ALLTÄGLICHES-2022.02.05
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Kurzgeschichten über den Umgang mit an Demenz erkrankten Angehörigen.
ANNA-2022.02.04
Was bisher war:
Anna sprach mit Klara und Peter am Telefon.
Schwester Beate hatte Klara gebeten, für ihre Mutter ein paar neue Hosen zu besorgen.
Anna hatte zugelegt, besonders um die Hüfte und den Bauch herum, seitdem sie im Heim untergebracht war.
Klara wollte Peter den Telefonhörer übergebend, damit er auch mal mit Anna sprach.
Aber Peter wehrte sich.
„Er wedelte lautlos mit den Händen, so als wolle er eine Boeing 747 zum Stoppen auffordern.“
Peter erzählte schließlich mit Anna und sie zum Schwärmen:
„Ich war früher selber gern auf dem Hof von Onkel Gottfried.“
Peter fragte Anna, ob sie in der Küche mithalf.
„Bestimmt putzt du oft das Gemüse.“
„Ja, das mach‘ ich“, kam es nun von Anna.
„Also auf dich ist Verlass“, sagte Peter.
„Das kann man wohl sagen“, stimmte Anna zu.
Schwester Beate hatte sich immer noch nicht entschieden, ob sie das Angebot ihrer Chefin annehmen und die Tagespflege leiten sollte. Sie wollte die Entscheidung noch aufschieben und verdrängte deshalb diese Gedanken.
Sie war gerade damit beschäftigt, das Mittagessen vorzubereiten.
Anna war nach dem Telefonat mit Klara wieder in ihr Zimmer gegangen.
Es war ungewöhnlich, denn um die Zeit vor Mittag saß Anna gern in der Küche und schaute den Schwestern zu oder half dabei, das Gemüse oder das Obst zu waschen und zu zerkleinern.
„Hat jemand Anna gesehen?“, fragte Beate in den Raum.
„Die ist in ihrem Zimmer“, sagte Herbert, der gerade zur Küche hereinkam.
„Kannst du sie mal bitten, hierher zu kommen“, forderte Beate ihn auf. Herbert zögerte. Er wollte sich nicht noch einmal so eine Abfuhr von Anna holen.
Er dachte daran zurück, wie er in der vergangenen Woche den Arm um sie gelegt und sie ihn daraufhin brüsk zurückgewiesen hatte.
„Schon gut“, sagte Beate, die merkte, wie zögerlich sich Herbert verhielt.
Sie ging in die Richtung von Annas Zimmer, um zu sehen, was mit Anna los war.
Annas Tür stand offen, sie selbst lag auf dem Bett. Sie war bleich im Gesicht und ihre Hände zitterten.
Beate dachte sