„Ja, gut“, brummte Jeepy, was sollte er machen.
Irgendwo musste ja die Schatzkarte entstehen.
„Fiatine, hast du die Buntstifte mit und den großen Zeichenblock?“, fragte nun der Fahrer.

„Jaha“, flötete Fiatine fröhlich.
„Die drängelt sich bei meinem Fahrer ganz schön in den Vordergrund“, dachte Jeepy.

„Du willst immer der Bestimmer sein“, sagte nun Jeepy an Fiatine gewandt.

„Wieso? Ich will doch bloß helfen!“, entgegnete Fiatine und war eingeschnappt.

JEEPY (8) – KRÜMEL STÖSST DAS TINTENFASS UM

 

JEEPY (18)

JEEPYS FAHRER WEISS MAL WIEDER VON NICHTS
WAS BISHER WAR:
Fiatine hat den Verkäufer im Autohaus herumgekriegt. Er ist jetzt mit Elan dabei, die Schnitzeljagd für die Kinder in der Schorfheide vorzubereiten.

Der Verkäufer hatte das Autohhaus verlassen.
Fiatine steuerte in Richtung Ausgang und öffnete die Türen von der großen Eingangshalle, über die die Autos hinein- und hinausgefahren wurden.

Sie konnte das tun, nachdem sie ein update erhalten hatte und so auch autonom, also ohne ihren Verkäufer, fahren konnte.

„Wo willst du hin?“, fragte Drängler mit den dicken Muskeln und dem offenen Verdeck. Fiatine hatte ihn so getauft. Er hieß offiziell anders. Aber das war Fiatine egal. Sie mochte den Angeber nicht, der sich bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund schob.

„Das geht dich gar nichts an!“, antwortete Fiatine schnippisch.
„Du willst doch bloß wieder zu deinem schmalbrüstigen Freund, dem Jeepy, der von vorn aussieht wie ein breiter Kämpfer und von hinten wie ein dünnes Hemd, dem sie vergessen haben, die Taschen anzunähen.“

„Das werde ich Jeepy erzählen, und dann wird er dir über deine überheblichen Vorderfüße fahren, bevor du dich überhaupt bewegen kannst“, rief Fiatine und sauste davon.

„Das werden wir ja noch sehen“, brüllte Drängler hinter ihr her. Aber die hörte schon nichts mehr, denn sie war auf dem Weg zu Jeepy.
Jeepy hatte sich im Carport bereits eingerollt und wollte gerade die Augen zumachen, als er Fiatine um die Ecke biegen sah.

„Was willst du denn hier?“, fragte Jeepy.
„Wir müssen reden.“
„Worüber denn?“

„Jeepy, ist irgendetwas da unten los?“, tönte nun aus dem Arbeitszimmer die Stimme des Fahrers.
„Nö, hier ist nur eine Katze, die mir schon wieder an den vorderen Reifen gepinkelt hat. Sie will wohl den anderen Katzen sagen, dass sie hier die Mäuse fängt.“

„Ach so, na dann scheuch sie weg“, rief der Fahrer und wandte sich wieder seinem Computer zu.
„Wir müssen leise sprechen“, flüsterte jetzt Jeepy.

„Hast du deinen Fahrer schon gefragt?“
„Wonach?“, fragte Jeepy und hob seine Scheinwerfer hoch.
„Na, ob dein Fahrer mitmacht bei der Schnitzeljagd!“
„Der? Der findet nicht einen Pilz, wenn Pilze sammeln im Herbst angesagt ist. Und wenn es nur eine Wurzel gibt, die aus dem Waldboden sichtbar herauslugt, glaube mir, mein Fahrer sieht sie erst, wenn er drüber gestolpert ist.“

„Das ist egal!“, sagte Fiatine jetzt bestimmt.
„Er kann uns zum Beispiel eine Schatzkarte basteln, Kreide besorgen, mit der wir die Pfeile an die Bäume malen und schließlich noch den Weg mit dem Verkäufer ablaufen.“

„Was ist denn hier los?“, fragte plötzlich mit drohendem Unterton der Fahrer. Er stand hinter Jeepy, weil ihn das Geflüster aufgeschreckt hatte und er die Treppe heruntergeschlurft war.

„Hier ist nichts los“, sagte Jeepy schnell.
„Ich spreche nur mit der Katze“, schob Jeepy noch nach.

„Und wer ist das?“ Der Fahrer zeigte auf Fiatine, die mit zwei ihrer zierlichen Räder auf dem Carport stand.

„Ach, ich bin die Freundin von Jeepy.“
„Freundin? Wieso weiß ich davon nichts.“
„Du weißt vieles nicht“, klinkte sich nun Jeepy in das Gespräch ein.

„Jetzt werd‘ mal nicht frech. Sonst wächst du hier die nächsten Tage an und ich steige in den kleinen Fiat hier ein.“

„Oh Gott, hätte ich doch bloß die Reifen stärker aufgepumpt“, dachte Fiatine und schaute ängstlich auf Jeepys dicken Fahrer.

„Lieber Fahrer, wir wollen dich um Rat und Hilfe bitten, weil wir ohne dich nie und nimmer unser Problem lösen können“, sagte jetzt Fiatine mit einschmeichelnder Stimme und schaute den Fahrer mit ihren himmelblauen Scheinwerfern an.

„Die quatscht den noch besoffen“, dachte Jeepy.
„Um was für ein Problem geht es denn?“, fragte der Fahrer und war sichtlich geschmeichelt, dass er um Rat gefragt wurde.

„Wir wollen eine Schnitzeljagd vorbereiten und da brauchen wir deine riesigen Erfahrungen im Laufen.“

„Ha, ha, im Verlaufen vielleicht. Wenn Fiatine wüsste, wie oft mein Fahrer mich schon gesucht hat oder vorher Bobby, in Berlins Strassen, weil er nicht mehr wusste, wo genau er war. Dann hätte die sich auf die Zunge gebissen und wäre lieber selber die Strecke abgelaufen“, dachte Jeepy.

„Oh ja, ich habe tatsächlich zahlreiche Erfahrungen sammeln können, wie man eine Strecke vorbereitet, sie markiert und wo man einen Schatz vergraben kann“, sagte nun der Fahrer mit stolz geschwellter Brust.

„Der buddelt sich doch selbst mit ein, wenn ich nicht aufpasse“, dachte Jeepy.

„Jeepy, du wirst mir helfen.“
„Helfen?“, dachte Jeepy.
„Bleibt doch eh alles an mir hängen.“

Und laut zu seinem Fahrer: „Ja, geht in Ordnung, ich helfe mit.“
„Juhu, das wird schön. Ich komme gleich morgen wieder und wir malen die Schatzkarte“, rief Fiatine und sauste davon.

„Die hat Energie, aber wieso kann die überhaupt ohne Fahrer durch die Gegend düsen?“, fragte der Fahrer nun Jeepy.

„Keine Ahnung“, antwortete er laut.
„Auch das noch. Das riecht nach Ärger, wenn der Verkäufer erfährt, dass Fiatine ohne sein Wissen hier war“, dachte Jeepy und seufzte nur.

JEEPY (17)

DER VERKÄUFER SOLL BEI DER VORBEREITUNG DER SCHNITZELJAGD HELFEN
WAS BISHER WAR:
Fiatine ist vom Ausflug mit Jeepy ins Autohhaus zurückgekehrt. Dort interessieren sich Kunden für Fiatine. Die Kunden wollen es sich aber noch überlegen und sich in den nächsten Tagen melden.

Der Verkäufer fiel erschöpft auf seinen Stuhl zurück.
„So, für heute reicht es“, sagte er müde zu Fiatine.
„Würdest du uns denn bei der Vorbereitung der Schnitzeljagd helfen?“, fragte Fiatine ihn.
„Lass mich in Ruh‘. Ich habe genügend andere Sorgen“, antwortete der Verkäufer.

„Ach, bitte, bitte, wir haben es doch den Kindern versprochen, dass wir eine Schnitzeljagd in der Schorfheide durchführen.“

„Wer ist eigentlich ‚wir‘?“, fragte der Verkäufer jetzt.
„Na Jeepy, sein Fahrer, du und ich“, sagte Fiatine.
„Konnte ich mir ja denken, dass hier wieder Jeepy mitdrinsteckt.“
„Und sein Fahrer, der weiß tatsächlich Bescheid?“, hakte der Verkäufer gleich nach.

„Naja, so richtig noch nicht. Aber Jeepy wickelt den doch um den Finger“, entgegnete Fiatine.

„Das muss ja ein ziemlich dicker Finger sein, um den Jeepy seinen Fahrer wickeln will“, sagte der Verkäufer.

„Der macht doch jetzt jede Menge Sport, weil er abnehmen will“, entgegnete Fiatine.

„Davon habe ich noch nichts gemerkt, als der Fahrer das letzte Mal hier war und sich auf das Sofa dort plumpsen ließ. Da passte keiner mehr rauf“, sagte der Verkäufer.

„Lass das den Fahrer bloß nicht hören, dann macht der erst recht nicht mit“, sagte Fiatine schnell.
„Also gut, was soll denn alles für die Schnitzeljagd organisiert werden?“, fragte der Verkäufer jetzt Fiatine und rutschte mit dem Stuhl zu ihr herüber.

„Die Kinder sollen eine Spur verfolgen und einen Piratenschatz suchen. Jeepys Fahrer wird den Schatz verstecken“, haspelte Fiatine schnell herunter.

„Wo soll der Schatz denn versteckt werden?“
„In der Nähe des Wildparkes Schorfheide. Schau mal hier“, sagte Fiatine und zeigte auf die Karte.

„Vor dem Eingang befindet sich ein kleiner Parkour Park.“
„Sollen die Kinder etwa darauf herumklettern?“, fragte der Verkäufer entsetzt.

„Nein“, beruhigte Fiatine ihn.
„Wir wollen nur, dass wir einen guten Anhaltspunkt für die Vorbereitung haben, denn sonst verläuft sich Jeepys Fahrer schon vorher“, sagte Fiatine.

„Lass ihn das mal nicht hören, sonst ist der schneller eingeschnappt, als du denkst.“

„Ja, ja“, antwortete Fiatine lapidar.
„Wir wollen nur, dass der Fahrer mit Kreide Pfeile an die Bäume malt und unten Hinweiszettel ablegt, die mit Steinen beschwert werden. Das wird er ja wohl schaffen.“

„Wollen wir es hoffen“, sagte der Verkäufer.
„Ich werde ihn darauf ansprechen, ob wir nicht im Vorfeld die Strecke ablaufen, damit wir uns ganz sicher sind, dass dort keine Gefahrenstellen für die Kinder sind“, ergänzte der Verkäufer noch. Er war jetzt voll mit dabei.

JEEPY (16)

EINE KUNDIN WILL FIATINE UNBEDINGT

KAUFEN

Fiatine will, dass der Verkäufer ihr bei der Vorbereitung der Schnitzeljagd hilft, aber da werden Kunden auf sie aufmerksam.

„Wie ist die genaue Bezeichnung für dieses Auto?“, fragte  der Ehemann der Kundin.
„Fiat 500“, sagte der Verkäufer.
„Ich heiße Fiatine.“
Die Kunden schauten ungläubig auf das kleine Auto.
Hatte es gesprochen?

„Du sollst doch nichts sagen, wenn ich dich verkaufen will, freche Göre“, zischte der Verkäufer.
Und laut wandte er sich an die Kunden:

„Dieser Fiat hat ein update, kann allein fahren, und sprechen kann er auch.“
„Ach wie süß. Schatz, den muss ich haben“, sagte die Kundin und strahlte vor Entzücken.
„Das ist doch eine Handtasche auf Rädern“, sagte ihr Mann.

Fiatine rollte unauffällig ein Stück nach vorn, direkt über den Fuss des Kunden.
„Da hast du die Handtasche“, flüsterte Fiatine dem Kunden wutentbrannt zu.

Der musste sich am Tisch aufstützen, so schmerzte ihn sein Fuß.
„Schon gut, war nicht so gemeint“, murmelte der Ehemann mit schmerzverzehrtem Gesicht.

„Was meinst du Schatz, sollen wir ihn nehmen, als Zweitwagen, für mich?“, fragte die Ehefrau in säuselndem Ton.
„Hm“, machte der Ehemann.

„Ach Hans-Georg, jetzt sei doch nicht so“, du willst dir doch bloß wieder einen ‚Rambo‘ wie den Jeep ‚Wrangler‘ zulegen.
„Na, lieber ein dickes Nashorn an der Hand, als eine bissige Katze im Wadenbein“, brummte der Ehemann.

„Hans-Georg, ich versteh‘ dich nicht“, was du hier wieder sagst.
„Hast du noch Alkohol von deinem angeblich so wichtigen Geschäftsessen im Blut? Und wer waren eigentlich die Damen, die dir noch so zuwinkten, als du gestern Abend aus dem Taxi gestiegen bist?“

Fiatine fand es lustig, den beiden zuzuhören und sie wollte, dass die Frau ihre neue Fahrerin wird. Sie würden sich gut verstehen.

„Also gut, von mir aus“, dann kaufen wir eben die Handtasche, äh, ich meine diesen himmelblauen Fiat.
„Wunderbar, aber das geht nicht gleich“, sagte der Verkäufer.
„Warum nicht?“, fragte die Kundin.

„Weil Fiatine noch eine Schatzsuche vorbereiten muss!“, sagte der Verkäufer entschlossen.
„Schatzsuche, Fiatine? Schatz, ich glaub‘ ich werde alt.“

Dem Ehemann war so, als würde der kleine Fiat ihm die Zunge herausstrecken und gleichzeitig seiner Frau zuzwinkern. Seine Frau wedelte mit der Hand, so als würde sie zurückwinken.

„Ja, sind denn hier alle verrückt geworden? Schatz, nimm‘ deine Truhe, äh, ich meine deine Handtasche, wir müssen erst einmal an die frische Luft.

„Das hat noch ein Nachspiel. Wenn die Kunden jetzt abspringen, dann kannst du das mit der Schatzsuche und ihrer Vorbereitung vergessen“, schnaubte der Verkäufer und ging den Kunden nach draußen hinterher.

JEEPY (15)

FIATINE KOMMT INS AUTOHAUS ZURÜCK

Fiatine war mit Jeepy unterwegs, im Modus des autonomen Fahrens. Sie haben Kindern eine Schnitzeljagd versprochen. Aber erst einmal muss Fiatine zurück zu ihrem Autohaus und ihrem Verkäufer.

Fiatine kehrte glücklich in das Autohaus nach Hoppegarten zurück.
„Na, wie ist es gelaufen?“, fragte der Verkäufer Fiatine.
„Es ist super gelaufen. Ich bin allein gelaufen, autonom, ‚Yppie-ya-yeah‘, ruft Fiatine glücklich.

„Na, dann hat sich das update bei dir ja gelohnt“,  sagte der Verkäufer zufrieden. Fiatine schaute den Fahrer weiter an.
„Ja, weißt du, ich habe doch keinen Fahrer, weil mich ja noch keiner gekauft hat“, sagt nun Fiantine zögerlich.

„Ach, das wird schon, und schließlich hast du ja auch noch mich“, sagte der Verkäufer. Fiatine fasste sich ein Herz und sagte: „Stimmt, ich habe ja noch dich, lieber Verkäufer. Und deshalb musst du mir helfen.“

„Wobei?“, fragte der Verkäufer ungeduldig, denn im Hintergrund warteten Kunden auf ihn und die wollte er auf keinen Fall verlieren.
„Wir haben unterwegs Kinder getroffen, die mit uns mitfahren wollten.“

„Das habt ihr ja wohl hoffentlich nicht gemacht“, sagte der Verkäufer mit einem drohenden Unterton zu Fiatine.
„Nein, das nicht. Aber wir haben ihnen stattdessen versprochen, dass wir mit ihnen eine Schnitzeljagd vorbereiten. Und du musst mir bei der Vorbereitung helfen.“

„Ich?“, fragte der Verkäufer entsetzt.
„Keine Zeit!“, setzte er nach.
„Ach bitte, bitte“, flehte Fiatine und schaute ihn in ihrem himmelblauen Kleid an.
„Was muss ich denn tun?“

„Du musst nur den Weg markieren, Pfeile mit Kreide an die Bäume malen, eine Schatzkarte zeichnen, eine Schatztruhe basteln, Geschenke besorgen und mit einer Gruppe mitlaufen.“

Fiatine hatte schnell gesprochen und war nun außer Atem.
„Das kommt überhaupt nicht infrage. Ja, glaubst du denn, ich sitze hier den ganzen Tag und mache nur Witze über die Kunden, die hereinkommen?“

Der Verkäufer war nun endgültig aus dem Häuschen. Seine Augen waren hervorgetreten, sein Gesicht krebsrot und die Stimme versagte ihm fast, so unverschämt fand er die Anfrage von Fiatine.

„Den ganzen Tag nicht, aber den halben, machst du Witze“, antwortete Fiatine. Schließlich stand sie ja direkt neben dem Tisch des Verkäufers.

„Noch ein Wort, und ich werde das update rückgängig machen, und du kannst an meinem Tisch stehen und so lange vor dich hinschmoren, bist du nichts mehr Wert bist.

Da fing Fiatine an, heftig zu weinen und zu schluchzen, sodass die Kunden auf sie aufmerksam wurden.
„Was hat die Kleine denn?“, fragte jetzt eine Kundin.

Und zu ihrem Mann gewandt: „Schatz, schau mal, was für ein herrliches himmelblaues Kleid dieser Fiat anhat.
„Das ist ein Auto und keine Kleine“, brummte ihr Mann.
Aber die Frau sah mehr in dem kleinen Fiat, als nur ein Auto.

DRITTER ANLAUF BEIM FRISEUR

„Gut, dass ich den Termin gemacht habe“, sagte Anna zu Lukas, als dieser sie wieder vom Friseur abholte.

Anna saß noch auf dem Friseurstuhl, auf dem Tisch vor ihr stand ein halbvolles Glas Sekt. Sie lachte und erzählte mit der Friseuse. Lukas verschlug es die Sprache.

Er musste gerade daran denken, wie viel Mühe es ihn gekostet hatte, Anna bis hierher zu bringen.
Zwei Stunden vorher: Lukas hatte Anna endlich soweit, dass sie loskonnten, um noch rechtzeitig beim Friseur zu sein. „Wo ist jetzt mein Briefkastenschlüssel?“, fragte Anna und wühlte in ihrer Tasche umher.

„Mutti, das kannst du doch machen, wenn wir vom Friseur zurückkommen. Ich möchte nicht zu spät kommen. Wir haben doch schon zweimal den Termin absagen müssen“, drängte Lukas sie.
„Absagen? Wieso absagen? Ich habe nichts abgesagt“, sagte Anna und schaute Lukas grimmig an.

„Mutti, ich habe einmal den Termin vereinbart, dann haben wir ihn wieder storniert, weil du nicht wolltest. Danach hat es Klara noch einmal versucht. Und wieder wolltest du nicht.“
„Ich? Das kann überhaupt nicht sein! Und wieso machen überhaupt die Berliner Termine beim Friseur für mich? Was soll das!“
„Mutti, wir meinen es doch nur gut.“

„Wo ist denn jetzt mein Schlüssel?“ Anna kramte weiter in der Tasche. Endlich hatte sie ihn gefunden und steckte ihn in das Briefkastenschloss und versuchte ihn umzudrehen. Er ließ sich aber nicht drehen.

„Was ist das hier alles? Ich werd‘ noch verrückt“, schnaubte Anna.
„Mutti, kann ich mal?“, fragte Lukas vorsichtig.
Es war geschafft, die Briefkastentür ging auf und als erstes fielen Lukas die Werbebriefe entgegen.

„Die schmeiße ich gleich weg“, sagte Lukas.
„Nein, wie kannst du so was machen! Ich will die lesen. Die schreiben mir.“
„Ja, Mutti, weil sie dein Bestes wollen, dein Geld. Deshalb haben sie dich so lieb.“

Anna schaute Lukas an, als würde der gerade von der Berechnung der optimalen Mondlandung sprechen. Als sie im Auto saßen und Anna schließlich angeschnallt war, konnte Lukas das Auto starten.

Anna schaute verdrossen aus dem Fenster. Ihre Stirn war gerunzelt und ihr Mund verzog sich zu einer Grimasse. Dazu stöhnte sie unentwegt.

„Mutti, jetzt freu dich doch ein bisschen. Schau mal, ich habe extra den Weg am Hafen vorbei genommen, damit du ein wenig auf das Wasser schauen kannst“, versuchte Lukas sie aufzuheitern.
Anna aber reagierte nicht.

„Hier lag das Boot von Onkel Gottfried“, sagte sie plötzlich.
Anna schien sich zu erinnern, ihr Gesicht hellte sich auf und sie schien in Gedanken von ihren schönen Kindheitsjahren eingenommen zu sein.

„Wir sind da“, riss Lukas sie aus ihren Erinnerungen.
„Weißt du, ich will gar nicht aussteigen“, sagte Anna jetzt.
„Mutti, du gehst jetzt da rein“, sagte Lukas mit letzter Verzweiflung zu ihr.

„Rede nicht in dem Ton mit mir“, sagte Anna zu ihm.
Lukas schwieg und Anna stieg aus.
„Schön, dass Sie kommen konnten“, begrüßte die Inhaberin des Friseurladens Anna.

„Ja, ich habe mir die Zeit genommen“, sagte Anna.
Lukas schaute betreten auf den Fußboden. Es sah aus, als versuchte er die dort herumliegenden Haare zu zählen, die noch nicht weggefegt worden waren.

„Möchten Sie ein Glas Sekt, Frau Sturm“, fragte die Inhaberin Anna.
„Ach ja, ein Glas kann man ja mal trinken.“

Die Inhaberin zwinkerte Lukas zu und der zog sich leise zurück.
„Wissen Sie, ich war ja früher viel auf dem Hof von meinem Onkel Taube. Er war Fischer“, sagte Anna zu der Friseuse, während die sich um die Haare von Anna kümmerte.

„Taube? Gottfried Taube“, fragte die Friseuse.
„Ja“, sagte Anna.

„Den kenn ich auch“, sagte die Friseuse zu Anna.
„Sagen Sie bloß!“, staunte Anna.
„Ja, mein Großvater hat mir ab und zu von ihm erzählt. Damals, als der selbst noch ein Fischer war.“

Lukas traute sich nicht Anna zu sagen, dass sie wieder loswollten.
Annas Wangen waren rot, sie saß aufrecht im Sessel und es schien, als wäre sie glücklich. Für den Augenblick wenigstens.

JEEPY (14)

 UPDATE FÜR FIATINE

Fiatine will ein 'update', damit sie automatisch, also ohne Fahrer (immer noch ihr Verkäufer) durch die Gegend fahren kann.

„Warum soll ich für dich schon ein ‚update‘ besorgen, wo du doch nicht mal einen Fahrer hast“,  fragte der Verkäufer Fiatine.
„Weißt du, wie viele Autos darauf warten, dass sie jetzt auch ohne Fahrer, also autonom, durch die Gegend fahren können?“, fragte der Verkäufer noch.

Da flossen bei Fiatine wieder die Tränen. Das konnte Jeepy nicht mit ansehen und wandte sich erneut an den Verkäufer: „Bitte, bitte, machen Sie doch eine Ausnahme für meine Freundin Fiatine“, sagte Jeepy.

„Ach, das ist deine Freundin, na da schau mal einer an.
Und wie kommst du hier überhaupt rein?“, fragte der Verkäufer Jeepy.

„Ich, och, ich bin hier nur zu Besuch und mein Fahrer hat mir ein ‚update‘ spendiert.“
„Na, wenn das so ist“, meinte der Verkäufer nun versöhnlicher.
„Dann macht doch mal einen Probeausflug. Ich schalte Fiatine vorher auf ‚update‘, zeitweise, und dann schaut ihr mal, wie ihr damit klar kommt.“

„Au ja“, riefen beide begeistert.
Als das ‚update‘ bei Fiatine erledigt war, da schossen beide nur so aus dem Autohaus.

„Passt bloß auf, dass ihr keinen Unfall baut“, rief der Verkäufer ihnen hinterher.
„Geht nicht, wir fahren ja autonom“, riefen die beiden zurück.
„Stimmt auch wieder“, knurrte der Verkäufer und ging zu seinem Platz zurück. Wo Fiatine sonst stand, waren nur Reifenspuren zu sehen.

„Fiatine, schau mal, siehst du die Kinder dort, die auf dem Spielplatz spielen?“.
„Ja, sehe ich“, rief sie zurück und hupte ganz laut.
Da erschraken sich die Kinder ganz doll.
„Fiatine, das darfst du nicht, die Kinder kriegen doch Angst vor uns“, sagte Jeepy.

„Ja, entschuldige, ich war nur so froh, dass ich hier draußen bin.“ Die Kinder hatten sich beruhigt und winkten jetzt Jeepy und Fiatine zu.
„Dürfen wir mit euch fahren“, fragten sie.

„Nein, das dürft ihr nicht. Wir sind noch in der Erprobung. Wenn wir jemanden mitnehmen, dann müssen unsere Fahrer dabei sein.“
„Ach schade“, sagten da die Kinder.

Jeepy überlegte eine Weile und da kam ihm eine tolle Idee.
„Wer hat Lust auf Schnitzeljagd?“, fragte Jeepy die Kinder.
„Oh ja, wir wollen eine Schnitzeljagd“, schrien alle auf einmal durcheinander.

„Darf ich auch mit?“, fragte Fiatine zaghaft.
„Aber natürlich. Du musst sogar mitmachen. Wer soll das alles allein schaffen!“, antwortete Jeepy.

„Kinder, dann fragt eure Eltern, ob ihr mitmachen dürft.“
„Und wir brauchen Erwachsene, die mitkommen“, rief Fiatine.
„Mein Fahrer kommt bestimmt mit, und du fragst den Verkäufer, solange du noch keinen eigenen Fahrer hast“, sagte Jeepy.

„Ja, mach‘ ich.“ Fiatine ist begeistert.
„Kinder, nächsten Samstag. In der Schorfheide, in der Nähe des Wildparkes. Da machen wir die Schnitzeljagd. Und Fiatine: Wir müssen jetzt zurück ins Autohaus. Dein Verkäufer ist bestimmt schon ganz aufgeregt. Ich fahre danach nach Hause und bitte meinen Fahrer, uns bei der Vorbereitung zu helfen.“
Fiatine und Jeepy brausten davon.

Die Kinder winkten ihnen zum Abschied hinterher und kreischten alle durcheinander, so aufgeregt waren sie wegen der bevorstehenden Schnitzeljagd.

JEEPY (13)

 ICH HEISSE AB SOFORT JEEPY

Der Fahrer schreibt seinen Jeepi ab sofort mit einem 'y' hinten dran.

Hallo Krümel,
ich bin’s, dein Jeepy. Du wirst dich fragen, warum ich jetzt nicht mehr mit ‚i‘, sondern mit ‚y‘ am Ende geschrieben werde. Meinem Fahrer gefällt das gar nicht so richtig, was alles in den letzten Tagen passiert ist.

Stell‘ dir vor, ich habe ein ‚update‘ bekommen. Als ich meinen Fahrer gefragt habe, ob er das für mich machen lassen würde, da hat der nur gefragt, was das alles soll, mit dem autonomen Fahren und so.

Aber Krümel, ich kann jetzt ganz allein durch die Stadt fahren. Ja, wirklich. Und das habe ich meinem ‚update‘ zu verdanken. Darum heiße ich jetzt auch ‚Jeepy‘, mit dem ‚y‘ hinten am Namen eben.

Ich kann auch auf Batterie umschalten, selbst das Lenkrad drehen und einfach mal aus dem Carport rausfahren, selbst wenn mein Fahrer oben sitzt und mal wieder keine Zeit für mich hat. Als erstes habe ich heute das Fiat-Mädchen mit dem himmelblauen Kleid besucht, im Autohaus in Hoppegarten.

Ich bin freudig auf sie zugefahren, als ich sie sah. Das geht ja, denn sie steht im Verkaufsraum und wartet auf ihren Fahrer, den eben, den sie ja noch nicht kennt. Erst hat sie so getan, als würde sie mich übersehen. Aber dann, als ich vor ihr stand, mich allein bewegte, da wurde sie munter.

„Hast du etwa schon das ‚update‘ bekommen?“, fragte sie mich ganz erstaunt.
„Ja, hab‘ ich“, sagte ich und strahlte sie an.
Da wurde sie ganz traurig und fing an zu weinen.
„Warum weinst du?“, fragte ich sie und wurde nun auch traurig.
„Weil ich noch keinen Fahrer habe, und kein ‚update‘.

Ich muss hier immer nur herumstehen und mir gefallen lassen, dass mich die Leute anfassen, meine Türen auf und zu schlagen und dann doch wieder gehen.“
„Das ist wirklich traurig“, habe ich zu ihr gesagt.
„Ich bin die Fiatine“, sagte sie mir noch.
„Und ich bin der Jeepy“, antwortete ich fröhlich.

Endlich sprach sie mit mir. Und weißt du was, Krümel, dann habe ich sie doch noch zum Lachen gebracht.
„Pass mal auf“, habe ich noch zu ihr gesagt, „bald wirst du auch einen Fahrer bekommen oder eine Fahrerin, wer weiß.“

Und weiter: „Aber vorher, da rede ich noch mit meinem Verkäufer, der ist nett. Ich werde ihn fragen, ob er für dich das ‚update‘ organisieren kann.“

„Das würdest du für mich tun?“, hat sie mich gefragt und mich dabei angestrahlt in ihrem himmelblauen Kleid.
„Ja, klar. Das machen wir. Und dann komme ich dich besuchen und wir fahren für ein oder zwei Stunden in der Gegend umher, ganz allein, ohne Fahrer.“

„Ach, toll“, hat sie gerufen und angefangen zu tanzen.
„Ja, wir können natürlich nicht in die Häuser rein, oder in den Einkaufsmarkt fahren. Da dürfen wir nicht rein.

Aber wir finden schon was Aufregendes, zum Beispiel im Regen durch die Pfützen donnern, vor allem den Kindern zuwinken, die in den Kindergärten draußen spielen, so wie Krümel, meine beste Freundin.“

„Kann ich denn auch deine Freundin sein?“, fragte mich jetzt Fiatine.
„Ja, kannst du, und ich werde dein bester Freund“, sagte ich noch.
„Was ist denn hier los?“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter uns.
„Ach nichts, lieber Verkäufer“, sagte ich.

„Wir haben nur mal eine Frage“, schob ich noch hinterher.
Aber davon erzähle ich dir morgen, lieber Krümel.

ANNA IST DEMENT (31)

ANNA WILL NICHT ZUM FRISEUR

Anna will nicht den Friseurtermin wahrnehmen, zum zweiten Mal nicht.

Anna lag auf der Couch und hielt eine Banane in der Hand, die sie ab und zu zum Mund führte, um ein Stück davon lustlos abzubeißen. Ihr Gesicht schien ausdruckslos und als Lukas das Zimmer betrat, verharrte sie in ihrem nahezu regungslosen Zustand.

„Mutti, wir haben doch gleich einen Friseurtermin und du hast dich immer noch nicht umgezogen.“

Annas Gesicht verdunkelte sich noch mehr. Ihre Gemütsregungen waren am Vormittag ganz besonders überschattet von ihrer Krankheit.

Sie hatte Angst, rauszugehen, auf andere Menschen zu treffen, sich in neue Situationen hineinzufinden.

Die Demenz hatte sie mürrisch, ja aggressiv gemacht. Erst zum Mittag hin, wenn die Krankenschwester zum Spritzen kam, wurde sie munterer.

Lukas ließ sich in einen der Sessel fallen und schwieg. Es war kurz vor zwölf und die Schwester musste jeden Augenblick an der Tür klingeln.

„Ach Schwester schön, dass Sie kommen und mir helfen, ich hab‘ ja sonst keinen“, sagte Anna bereits an der Tür zu ihr.
„Aber Sie haben doch Ihren Sohn.“
„Ach, der muss doch nur arbeiten.“

Anna schaute missmutig zu Lukas herüber. Lukas trafen diese Worte mitten ins Herz. Er wusste, seine Mutter war dement und man konnte nichts mehr von dem, was sie sagte, auf die Goldwaage legen. Aber es schmerzte ihn, trotz alledem.

„Was willst du eigentlich hier?“, fragte Anna ihn nun.
„Mutti, will nicht schon wieder bei der Friseuse den Termin absagen müssen, nur weil du keine Lust hast.“

„Ich will nicht und ich will mich dafür nicht entschuldigen“, sagte sie mit der Bockigkeit eines kleinen Kindes in der Stimme.

„Dann können wir dir nicht mehr helfen und wir müssen überlegen, ob wir dich für ein Heim anmelden.“

Anna saß eine Weile still und sagte plötzlich: „Meine Strähnen sind grau. Die müssen gefärbt werden. Kannst du mir mal den Mantel geben?“

Lukas schnellte aus dem Sessel hoch und holte aus der Flurgarderobe den Mantel seiner Mutter.

Er hatte ein schlechtes Gewissen. Schon wieder hatte er ihr mit dem Heim gedroht, aber was sollte er tun?

„Kommst du nun endlich?“, fragte Anna ihn und schwenkte ungeduldig den Haustürschlüssel.

JEEPY (12)

JEEPI – ICH ERZÄHLE DIE GESCHICHTEN

JETZT SELBST

Fortsetzung.

Hallo Krümel,
ich sitze gerade in dem Autohaus, wo alles seinen Anfang genommen hat. Heute ist ja der Reifenwechsel. Ich bekomme jetzt sozusagen meine Sommerschuhe.

Gleichzeitig hat mein Fahrer darum gebeten, dass bei mir ein kleiner Gesundheitscheck durchgeführt wird. Er meinte, dass es besser sei zu schauen, ob bei mir noch alle Schrauben fest sind. Hallo, hast du das gehört? Der will wirklich wissen, ob bei mir vielleicht ne‘ Schraube locker ist.

Er meinte, ich solle mich beruhigen, weil es ja nur zu meinem Besten sei. Aber weißt du, was das bedeutet? Ich kriege überall Schutzfolien an. Über das Lenkrad, den Sitz, den Fußboden. Das ist, als würden sie dir ein Operationshemd verpassen.

Na ja und dann werde ich auch noch nach oben gehievt und muss dort eine Weile so verharren. Aber was soll ich machen? Immer wenn es besonders unangenehm wird, sagen die Leute meist, es sei nur zu deinem Besten.

Achte mal in deinem Leben drauf, und du wirst sehen, wie oft dir dieser Spruch begegnet. Und dann prüfe lieber, zu welchem Besten es wirklich ist, zu deinem oder doch eher zum Besten desjenigen, der dir das einzureden versucht.

Aber na gut, bei meinem Fahrer liegt das auf der Hand. Er will, dass ich fit bin, wenn wir zur Ostsee hochfahren. Er denkt da an dich und an deine Mutter, weil ihr ja zusätzlich bei mir mitfahrt.

Übrigens, kaum war mein Fahrer im Autohaus und hatte mich zum Check abgegeben, da ist er schon durch die Hallen gewandert und hat sich die anderen Autos angeschaut. Da steht zum Beispiel ein kleines Fiat-Mädchen mit einem himmelblauen Kleid an.

Die sieht richtig schick aus. Ich habe ihr ein paar Mal zugezwinkert. Aber die hat nur mit ihren kleinen Spiegeln gezuckt und sich gar nicht weiter um mich gekümmert. Vielmehr hat sie einem großen und starken Jeep schöne Augen gemacht.

Er heißt ‚Wrangler‘. Der hat dicke Muskeln, einen breiten Oberkörper und er steht ziemlich breitbeinig herum, der Angeber. Der Verkäufer wollte auch gleich mit meinem Fahrer einen Beratungstermin ausmachen, damit mein Fahrer mich umtauscht, gegen diesen Muskelprotz.

Aber der hat geantwortet: „Wir haben uns mit Jeepi angefreundet und das ist auch der Freund von meinem Krümel.“
Der Verkäufer hat nur stumm genickt und meinem Fahrer prüfend ins Gesicht geschaut, so als würde er wissen wollen, ob die Sekretärin vorne am Tresen ein Aufputschmittel in die Kaffeemaschine hineingetan hat. Endlich war es soweit.

Ich wurde von den ganzen Verkleidungen und Abdeckungen befreit und kam mit den neuen Sommerreifen herangerollt. Mein Fahrer war begeistert. Wir sind fröhlich pfeifend, ich meine hupend vom Werkstatthof gefahren und Richtung Heimat gedüst.

Unterwegs haben wir überlegt, ob wir noch schnell einen Abstecher zu dir rein, in die Kita machen. Aber dann hat mein Fahrer sich wieder für seinen doofen Schreibtisch entschieden.

Seitdem stehe ich hier im Carport und denke an dich. Am Sonntag kommen wir angebraust. Dann kommst du runter und kannst mir ja mal ‚Guten Tag‘ sagen. Ich würd‘ mich jedenfalls freuen.
Bis Sonntag, dein Jeepi

JEEPY (11)

JEEPI – ICH ERZÄHLE DIE GESCHICHTEN

JETZT SELBST

Fortsetzung.

Hallo Krümel, hier ist wieder Jeepi, wie jeden Freitag. Weißt du was? Ich kriege heute neue Schuhe, die für den Sommer. Ich meine natürlich Räder, du verstehst schon.

Mein Fahrer, der hat mich vor zwei Tagen extra zum Waschen und Fönen geschleift, obwohl es geregnet hat. Ich bin halb trocken wieder aus der Waschanlage hinausgedrängelt worden. Da kennt mein Fahrer nichts.

Er sagt zwar, dass er mich sehr gern hat, aber überleg‘ doch mal selbst: Würdest du, den du gern hast, mit nassen Haaren in den Regen schicken und sagen, dass der Rest vom Wind getrocknet wird? Wohl eher nicht. Siehst du!

Aber mein Fahrer, dein Opa, der macht so etwas. Ich bin ihm aber nicht wirklich böse. Wir sind ja in dem dreiviertel Jahr gute Freunde geworden. Überleg mal: Als du acht Monate alt geworden bist, da hat dein Opa, mein jetziger Fahrer, mich gekauft.

Und nun bin ich schon acht Monate mit meinem Fahrer zusammen. Also genau die Hälfte deiner Lebenszeit kennen wir uns nun auch schon. Und darüber bin ich richtig froh.

Wenn ich nur mit meinem Fahrer zusammen auf Tour gehen würde, das wäre nichts für mich. Schau mal, was wir schon gemeinsam erlebt haben. Du bist mit mir gleich am Anfang nach Rügen an die Ostsee gestartet. Dort habt ihr mit euren Füßen nach dem Strand fast meinen ganzen Fußboden versandet.

Wir waren Weihnachten in Sassnitz. Da bist du fröhlich in der Ferienwohnung umhergelaufen und ich musste draußen frieren. Und dann, du erinnerst dich bestimmt, sind wir zu deiner Oma gefahren und wir haben sie in der Reha-Klinik besucht.

Auf der Hinfahrt hast dich zweimal übergeben, weil dein Kreislauf noch nicht die vielen Kurven verkraftet hat. Na, mein Fahrer hätte auch mal einen Gang runterschalten können.

Ich freu‘ mich schon auf Ostern, wenn wir wieder gemeinsam nach Rügen fahren. Und du wirst wahrscheinlich auf der großen Fahrt einschlafen, aber hoffentlich dein Opa nicht. Aber du, du darfst das.

Außerdem spüre ich dadurch, dass du dich bei mir wohl und sicher fühlst.

Mein Fahrer sagt manchmal zu mir: „Dicke Autos fahren, das kann jeder. Aber eine Freundschaft pflegen, wie zwischen uns allen eben, das geht nur mit Jeepi.“

Bis bald Krümel. Heute Abend erzähle ich dir, wie es beim Schuh…, äh, ich meine Reifenwechsel gelaufen ist. Bis dahin wünsche ich dir einen schönen Tag in der Kita.
Dein Jeepi.

ANNA IST DEMENT (30)

DIE BREMER KOMMEN

Fortsetzung

„Wer war denn dran, am Telefon?“, setzte Peter erneut an.
„Ach weißt du, das waren nur die Bremer. Sie wollen mich gleich besuchen.“

„Und freust du dich?“, hakte Peter nach.
„Nö“, sagte Anna wieder leicht gereizt. Anna erzählte Klara abends davon, wie sehr sie unter dem Alleinsein litt. Und nun kam jemand. Das war ihr auch nicht recht.

Doch das waren die Gedanken eines gesunden Menschen. Anna fühlte sich einsam, konnte aber auch nicht mehr damit umgehen, dass ihre Tagesstruktur durchbrochen wurde – essen, spritzen, essen, schlafen, spritzen, fernsehen, telefonieren. Das klingt gleichförmig. War es auch. Aber für Anna war jeder Teil für sich eine Herausforderung.

„Hast du denn schon ein zweites Frühstück gemacht?“ Peter musste das unbedingt fragen. Deshalb rief er überhaupt an, denn er teilte das anschließend Klara mit. Es ging um die Zuckerwerte von Anna, die stabil gehalten werden sollten. Waren irgendwelche Auffälligkeiten, dann informierte Klara anschließend Lukas und der machte sich auf den Weg zu Anna.

Das Netz der Betreuung war dicht geflochten und es wurde zunehmend enger.
„Ja, hab‘ ich.“
„Was hast du denn gegessen?“
„Weiß ich nicht mehr.“
Peter schwieg, machte eine Pause. Das war manchmal besser, für beide Seiten.
„Was gibt es denn zu Mittag bei dir?“, fragte er jetzt.
„Weiß ich nicht, muss ich gucken.“ Aus Anna war nichts herauszubekommen.
„Und weißt du denn, wie lange die Bremer bleiben?“
„Das ist mir scheißegal! Das interessiert mich überhaupt nicht.“

Anna mochte die Bremer, sie hatte sich immer für sie interessiert. Aber nun war es scheißegal. Was treibt einen Menschen an, wenn ihm alles egal ist? Das fragte sich Peter.

Es war wieder die falsche Frage, auch wenn er sie sich nur im Stillen gestellt hatte. Ihm war es nicht egal, und er war gesund, geistig, noch jedenfalls. Anna hatte mit ihrer Demenz zu kämpfen.

Peter musste sich beim nächsten Mal wieder an Annas Gemütsbewegungen gewöhnen und sie mit einer kleinen Geschichte von Krümel aufheitern. Dann lachte Anna, meistens.

ANNA IST DEMENT (29)

DIE BREMER KOMMEN

Anna hat schon wieder das Telefonat mit den Bremern vergessenen, obwohl sie gerade erst mit ihnen gesprochen hat.

Das Telefon war besetzt. Peter versuchte es nach fünf Minuten noch einmal. Jetzt hatte er sich gerade durchgerungen und nun ging Anna nicht ran, weil sie wahrscheinlich selber telefonierte.

Vielleicht rief sie ja wieder seine Eltern im Dresdner Pflegeheim an. Das hat sie Jahrzehnte nicht getan, doch nun tat sie es und verneinte das vehement, wenn Klara sie danach fragte.

Peter wusste es von Klara und die wiederum von Peters Vater. Er sprach mit ihm kaum. Das übernahm Klara. Sie war diplomatischer und keiner musste nach einem belanglos beginnenden Telefonat den diplomatischen Abbruch fürchten.

Aber das mit Peters Eltern, das war eine Story für sich. Bei Anna lagen die Dinge anders. Peter hatte Klara versprochen, sich täglich am Vormittag für ein paar Minuten um Anna zu kümmern.

Die Gespräche verliefen ziemlich gleich und wiederholten sich, manchmal Wort für Wort.

Zum Beispiel, dass die gegenüberliegende Häuserwand so scheußlich feucht aussah. Heute nun lief das Telefonat nicht in seinen gewohnten Bahnen. Als Peter sie zum zweiten Mal anrief, da ging Anna ran.

„Hast du gerade telefoniert?“, fragte Peter.
„Nein. Wie kommst du darauf?“

Peter musste schlucken, weil es ihm schwerfiel, einfach zu glauben, dass Anna nicht mehr wusste, dass sie gerade mit jemanden gesprochen hatte.

„Ich komme darauf, weil dein Telefon besetzt war. Also musst du zwangsläufig mit jemandem kommuniziert haben.“

„Was hab‘ ich gemacht?“ Annas Stimme klang leicht gereizt.
Das war immer so, wenn sie etwas nicht verstand. Dann war natürlich der andere daran schuld.

In diesem Fall Peter. Er gab Anna im Stillen Recht. Musste er dieses hochtrabende Wort ‚kommunizieren‘ nehmen?

Bei jeder Autorenschulung würde man dafür sofort eins auf den Deckel bekommen, weil es ja schlichter formuliert werden könnte, so wie ‚sprechen‘, ‚mit jemandem unterhalten‘, ‚mit jemanden telefonieren.“

Warum also gerade kommunizieren? Peter wusste es nicht. Gerade er, der ein Gegner von schwülstigen Ausdrücken war, die oft intellektuelles Getue zum Ausdruck brachten und in Wirklichkeit Worthülsen waren, mit denen man den anderen beeindrucken wollte. Das ging im Gespräch mit Demenzkranken nun schon gar nicht.

JEEPY (9)

JEEPI – ICH ERZÄHLE DIE GESCHICHTEN

JETZT SELBST

Fortsetzung.

Hallo Krümel, ich stehe hier unter dem Carport und keiner denkt an mich.
„Mir ist langweilig“, hat deine Mama in solchen Fällen zu meinem Fahrer gesagt. Der lässt sich gar nicht blicken. Er arbeitet, angeblich. Dabei stöhnt er schon den ganzen Tag rum, weil er die Zimmer saubermachen will. Seine Frau, also deine Oma, ist ja zur Kur.

Und da hat er vorige Woche einfach mal das Saubermachen ausfallen lassen. Aber jetzt sieht er überall die kleinen Fussel. Die Tage zuvor hat er sie einfach aufgehoben und in die Hosentasche gesteckt. Doch nun ist es einfach zu viel für ihn.

Also hat er den Staubsauger herausgeholt und angefangen zu saugen. Danach ist er gleich vor Erschöpfung in den Sessel gesunken, und keiner war da, der ihn bemitleidet hat. Nun kommt der Knaller. Mein Fahrer hat freiwillig noch die Treppen gewischt. Das macht er sonst nie, sondern überlässt es deiner Oma.

Er hat ihr gleich ein Foto geschickt. Da war er mit dem Eimer und dem Wischlappen drauf zu sehen. „Schnau…. voll“, stand in der Bildunterschrift.

Das sagt man eigentlich nicht, lieber Krümel, deshalb schreibe ich das Wort auch gar nicht erst aus, was mein Fahrer hier gesagt hat. Später rief deine Oma an und mein Fahrer wollte ihr stolz berichten, was er alles getan hatte.

Und was war die Reaktion?
„Du hast doch nicht etwa die Treppen feucht abgewischt?“, fragte sie ihn. Mein Fahrer war sauer.
„Wie denn sonst?“
„Naja, ich wische sie immer trocken ab“, sagte sie.
„Das ist jetzt egal, ich habe sie jedenfalls feucht abgewischt.“

Mein Fahrer war enttäuscht. Er dachte nämlich, er bekäme ein dickes Lob von deiner Oma. Dabei hatte er ihr noch gar nicht erzählt, wie lange er gebraucht hatte, um zu verstehen, wie der Wischlappen aufgezogen wird.

In den Wischeimer hatte er einfach Spülmittel und Fettlöser aus der Küche genommen. Er hatte die richtigen Reinigungsmittel nicht gefunden. Die standen so in der Ecke, dass man hätte alles ausräumen müssen. Mein Fahrer hat es versucht. Aber da flogen ihm gleich die ersten Sachen entgegen.

„Wir gehen heute ein Eis essen“, sagte deine Oma zu ihm am Telefon.
„Eis essen, während der Kur?“, fragte mein Fahrer.
„Ja, denn heute ist ja Frauentag.“
„Ach du Sch….“, stöhnte mein Fahrer auf. Jetzt muss ich schon wieder Punkte machen, Krümel. Dein Opa hat sich nicht im Griff. Er ärgerte sich einfach, dass er den Feiertag vergessen hatte.

Wie konnte er das wieder gutmachen? Er wusste das nicht.
„Bist du für Morgen gut vorbereitet, für deine Lesung zum Frauentag?“, fragte deine Oma nun versöhnlich.
„Ja, wie gut, dass wissen wir erst nach der Lesung.“
„Ich drück‘ die Daumen“, sagte Oma.

Mein Fahrer bedankte sich. Er würde am Sonntag einen Blumenstrauß mit in die Reha-Klinik nehmen. Ach Krümel, ich freue mich auf Morgen, denn da fahren wir endlich wieder ein Stück. Nach Altlandsberg. Da gibt es einen Verein, der heißt „Helfen hilft“. Mein Fahrer findet den klasse.

Dort arbeiten Menschen, die nicht viel fragen, sondern anderen Menschen helfen, mit Lebensmitteln, Sachen zum Anziehen und noch vielen anderen Dingen.

Deshalb gibt sich mein Fahrer sicher Mühe, denn er will ebenfalls für diesen Verein etwas tun, mit seiner Kraft und seinen Möglichkeiten eben. Morgen, da ist dort eine kleine Feier, zum Frauentag, und mein Fahrer liest ein paar kleinere Geschichten vor.

Ich warte natürlich draußen. Ich bin zwar nur ein kleiner Jeep, aber die Treppen komme ich ja trotzdem nicht hoch. Aber ich krieg schon raus, wie es war. So lieber Krümel, davon erzähle ich dir das nächste Mal.
Dein Freund Jeepi.

ANNA IST DEMENT (28)

ANNAS SCHLEICHENDE

WESENSÄNDERUNG

Annas Wesen ändert sich nicht merklich, eher unmerklich, aber dafür stetig.

Es fängt mit Kleinigkeiten an, so war es auch bei Anna. Mal hat sie etwas vergessen, dann wieder fühlte sie sich einsam.
„Wir müssen uns damit abfinden, dass Anna nie wieder so wird, wie sie all die Jahre war.“

„Dir fällt es leichter, das zu sagen als mir, denn ich bin die Tochter“, entgegnet Klara Peters Überlegungen. Peter sagte nichts. Er wusste, dass Klara hier richtig lag. Doch was nützte es, man musste sich ja trotzdem der neuen Situation stellen.

„Ich glaube, wir helfen Anna mehr, wenn wir uns auf sie noch besser einstellen, einfach akzeptieren, was sie tut, was sie sagt und auch wie sie es sagt.“

Peter wusste, dass es vor allem theoretische Gedanken waren, die sicherlich ihre Berechtigung hatten. Doch wie war es im Alltag?
Gestern rief Peter an. Anna war seelisch am Boden. Sie hatte einen Arzttermin verpasst. Besser gesagt, sie hatte ihn auf der Couch verschlafen.

„Ich werde mal Lukas informieren, damit er sich darum kümmert, und wir einen neuen Termin bekommen“, meinte Peter zu Anna.
„Nein, das möchte ich nicht. Ich kläre das allein.“

Peter wollte ihr sagen, dass Lukas sich stets um alles kümmerte.
Er ging mit Anna einkaufen, er begleitete sie zum Zahnarzt, besuchte sie täglich in ihrer Wohnung, schaute nach dem Rechten.

Warum also reagierte sie so schroff? Schämte Anna sich, dass sie den Termin versäumt hatte?
Peter griff kurzerhand zum Hörer und wählte die Telefonnummer der Arztpraxis.

„Ich kann gar nicht glauben, dass meine Schwiegermutter gestern einen Termin bei Ihnen hatte“, sagte Peter zur Helferin.

„Doch, sie hatte gestern einen Termin.“
„Donnerwetter“, entfuhr es Peter.

Die Helferin musste lachen. Sie waren sich schnell einig und hatten einen neuen Termin vereinbart.
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„Trag‘ dir doch den Termin gleich ein“, sagte Peter später zu Anna am Telefon.
„Das mach‘ ich sofort“.  Anna wirkte jetzt gelöst.

Am Nachmittag ging Lukas mit Anna auf den Friedhof. Blumen am Grab von Wilhelm niederlegen, Annas Mann.

Wilhelm war nun schon 19 Jahre nicht mehr da. Doch er fehlte Anna sehr. Anna wollte erst gar nicht Blumen kaufen, kein Geld ausgeben.
Das war neu. Lukas übernahm das und kaufte die Blumen.

„Seid ihr denn heute am Grab von Wilhelm gewesen?“, fragte Peter sie abends.

„Ja, ich war da, und ich habe Blumen besorgt und sie zu seinem Geburtstag hingelegt“, sagte Anna.
„Na wunderbar“, antwortete Peter.

ANNA IST DEMENT (27)

DER TÄGLICHE ANRUF BEI ANNA

Die tägliche Kommunikation mit Anna wird schwieriger. 

Der Anruf bei Anna ist eine Sache wie du eben jeden Tag deine anderen Aufgaben in der to-do-Liste abarbeitest.

Das denke ich, doch es ist die pure Theorie. Die Wirklichkeit, die sieht anders aus, und zwar jeden Tag anders.

Gegen 10.00 Uhr schrecke ich hoch, weil ich das Erinnerungstool am iPad mal wieder aktiviert habe und mich doch über die Störung ärgere, wenn es dann tatsächlich soweit ist.

Ich greife zum Telefon und stehe vom Schreibtisch auf, um ein wenig umherzugehen. Es dauert eine Weile, bis Anna den Hörer abnimmt.

„Wie ist das Wetter bei dir?“, frage ich sie zu Beginn. Ich frage das stets zuerst. Nicht das mich das wirklich interessieren würde, da bin ich ganz ehrlich.

Nein, wirklich nicht. Ich könnte den Tag glatt ohne diese Information verbringen. Aber es geht ja nicht um mich. Es geht um Anna. Und die lässt sich Zeit mit der Antwort.

„Weißt du, es ist windig draußen?“, sagt sie nach einer Weile schleppend.

„Warst du denn auf dem Balkon?“, frage ich.
„Nein. Warum?“

„Nun, um den Wind zu spüren.“
„Ach, ich geh‘ doch jetzt nicht auf den Balkon!“

Anna wirkt gereizt, unausgeglichen, störrisch. Ich bleibe ruhig. Ich habe schon ein wenig gelernt. Nicht viel vielleicht, aber ein bisschen jedenfalls.


„Wir dürfen Anna ihre eigene Wesensänderung nicht zum Vorwurf machen“, sage ich zu Klara noch heute Morgen im Auto.

Das ist ein toller Satz, finde ich. Den musst du doch erst mal so formulieren.

Aber ich kann mich nur selbst loben. Ein anderer wird das nicht tun. Klara auf keinen Fall.

Sie antwortet gar nicht. Ich weiß auch warum. Sie denkt: „Na hoffentlich hält der sich selbst daran.“ Ja, das tue, in aller Regel.

Also frage ich Anna weiter: „Hast du denn schon ein zweites Frühstück gemacht?“

„Ne.“
„Willst du es noch machen?“
„Ja, aber nur ein kleines Brötchen. Sonst habe ich mittags keinen Hunger.“

„Ja, das verstehe ich“, sage ich sofort.
„Machst du dir denn auch was zu essen?“, fragt Anna mich.
„Nein, ich werde sonst müde. Und ich muss doch danach weiterschreiben.“


„Das kenne ich nicht.“ Na das glaube ich dir aufs Wort, denke ich. Sage es aber nicht.
„Weißt du, wenn ich etwas Warmes zu mir nehme, dann habe ich danach die Stunde der ‚toten Augen‘“, entgegne ich stattdessen.
„Stunde der ‚toten Augen‘, was ist denn das für ein Quatsch?“

Ich merke, wie langsam meine Schilddrüse anfängt zu pumpen.
Wie gerne würde ich darauf eine knackige Antwort geben, ganz in der mir eigenen Art.

Aber das darf ich nicht. Ich habe es Klara versprochen. Sie freut sich, wenn ich Anna anrufe, aber nur dann, wenn ich mich an die Spielregeln halte. Und das heißt, Anna ist dement, und wir sind diejenigen, die sich darauf einstellen müssen, nicht umgekehrt.

ALDEHEID ALDINGER – EIN BESONDERER MENSCH

Adelheid Aldinger schrieb mir vor einiger Zeit in einer persönlichen Botschaft: „Komm doch mal vorbei, wir haben am 15. Dezember unsere Weihnachtsfeier“. So erinnere ich mich jedenfalls.

In den vergangenen Jahren hatte ich immer wieder abgesagt. Ausgerechnet dieses Jahr ist an diesem Tag eine Galaveranstaltung in der Staatsoper. Gute Freunde haben mich eingeladen.
Ich konnte also wieder nicht nach Altlandsberg kommen.
Adelheid blieb trotzdem dran und lud mich gestern zum Weihnachtskaffee ein. Sie hatte den Tisch gedeckt. Es war Kaffee da, Lebkuchen und Topfkuchen.

„Wir haben uns bestimmt zwei Jahre nicht gesehen“, sage ich zu ihr.
„Vier Jahre sind das her“, korrigiert sie mich.
Ich kann es gar nicht glauben. Sollte das schon wieder so lange her sein?
Damals hatte ich einen kleinen Beitrag über den Verein geschrieben.

„Wie geht es dir?“, frage ich sie. Sie sieht gut aus, strahlt über das Gesicht und ist fröhlich.
„Ich habe eine Medaille bekommen.“

„Was für eine?“
Ich wusste schon ein wenig, weil sie es angedeutet hatte. Dann holt sie die Dokumente raus.
Auf dem Tisch liegt die Urkunde, unterzeichnet von der Präsidentin des Landtages Brandenburg, Britta Stark.
„Donnerwetter“, sage ich und staune.

Dann lese ich: „…für besondere Verdienste als Gründungsmitglied und für …herausragendes Engagement im Verein ‚Helfen hilft‘ e.V.“

Daneben liegt die Medaille des Landtages Brandenburg „…zur Anerkennung von Verdiensten für das Gemeinwesen am 20. April 2018…“
„Das ist eine hohe Auszeichnung. Die kriegst nicht mal eben so“, sage ich daraufhin zu ihr.

Sie schaut mich an: „Meint der das ehrlich?“, scheint sie sich zu fragen.
Und wie ehrlich ich es meine. Es gibt wenige, denen ich es von Herzen gönne, und die es auch kraft eigener Leistungen verdient haben.

Im Anschluss lese ich die Laudatio von der Landtagsabgeordneten Jutta Lieske. Sie ist wunderbar geschrieben, geht ans Herz. Ich lese sie laut, um meine Aufregung zu verbergen.

Es ist gut, dass es mal so eine positive Aufregung gibt.
Adelheid, die würde für sich persönlich so etwas nie erwarten.
Adelheid erzählt mir, während ich schon wieder ein zweites Stück Kuchen herunternehme, wie sie sich ärgert, weil es so langsam vorwärts geht, in einem Jobcenter.
Die meisten denken an dieser Stelle: „Klar, das regt doch jeden auf, wenn es ihn betrifft.“

Aber es betrifft nicht Adelheid Aldinger. Nein. Sie setzt sich mal gerade wieder für andere Menschen ein, dafür, dass es rechtzeitig klappt mit der Bewilligung von Geldern.

„Stell‘ dir mal vor, was wir schon alles unternommen haben.“
Ich kann mir das vorstellen. Adelheid hat die Auszeichnung schon wieder beiseitegelegt und denkt daran, was sie noch alles vor Weihnachten bewegen muss – für andere Menschen, die sie um Hilfe ansprechen.

„Was glaubst du, wie ich mich gefreut habe“, dass die bulgarische Familie sich hier so gut eingelebt hat und wir ein wenig mit Rat und Tat zur Seite stehen konnten?“

So richtig kannst du dir das nicht vorstellen. Wie viel Energie das kostet, wieviel Leidenschaft, ja sogar Kampfesmut – und alles für andere Menschen.
Ich bekomme immer mehr ein schlechtes Gewissen. Warum? Weil ich doch die meiste Zeit an mich denke. Wie ich mit dem Schreiben klar komme, was noch zu tun ist.

Ja aber, das macht ja Adelheid auch noch, das eigene Leben bewältigen. Nebenbei, denn die meiste Zeit sorgt sie sich ja um die anderen Menschen.
Adelheid hatte keine leichte Kindheit. Andere wären daran zerbrochen. Sie aber hat negative Erfahrungen in positiven Lebensmut umgemünzt.

Ich rutsche auf dem Stuhl hin – und her. Ich muss in die Kita nach Berlin. Meine Enkelin abholen. Aber ich kriege es nicht fertig aufzustehen und zu gehen, ohne zu fragen, was ich tun könnte.

„Wenn du mal eine Lesung machst mit deinen kleinen Geschichten, die du schreibst, ja das wäre schön.“
„Meinst du wirklich, dass das jemand interessiert?“, versuche ich mich schon wieder herauszudrehen.

„Ja, wir könnten das im März nächsten Jahres machen, zum Frauentag zum Beispiel.“
Ich sage zu. Selbst wenn es nicht so humorvoll wird, wie es sich vielleicht Adelheid Aldinger erhofft, ich tue auf jeden Fall was für die Gemeinschaft.
Ich habe schon viele Menschen kennengelernt. Menschen. Das bleibt ja nicht aus. Besonders dann nicht, wenn du für sie wirklich interessierst.
Adelheid Aldinger gehört zu denen, die ich wirklich schätze.

Deshalb möchte ich dir an dieser Stelle sagen, liebe Adelheid:
„Danke für die Einladung gestern, deine herzliche Gastfreundschaft, dein Vertrauen. Und: dafür, dass ich sagen darf, dass du zu meinem Freundeskreis zählst!“
„Helfen hilft“ – der Name eines Vereins. Ein kleiner Verein. Groß und großartig in dem, was er tut. Ich habe nicht oft einen Hut auf. Trotzdem ziehe ich ihn jetzt, symbolisch eben.

‚MUTTI‘ MUSS STAUBSAUGEN


ANNA-2018.11.02

WIE DIE KRANKHEIT DAS GESAMTE UMFELD DER FAMILIE VERÄNDERTE, SCHLEICHEND, FAST UNAUFFÄLLIG

Der Alltag ging weiter, aber irgendwie und irgendwo war Annas Demenz auch immer mit dabei.
Anna hatte ein verstaubtes Bild von der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Und sie liess sich davon nicht mehr abbringen. Jetzt, nach ihrer Krankheit, erst recht nicht mehr.

Es gab Routinen, eben täglich wiederkehrende Dinge. Die meisten davon sind unabdingbar, Peter mochte manche davon trotzdem nicht.

Er musste sich dazu eben zwingen. Dazu gehörte der Anruf bei Anna.

„Aber dir macht das doch so viel Spaß“, sagten einige seiner Freunde, die ihn kannten.

Anna war dement. Das wussten alle. Und alle wussten, dass sie Aufmunterung brauchte.

Klara kümmerte sich, fuhr hin zu Anna, organisierte Arzt- und Frisörbesuche. Lukas war täglich bei Anna und schaute, wie es ihr ging.

Diejenigen Menschen, die Peter kannten, in dem Fall den Schreiber, und die seine Familie kannten, die wussten natürlich genau, über wen er berichtete.

Aber er wollte eine gewisse Distanz halten. Zum einen aus Respekt. Und zum anderen, weil er das ja alles in kleinere Geschichten packte und das Recht hatte, etwas wegzulassen, zu überhöhen oder etwas hinzuzudichten.

Peter war schon nahe dran an der Wahrheit, wenn er darüber in seinen Texten schrieb. Klara war das oft genug zu nah. Inzwischen weiß sie aber, dass Peter stets mit Wertschätzung schrieb und aus einer Perspektive heraus, von der er faktisch die Figur beobachten konnte.

Das gab ihm die nötige Sicherheit, die Distanz zu halten, aber auch wieder nahe genug dran zu sein, um über etwas zu schreiben, was passiert war.

Die größte Herausforderung war, mit einem demenzkranken Menschen zu sprechen und ihm keinerlei Vorhaltungen zu machen. Das verstand nämlich Anna nicht, man verunsicherte sie dadurch nur.

Denn Veränderungspotenzial, das gab es bei Anna nicht mehr, nur noch in Richtung der Verschlechterung ihrer Krankheit.

Klara sagte dann meist zu Peter: „Aber du könntest dich verändern, und du tust es nicht, du stellst dich einfach blöd an, wenn du etwas machen sollst.“

Darin war Peter nun mal geübt.
Doch zurück zu Anna. Sie rief Peter eines Abends zweimal an und fragte ihn, ob es ihm gutgehe.

In Wirklichkeit wollte sie Klara sprechen, wen sonst, ihren Schwiegersohn? Ja, ja. Wenn die Sonne ‚mal im Westen aufging‘, dann vielleicht.

Aber sie hatte vergessen, dass Klara donnerstags erst gegen 18.00 Uhr Schluss hatte und dann noch von Kreuzberg hierher zurückmusste, zurück in den Wald, der zu der Zeit schon dunkel war.

Also könnte Peter sagen: „Anna, das haben wir doch vor einer halben Stunde besprochen.“ Und anschließend könnte er sich darüber bei Klara aufregen.

Früher hat er das getan: „Deine Mutter denkt, dass ich Zeit ohne Ende habe. Und wenn ich fünfmal erkläre, dass ich auch außerhalb meines geliebten Schreibtisches zu Terminen muss, Interviews absprechen, interessante Menschen treffen. Keiner schenkt mir das Geld.“

„Ich sauge jetzt gleich“, sagte Peter zu Anna am Telefon.

„Oh Gott, und das als Mann!“, erwiderte sie. Wie aus der Pistole geschossen. Ohne nachzudenken. Jetzt kam Peter sich nicht mehr vor, wie Ironman, sondern wie Weichmann.

Sollte er jetzt sagen, dass dies sein Veränderungspotenzial der letzten Jahre war?

„Weißt du Anna, das ist bei uns im Haus schwere körperliche Arbeit.
Du weißt doch, was es bedeutet, die Treppen immer hoch und runterzugehen.“

„Ich weiß“, sagte Anna.
„Wirklich?“ Peter hakte lieber nicht nach.

Dann erzählte sie ihm, dass in der Anbauwand die ganzen Bilder von ihnen standen, von Klara, Laura, Peter.

„Hast du gestern schon erwähnt, vorgestern auch. Jeden Tag erwähnst du das!“

Das könnte Peter erwidern. Tat er aber nicht. Er sprach über die Bilder, die Anna gemalt hatte und bei ihm im Arbeitszimmer hingen.

Das freute Anna und sie verabschiedeten sich.

Peter rief anschließend Klara an: „Deine Mutter sagt, saugen sei keine Arbeit für einen Mann!“

„Ich dachte, du bist schon fertig?“, sagte Klara enttäuscht. Sie war ein klein wenig wie unsere Kanzlerin – immer trocken, aufs Ergebnis aus.

Peter holte den Staubsauger raus, setze seine Lieblingsmütze mit der Aufschrift „Fischkopp“ auf und machte‘ ein ‚Selfi‘.

Gut, er musste noch ein wenig am iPhone herumdrücken, bis er wusste, wie es ging.

Schließlich hat er über WhatsApp an Klara das Foto mit Staubsauger und Mütze gepostet: „Mutti beim Saugen.“

„Schöner Mann“, schreibt sie zurück. „Find‘ ich ja auch“, antwortete Peter.

Ach, irgendwie mochte er Klara doch. Und Anna? Die würde er Morgen wieder anrufen, wie immer, na klar.

Mehr lesen: https://uwemuellererzaehlt.de/anna-ist-dement/

 

 

INTERVIEW MIT VOLKER KOENN

 

Volker Koenn ist Inhaber der PROMEDICA PLUS Düsseldorf-Nord sowie Neuss. Sein Unternehmen vermittelt Pflege- und Betreuungskräfte, mehrheitlich aus Polen, für die 24-Stunden-Betreuung im eigenen Zuhause.
 

Herr Koenn, wie verlief Ihr beruflicher Werdegang?

Ich habe das Ernst-Kalkuhl-Gymnasium in Bonn besucht und danach eine Ausbildung zum Kaufmann abgeschlossen. Anschließend studierte ich in Nagold Betriebswirtschaft BTE.

Wie ging es weiter?

Nach dem Studium ging ich für zwei Jahre nach Bangkok – im Auftrag einer deutschen Textilfirma, die dort auch produziert. Und danach war ich neun Jahre in Österreich und habe dort als  Vertriebsleiter gearbeitet, unter anderem für Hugo Boss.

Schließlich war ich für ‚Dolce & Gabbana‘ als Verkaufsleiter Österreich tätig. Und danach habe ich von Düsseldorf aus als Vertriebsleiter von Girbaud gearbeitet.

Im Anschluss daran war ich bei Michalsky, M12 Style GmbH, Geschäftsführer und bin zwischen Düsseldorf und Berlin gependelt.

Das hört sich nach einer tollen Karriere an, oder?

Ja, sicher. Das waren aber vor allem harte Jahre. Doch ich habe auch enorm viel gelernt, viele Menschen kennengelernt und meinen Gesichtskreis erweitern können.

Was war denn die Initialzündung für Ihren Entschluss, in die Pflege zu gehen?

Der Funke ist übergesprungen, als ich darüber nachdenken musste, wie ich am besten meinen Eltern helfen kann. Meine Mutter ist mittlerweile 85 Jahre alt, mein Vater 91. Und meine Mutter fragte mich eines Tages, was denn sei, wenn sie das Haus nicht mehr allein bewirtschaften könnten.

Daraufhin verbrachte ich eine Reihe von schlaflosen Nächten und habe mich danach aufgemacht, Alternativen für meine Eltern zu suchen. Dabei bin ich auf die 24-Stunden-Betreuung von PROMEDICA PLUS gestoßen.

Ich fuhr nach Essen, wo sich die Franchisezentrale befindet, und habe dort an einer Informationsveranstaltung der Firma teilgenommen. Das Konzept gefiel mir. Ich signalisierte dem Unternehmen mein Interesse für eine künftige Zusammenarbeit und nahm an entsprechenden Schulungen teil.

Und dann?

Dann habe ich ‚ja‘ gesagt.

Das war doch aber für Sie ein Wechsel mit erheblichen Risiken?

Naja, die Risiken waren für mich überschaubar. Ich hatte das Konzept ja gründlich geprüft. Aber natürlich: Ich musste investieren, ein Netzwerk aufbauen, Kunden finden und die Dienstleistung von PROMEDICA PLUS verkaufen, wenn Sie so wollen.

Was unterscheidet die Modebranche von der Branche, in der Sie nun als Unternehmer tätig sind?

Vergleiche hinken immer, wie Sie selbst wissen.

Natürlich geht es bei der Mode um Äußeres, darum, wie jemand aussieht, angezogen ist und wie man ihm noch schönere Hemden, Anzüge oder meinetwegen Kleider verkaufen kann. Das ist ein hartes Metier, denn es geht letztlich vorrangig um gewinnorientiertes Denken und Handeln.

 Das ist doch aber in der Pflegebranche auch nicht anders, oder?

Nein, natürlich muss ich Gewinne erwirtschaften. Sonst kann ich ja gar nicht überleben, die entstehenden Kosten tragen. Es gibt allerdings Dinge, die sich markant von der Modebranche abheben.

Nämlich?

Bei der Pflege und Betreuung, und zwar rund um die Uhr, sprechen wir von existenziellen Fragen – zum einen für die Hilfebedürftigen, zum anderen jedoch auch für deren Angehörige.

Da geht es darum, ob jemand weiter selbstbestimmt in seinem geliebten Zuhause leben kann, oder ob die hilfebedürftige Person doch in ein Heim gehen muss, da die Versorgung durch pflegende Angehörige eben nicht mehr gewährleistet werden kann.

Ich habe nichts gegen Heime, jedoch bin ich davon überzeugt, dass der Mensch sich zu Hause am wohlsten fühlt- deswegen habe ich mich für eine Tätigkeit in der häuslichen Pflege- und Betreuung entschieden; eben als gute Alternative zum Heim und zur Entlastung der Angehörigen.

Und: Sie werden involviert in die intimsten Dinge, zum Beispiel, wie man der Demenz oder Inkontinenz des zu Pflegenden begegnet, mit welchen charakterlichen Besonderheiten es eine Pflegekraft zu tun bekommt, wenn sie im Haushalt des Kunden anfängt.

 Was ist Ihnen wichtig, wenn Sie über individuelle Pflege und Betreuung sprechen?

Empathie!

Wow, das kam ja wie aus der Pistole geschossen.

Ja, das sage ich aber nicht nur, sondern das lebe ich tagtäglich.

Können Sie das noch ein bisschen erläutern?

Gern. Ich kann mich gut in die Menschen hineinversetzen, um die ich mich kümmere, weil ich es aus dem eigenen Umfeld gut kenne. Diese Einstellung kommt wirklich aus der Tiefe meines Herzens.

Auf welche Schwierigkeiten sind Sie im Verlaufe Ihrer nunmehr fast vierjährigen Tätigkeit gestoßen?

Ich habe den Beruf unterschätzt, und hier das Schwierigste an der Sache, nämlich Menschen an Menschen zu vermitteln, die sich vorher nie gesehen haben.

Würden Sie sich wieder für diesen Weg entscheiden?

Ja!

 Wie werden die polnischen Pflegekräfte bei den zu Pflegenden und bei den Angehörigen aufgenommen?

Das ist unterschiedlich, in der Regel aber gut und sehr gut. Ich versuche natürlich im Vorfeld so gut wie nur möglich und so individuell wie es geht, die passende Betreuungskraft für den konkreten Haushalt zu finden.

Vieles hängt sicherlich zum einen von der Erfahrung und den Deutschkenntnissen der Betreuungskraft ab. Zum anderen ist es jedoch auch sehr wichtig, dass die zu betreuende Person und die Betreuungskraft gut zueinander passen, gut miteinander harmonieren. Das sind ganz entscheidende Kriterien bei der 1:1 Betreuung.

Immerhin sind die Pflegekräfte ja in der Regel  sechs Wochen im Haushalt der Pflege- und Hilfsbedürftigen.

Und wir machen, vor Ort und als persönlicher Ansprechpartner alles dafür, damit es so gut wie möglich klappt.

Was ist Ihnen wichtig, wenn Sie an die Betreuungskräfte denken?

Nun, das sind ebenfalls Menschen, die Familien haben, ihre eigenen Sorgen und die trotzdem fernab von zu Hause tätig sind. Sie müssen also Spaß haben an der Arbeit haben, vernünftig untergebracht sein, sich wohlfühlen im Haushalt. Denn dann können sie das durch eine gute Arbeit auch an die zu Pflegenden zurückgeben.

Es bleibt eine sensible Tätigkeit mit vielen Befindlichkeiten, Ängsten und Hoffnungen- und zwar seitens der zu betreuenden Personen, deren Angehörigen, aber natürlich auch der Betreuungskräfte.

Herr Koenn, was verbinden Sie mit dem Wort Glück?

Gesundheit, Familie, finanzielle Absicherung, berufliche Pläne verwirklichen, um es auf den Punkt zu bringen.

Sind Sie ein glücklicher Mensch?

Ja,  das bin ich. Ich habe viel Freude in der Familie,  habe gute Freunde und: Ich gehe einer Arbeit nach, die viel verlangt, die aber ebenso viel zurückgibt.

Herr Koenn, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Kontakt:
Volker Koenn 
Prinzenallee 7
40549 Düsseldorf- Seestern
0211 - 97170299

 

 

 

 

 

Anna ist dement (11)

Das Geld ist verschwunden

„Mutti, du musst jetzt irgendwann in der Bank gewesen sein. Im letzten Monat waren doch noch 53.000 Euro auf dem Sparbuch.
Also muss doch irgendwo das übrige Geld sein, oder?“
Klara war entsetzt. „Mutti, bitte denk‘ jetzt nach. Hast du in der Bank mit jemandem darüber gesprochen?“
„Ja, ich habe mit der netten Frau von der Bank gesprochen. Sie war wirklich nett, Klara.“
„Ja, Mutti, was hast du denn mit ihr besprochen?“
„Ach, ich weiß das nicht mehr. Das ist aber auch ein Scheiß.“
„Mutti, du musst doch wissen, was du in der Bank getan oder besprochen hast, mit der so netten Mitarbeiterin!“
Anna bekam den Spott nicht mehr mit. Sie war jetzt völlig durcheinander.
Sie sprang auf, rannte in das andere Zimmer. Da, wo ihre anderen Unterlagen lagen. „Mutti, jetzt bleib‘ doch mal hier.
Es ist doch furchtbar, wenn du nicht mal eine Minute still sitzen kannst.“
Klara fühlte, dass es falsch war, jetzt so mit ihrer Mutter zu reden.
Aber sie war einfach empört, über das, was ihre Mutter angestellt hatte, oder dass sie zuließ, dass man mit ihr etwas so ‚Gemeines‘ anstellen konnte.
Sie war wütend zugleich darüber, dass eine Bankmitarbeiterin es geschafft hatte, ihrer Mutter diesen Wahnsinn aufzuschwatzen.
Klara hoffte, das Geld würde wenigstens in irgendwelche halb soliden Anlagen gesteckt worden sein und nicht gänzlich verloren war.

 

SANDRA NABER IM INTERVIEW

 

Sandra Naber ist die Inhaberin des Häuslichen Pflegedienstes „Schwester Andrea Berkner“ in Templin.

Frau Naber, wie verlief Ihr beruflicher Werdegang vor der Gründung des Pflegedienstes?

Ich bin von 1991 bis 1994 in der Ausbildung zur Krankenschwester gewesen. Anschließend habe ich im Krankenhaus gearbeitet – allerdings befristet.

1996 bin ich dann in einen ambulanten Pflegedienst gewechselt und habe dort zweieinhalb Jahre gearbeitet. Danach schied ich dort aus.

Am 01. Januar 1999 wurde das Unternehmen „Schwester Andrea Berkner“ gegründet. Im Jahr 2000 verstarb leider Frau Berkner.

Ihr Ehemann hat zunächst das Unternehmen weitergeführt.
Nachdem ich 2001 eine Ausbildung zur Pflegedienstleiterin absolviert hatte, war ich dort als PDL tätig.

2007 wollte der Ehemann von Frau Berkner den Pflegedienst nicht mehr weiterführen. Das hätte aber bedeutet, dass es für die Kunden keine Versorgung mehr gegeben hätte und die Mitarbeiter wären arbeitslos geworden. Also entschloss ich mich, den Pflegedienst zu kaufen.

Den Namen „Schwester Andrea Berkner“ habe ich so belassen – er war ja inzwischen sehr bekannt in und um Templin.

Was war für Sie die Initialzündung, in die Pflege zu gehen?
Das ausschlaggebende Motiv war: Ich wollte den Kunden und den Mitarbeitern eine Perspektive geben.

Was ist Ihnen am Anfang leicht gefallen und wo hatten Sie Schwierigkeiten?
Leicht ist mir der weitere Umgang mit den Kunden gefallen. Daran war ich ja gewöhnt. Schwer war es für mich, die kaufmännischen, steuerlichen Fragen in den Griff zu bekommen und überhaupt den gesamten Dokumentationsaufwand zu bewältigen.

Was macht Ihrer Meinung nach Ihr Team stark?
Wir haben eine familiäre Atmosphäre bei uns. Wir treffen uns auch privat – reden miteinander, feiern zusammen. Dann lässt es sich besser miteinander umgehen.

Und wir diskutieren auch offen unsere Probleme. Ich glaube, das ist es, was uns stark macht.

Wo sehen Sie Gründe für den mitunter noch schlechten Ruf von Pflegediensten?
Pflege ist nichts anderes als eine Dienstleistung. Und da muss man sich anstrengen.

Da kann man kaum reich werden. Ich denke, das unterschätzen manche, die sich in diesen Bereich begeben und damit Geld verdienen wollen.

Des Weiteren: Die Preise werden manchen Angehörigen oder Pflegebedürftigen anfangs für bestimmte Handlungen als zu hoch angesehen.

Hier hilft das Gespräch mit den Kunden und eine wirklich gute Pflege und Betreuung. Nur so kann man die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen für sich gewinnen.

Was hat sich für Sie geändert seit der Gründung Ihres Pflegedienstes?
Ich denke, die Herausforderungen sind größer geworden – quantitativ und qualitativ.

Es ist schon schwierig, stets unter Zeitdruck zu arbeiten und trotzdem den persönlichen Bezug zum Kunden nicht zu verlieren.

Früher war das aus meiner Sicht ein wenig entspannter. Und trotzdem setzen wir alles daran, individuell zu pflegen und zu betreuen.

Was macht für Sie individuelle Pflege aus?
Wir sind ein kleines Team und haben ein relativ stetiges Personal. Die Fluktuation ist bei uns gering. Wir erreichen die Qualität durch kontinuierliches und beharrliches Arbeiten.

Der Patient hat es dadurch auch leichter, sich fallenzulassen. Denn: Er weiß, wer kommt und hat zur Pflegekraft Vertrauen aufgebaut.

Was sagen Sie zum Vorhaben der generalistischen Pflegeausbildung in der Zukunft?
Grundsätzlich finde ich es gut, wenn die Ausbildung auf breitere Füße gestellt wird. Wir haben ja selbst Auszubildende bei uns in der Firma. Es fehlt manchmal das medizinische Grundwissen bei den Pflegekräften.

Es gibt ja zum Beispiel auch jüngere Leute mit Akutkrankheitsbildern – da ist es gut, wenn hier mehr Inhalte in die Ausbildung einfließen. Ich fahre nicht zuletzt auch deshalb heute immer noch mit raus zu den Patienten, um selbst genau zu wissen, wie es den einzelnen Menschen geht.

Was ist für Sie persönlich Glück?
Ich bin dann glücklich, wenn alle gesund sind – in der Familie und im Unternehmen. Fühlen sich die Mitarbeiter wohl, dann fühle auch ich mich wohl und bin glücklich.

Frau Naber, vielen Dank für das Gespräch.

 

PORTRÄT KATHRIN DÖLLE

Kathrin Dölle ist die Inhaberin der Seniorenhilfe in Gotha.

Es wird viel geschrieben darüber, welche Leistungen ein Pflegedienst erbringen kann, warum Pflegebedürftige und Angehörige gerade ihn zu Rate ziehen sollten, wenn sie Hilfe benötigen.

Letztlich jedoch überzeugen nur Taten.
Die Lebensgeschichte eines Menschen gibt für einen Moment den Blick frei für das, was er bereits geleistet hat, welche Motive ihn antrieben und wie er auch künftig handeln wird.

Es lohnt, das Interview mit ihr zu lesen. Zeigt es doch, wie sie zur Pflege gekommen ist und warum sie heute diese Tätigkeit als ihre eigentliche Berufung ansieht.

Sie ist nicht auf dem Weg in die Pflegebranche gekommen, der gerade war, gezogen wie mit einem Lineal. Nein. Sie hat zunächst den Beruf der Gärtnerin erlernt und später auch noch Gartenbau studiert.

Sie bezeichnet es selbst praktisch als Zufall, dass sie nach der Wende zur Pflege kam, oder wie sie es formulierte, „hineinrutschte“.
Sie gibt heute unumwunden zu, dass dies kein ‚Zuckerschlecken‘ war.
Sie musste sich hineindenken in diese für sie völlig neue Welt, die pflegerischen Grundlagen erlernen, sich weiterbilden.

Sie brachte aber auch Stärken von Haus aus mit – die Fähigkeit nämlich, die Prozesse zu organisieren, die kaufmännischen Dinge zu regeln.

Kathrin Dölle baut auf ihr Team, von dem sie lernt und das ihr wiederum als Inhaberin vertraut.

Sie findet es gut, wenn unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen, zusammenarbeiten, sich in ihren Stärken ergänzen und Schwächen dabei untereinander ausgleichen.

Kathrin Dölle setzt auf vernetztes Denken und auf Netzwerke in der Zusammenarbeit. Nur so ist aus ihrer Erfahrung heraus Hilfe und Unterstützung für die Pflege- und Hilfsbedürftigen möglich,
die effizient und wirkungsvoll ist.

Sie ist heute glücklich in ihrem Beruf und sorgt sich darum, dass dieses Glück ebenso auf die Menschen um sie herum ausstrahlt – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Pflege- und Hilfsbedürftigen.

 

Mehr: http://uwemuellererzaehlt.de/2017/06/23/kathrin-doelle-im-interview/

Kontakt
Kathrin Dölle – Seniorenhilfe Ambulanter Pflegedienst
Lutherstraße 8, 99867 Gotha
Telefon: 03621 / 21 96 40
Telefax: 03621 / 21 96 39
E-Mail: info@seniorenhilfe-gotha.de
http://www.seniorenhilfe-gotha.de

ANNA IST DEMENT – TEIL 20

Jeder wird sich verändern müssen
Und trotzdem. Jeder, der mit Anna zu tun hatte wusste, dass sich nicht nur Anna verändert hatte, sondern alle um sie herum. Ja, sie werden sich ändern müssen. „Wenn du zu deiner Mutter sagst, dass du ihr jetzt zum fünften Mal das Gleiche erzählt hast, dann wird das nichts an der Situation an sich ändern.“ „Aber ich kann irgendwann nicht mehr!“, entgegnete Karsta entnervt. Wenn du immer wieder das Gleiche wiederholst, dann geht es irgendwann nicht mehr.“ „Das kommt doch bei deiner Mutter gar nicht oben an“, sagte Peter. „Anna merkt nur, dass mit ihr schimpfst. Aber sie weiß nicht wirklich, warum du sauer bist.“

Du kannst über Demenz reden, aber du kannst sie nicht wegreden
„Das mag ja alles so sein. Aber ich denke, dass sie schon noch mitbekommt, dass sie stets dasselbe fragt. Nur, dass sie eben die Antwort darauf nicht mehr kennt.“ Karla mochte nicht mehr weiter darüber reden. Annas Krankheit, die Sorge darum, was noch alles passieren kann, das belastete alle. Irgendwie zog sich das durch sämtliche Gedankengänge. Manchmal sprachen sie schon morgens, 05.00 Uhr beim Frühstück, was Anna am Tag zuvor von sich gegeben hatte. „Wenn wir in Stralsund wohnen würden und wir hätten ein Haus, wo deine Mutter eine Wohnung mit hätte, im Haus oder dicht dabei, ich glaube, dann wäre alles einfacher“, sagte Peter und biss in sein Brötchen. „Entweder du erzählst morgens schon von Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik oder über meine Mutter und ihre Krankheit.“ Klara war noch nicht bereit überhaupt zu sprechen.

Morgens um fünf Uhr beim Frühstück
Peter sagte nichts mehr. Er schlug die Zeitung auf und las einen Artikel darüber, warum die AFD in Ostdeutschland so stark geworden war. Die Ossis lebten vierzig Jahre in einer Diktatur, waren intolerant gegenüber Flüchtlingen, die es bei ihnen gar nicht gab und gingen zudem noch rechtsextremen Positionen auf den Leim. „Und warum haben in München in einem Stadtteil die AFD – Leute so einen großen Zuspruch erhalten? Die machen es sich mal wieder einfach.“ Peter knüllte die Zeitung zusammen und nahm den Sportteil zur Hand. „Wovon redest du?“ Klara schaute ihn an. „Ach nichts. Ich möchte bloß mal wissen, wieviel Mühe sich manche Journalisten machen, um Ursachen von bestimmten Stimmungen tatsächlich auf den Grund zu gehen. Die haben doch ihre Vorurteile im Kopf, wissen, was der Chefredakteur lesen will und bedienen diese Pauschalannahmen mit Fakten, die keine sind.“ Peter konnte sich darüber aufregen. Aber er würde nichts ändern. Er müsste sich selbst bewegen, einmischen. Und das kostete ihn Zeit und damit letztlich Geld.

 

Peter kommt nicht zum Luft holen

„Anna ist dement – Teil 18“

Kaum hat er verdaut, was ihm sein Vater, Manfred Gerber, wieder an Vorhaltungen gemacht hat, da meldet sich Anna Sturm. Sie meldet sich nicht bei ihm, das muss er schon zugestehen. Peter verfolgt die Gespräche zwischen Anna und Klara im Hintergrund. Er wertet, analysiert und gibt Hinweise. Bis er immer zu dem gleichen Punkt kommt und zu Klara sagt: „Ich weiß auch nicht, wie wir mit einem Menschen, der Demenz hat, uns sehr nahesteht, umgehen sollen.“ Er will damit Klara zeigen, dass er sich nicht mit abgehobenen Ratschlägen einmischen will. Trotzdem sagte er zu Klara vor einigen Tagen folgenden Satz: „Ich mache mir Sorgen um Lukas. Der leidet unter all dem und hat keinen Menschen, dem er sich anvertrauen kann. Er frisst alles in sich hinein und das ist nicht gut.“ Lukas ist der Sohn von Anna. Er wohnt ebenfalls in Stralsund. Er hat ein Haus und arbeitet viel. Vor einigen Tagen rief ihn Anna an: „Du musst sofort zu mir kommen. Es ist alles so furchtbar. Ich habe wieder ein Paket bekommen und ich weiß nicht, was das soll.“ „Mutti, ich komme gleich“, sagte daraufhin Lukas. Als er Anna eintraf und er das Paket öffnete, traute er seinen Augen nicht. Es lagen Kataloge darin. Nicht mehr. Anna sollte natürlich wieder bestellen, so jedenfalls das Schreiben, das wie folgt begann: „Liebe Frau Sturm, lehnen Sie sich entspannt in Ihrem Stuhl zurück und genießen Sie den Ausblick auf eine wunderbare Kleidung, die Ihnen den Herbst versüßen wird.“ Eine harmlose Sache also. Doch Anna hatte daraus einen Staatsakt gemacht. Lukas wusste nicht, was er sagen sollte. „Schmeiß das doch einfach weg, Mutti“, meinte er schließlich. „Nein, wo denkst du hin, ich muss antworten, was sollen die von mir denken!“, entgegnete Anna entrüstet. Sie zog dabei einen Mund, als würde draußen gleich eine öffentliche Hinrichtung stattfinden, oder aber das Haus einstürzen. Nicht gering jedenfalls. Lukas war verzweifelt. Er nahm schließlich das Paket mit und entsorgte es in der Papiertonne. Zu Hause angekommen, hockte er sich auf einen Stuhl. Er spürte sein Herz schlagen. Erst vor kurzem waren ihm zwei Stents eingesetzt worden. Was sollte er nur tun. Er griff zum Hörer und wählte die Nummer von Klara.

ANNA KANN SICH NICHT AN DAS ‚KAUENDE KAMEL‘ ERINNERN

2017.09.20

Anna vergißt die Namen ihrer entfernten Verwandten und, dass diese sie besucht haben.

„Stell dir vor, Mutti wusste heute nicht mehr, dass sie gestern Gundula und ihren Mann zu Besuch hatte!“
Klara war empört und traurig zugleich.

„Wer ist Gundula?“, fragte Peter.
„Da haben wir gerade vor einer Stunde gesprochen – Gunduuulahh aus Stuttgart!“

„Ach ja, Gundula, das kauende Kamel, ich erinnere mich. Ich dachte jetzt auch schon, bei mir fängt es an mit der Vergesslichkeit.“

„Ja, nicht nur mit der Vergesslichkeit, auch mit deinen Ohren. Also sei schön still.“

„Ich sag ja gar nichts mehr“, beschwichtigte Peter.
„Aber du musst doch zugeben, wenn Gundula den Mund öffnet und lacht, dann sieht sie aus wie ein Kamel, das die Zähne bleckt“, setzte Peter nach.

Klara antwortete darauf nicht. Ein Zeichen, dass sie es irgendwie satt hatte, mit den Spötteleien. Aber Peter setzte noch einen drauf.

„Ich denke, es war sooooh schön mit dem Kaffee trinken?“

„War es bestimmt auch. Nur Mutti weiß nichts mehr.“
„Und wie kommst du darauf, dass sich Anna nicht mehr erinnert?“
„Mutti sagte am Telefon, sie verstehe nicht, warum sich Gundula nicht bei ihr meldet.“

Jetzt schwieg Peter. Es war schon traurig und ein sicheres Zeichen, dass die Krankheit bei Anna weiter fortschritt.

 

ANNA IST DEMENT (18)

ICH RUF MAL DEINEN VATER AN

Peters Vater ist im Pflegeheim und unzufrieden mit seiner Situation

„Nichst ist prima“ – schnaubte Peters Vater am Telefon. Bei Anna in Stralsund schien alles in Ordnung zu sein. Peter freute sich auf einen ruhigen Abend.

Und vor allem keine langatmigen Telefonate mit Anna, warum zum Beispiel der Werbebrief, den Anna vor einigen Tagen erhalten hatte, nichts als heiße Luft war. „Sie haben sich die Belohnung von 5000,00 Euro redlich verdient, liebe Frau Sturm!“, stand dort drin.

Klara konnte ihre Mutter überzeugen, dass sie alles zerreißt und direkt in die Papiertonne schmiss. „Mutti, dir schenkt keiner was. Glaub‘ es mir doch einfach“, beschwor Klara am Telefon Anna.

Naja, Anna wollte ihrer Tochter schon glauben. Doch auf der anderen Seite war die Verlockung: Da schrieb jemand an sie persönlich und sprach sie mit „Liebe Frau Sturm“ an. Wer kümmerte sich schon noch so liebevoll um sie. „Ach weißt du, Klara, ich bin so allein“, jammerte Anna am Telefon.

„Mutti, ich weiß. Aber schmeiß jetzt den Brief weg“, Klara konnte kaum noch an sich halten. Dabei war sie die Gutmütigkeit in Person.

„Ja, ja, ich mach‘ das jetzt. Alles kommt weg. Ich will nicht, dass die mir schreiben!“, sagte Anna entschlossen. „Mutti, die werden dir wieder schreiben.“ „Ach ist das nicht scheußlich!“, seufzte Anna.

Klara war am Ende ihrer Kraft und verabschiedete sich von Anna.
Jetzt waren ein paar Tage ins Land gegangen. Anna hatte keine weitere Post bekommen. Es war ruhig und Anna erzählte am Telefon lediglich von ihren Spaziergängen – zum Friedhof oder zu ihrem Sohn Lukas.

Der wohnte Gott sei Dank im Ort.
Also alles im grünen Bereich. Peter legte die Füße hoch. Wahrscheinlich musste er aber gleich hochschnellen und Teller für das Abendbrot in das Wohnzimmer tragen. Aktivität und Engagement waren angesagt. Aber solange Klara noch mit Anna telefonierte und ihm nichts sagte, konnte er sich ja mal nach hinten lehnen, mit der Fernbedienung in Windeseile die Programme durchsurfen und sich den nötigen Überblick für den Abend verschaffen.

„Ich ruf‘ heute Abend mal deinen Vater an!“, ruft Klara Peter zu, bevor sie das Wohnzimmer in Richtung Küche verlässt.

„Mach‘ das bloß nicht.“ Peter war sofort aufgescheucht. Er kannte seinen Vater, der gleich wieder losschimpfen würde über das Heim, über Getrud, die Mutter von Peter.

„Warum jetzt schon wieder eine weitere Baustelle aufmachen?“, fragte Peter Klara.

„Ach, das ist doch nicht schlimm“, versuchte Klara ihn zu beschwichtigen.

Peter seufzte. Er hatte es aufgegeben, dagegen zu reden. Er bewunderte Klara dafür, dass sie sich so rührend kümmerte. Dabei waren ihre Schwiegereltern nicht wirklich nett zu ihr in den vergangenen Jahrzehnten gewesen.

Aber das stand auf einem anderen Blatt.
Manfred und Gertrud Gerber waren jetzt beide im Pflegeheim in Dresden.

Das Heim gehörte Peters Schwester, Helga Geiger. Helga hat das Heim aber verkauft. Nur ihr Name stand noch am Schild.
„Du, das Telefon ist abgeschaltet. Ob dein Vater im Krankenhaus ist?“

Klara schaute Peter besorgt an. Jetzt ging es schon wieder los.
Peter wurde unruhig. Er wollte sich nicht damit befassen. Die Familienbande waren zu zerrüttet, als dass Peter überhaupt noch Interesse an einer engen Verbindung hatte.

Doch konnte er einfach darüber hinwegsehen, dass vielleicht etwas passiert war? Lag Vati im Krankenhaus? Peter schwang sich aus dem Sessel hoch und ging in sein Arbeitszimmer. Er versuchte Helga zu erreichen. Sie ging nicht an das Telefon. Also musste er die Telefonnummer vom Heim heraussuchen. Peter wählte schließlich die Nummer.

„Ja bitte?“, fragte eine Stimme mit russischem Akzent.
„Bitte entschuldigen Sie die Störung“, aber ich kann meinen Vater nicht telefonisch erreichen. Ist etwas passiert?“

„Nein, nein. Ich war vor einer halben Stunde im Zimmer Ihres Vaters. Es ist alles in Ordnung“, antwortete die Schwester.

„Oh, vielen Dank! Auf Wiederhören.“ Peter war erleichtert, dass alles in Ordnung zu sein schien. Für ihn war die Sache erst einmal erledigt.

Peter ging nach unten und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.
Plötzlich klingelte das Telefon. Peter ging ran: „Gerber.“ „Ja hier auch“, erklang es in der gewohnt strengen Weise. Manfred Gerber war 87.

Immer wenn sein Vater ihn ansprach, fühlte er sich wieder zum kleinen Kind degradiert. Das würde wohl nie aufhören. Obwohl er jetzt selbst bald Großvater sein würde.

„Was gibt’s?“ Manfred Gerber schien nicht gut drauf zu sein.
„Was soll es geben? Wir haben uns Sorgen gemacht, ob alles mit dir in Ordnung ist“, entgegnete Peter. Ihm schmeckte der barsche Ton seines Vaters nicht.

Er merkte, wie seine Schilddrüse anschwoll. Es kochte schon wieder in ihm.

„Aber wenn es nichts gibt, dann ist es ja prima“, schob Peter deshalb hinterher. „Nichts ist prima!“, schnaubte sein Vater zurück.
Manfred Gerber wollte von seinem Sohn bedauert werden.

Er wollte ihm ein schlechtes Gewissen einreden, so wie er es immer getan hatte. Schon als er noch klein war.
Peter schwieg einfach. Am Telefon entstand eine Stille, die zum Zerreißen war. Wer jetzt als erster sprach, der war vor dem anderen eingeknickt.

„Mit Mama ist es furchtbar!“, begann sein Vater das Gespräch fortzusetzen.
Peter schwieg. Es versetzte ihm einen Stich, wenn sein Vater so über Mama redete. Sie war 88 Jahre und litt inzwischen an schwerer Demenz.
Trotzdem, sie blieb seine Mutter und doch auch die Frau seines Vaters.

„Ich kann deinen Vater schon ein wenig verstehen“, sagte Klara, nachdem Peter das Telefonat beendet hatte.

RÜCKBLICKE-ANNA IST DEMENT

DIE BETREFFZEILE

ANNA IST DEMENT- 30.05.2017

Anna bekam einen Brief von einer Behörde.
„Rentenanpassung“, stand dort in der Betreffzeile. Anna verstand nicht, was das sollte und rief Klara an.

Anna begriff den Inhalt der Briefe nicht mehr und geriet deshalb schnell in Panik.

Klara hatte sich zwar eine Vollmacht von Anna geben lassen, damit die Briefe bei Lucas eintrafen und nicht mehr bei Anna, aber die Post kam zum Teil trotzdem noch bei ihr an.

Anna rief bei Klara an.
„Hier ist ein Scheißbrief angekommen“, schoss es gleich aus Anna heraus.

„Was für ein Brief?“, fragte Klara schon leicht gereizt, denn sie befürchtete, dass es ein längeres Telefonat werden würde.

„Ihr Ansprechpartner: Frau Sammredt. Jetzt die Adresse…“
„Mutti!“, unterbrach Klara Anna beim Vorlesen.

„Du musst mir jetzt nicht alles vorlesen. Lies doch einfach die Betreffzeile vor.“

„Betreffzeile?“

„Mutti, wir wollen dir helfen, zu verstehen, was du für Post bekommst und dann gemeinsam entscheiden, was wir damit tun.“
„Warum?“ Anna wollte nicht verstehen.

„Ich lese dir doch die Post immer vor, abends, wenn ich anrufe.“
Klara konnte Anna nicht sagen, wie sehr sie genervt war davon, wenn ihre Mutter begann, die Briefe vorzulesen.

„Ja. Dort steht doch irgendwo ‚Betreff‘, und den Text danach, den kannst du mir ja immer noch vorlesen.“

„Ich finde das nicht!“
„Aber Mutti“, Klara war verzweifelt, „schau doch einfach die Zeilen von oben nach unten durch!“

Jetzt war Anna völlig durcheinander.

„Ich versteh‘ gar nicht, warum die mir diesen Scheiß schicken.“
Briefe mit behördlichem Inhalt oder von der Bank, ja das war wirklich ein Scheiß. Anna empfand das so.

Die andere Post, die mit den bunten Briefumschlägen, die war viel angenehmer. Die schrieben so nett – „Liebe Frau Sturm, wir freuen uns…“

Ja, da freute sich Anna auch.
„Lass doch deine Mutter alles vorlesen. Und danach sortierst du für dich, was wichtig und unwichtig ist“, mischte sich jetzt Peter ein.

„Du hast mir mit deinen Ratschlägen gerade noch gefehlt. Willst du jeden Abend mit Mutti telefonieren?“

Das wollte Peter nicht. Er schwieg jetzt besser.
„Ruf mal Lucas an, der soll sich den Brief durchlesen und dann sehen wir weiter“, sagte Klara zu Anna.

„Was hat der damit zu tun?“
„Mutti, bitte mach‘ das einfach!“, sagte Klara entnervt.
„Der versteht doch sowieso wieder nur Bahnhof“, entgegnete Anna trotzig.

„Na, dann seid ihr ja schon zwei“, antwortete Klara pampig und bereute es sofort wieder.
„Mutti, ich spreche mit Lucas, der soll dann bei dir vorbeikommen!“, sagte Klara nun.
„Ach ja, das wäre schön. Aber ich habe gar kein Bier mehr für ihn hier stehen. Ich muss gleich mal in den Keller und gucken, ob da noch was ist.“

„Ja, mach‘ das“, sagte Anna, verabschiedete sich von ihrer Mutter und legte den Hörer mit einem hörbaren Seufzer auf.
Peter sagte nichts, denn er wusste, dass nichts davon richtig sein konnte.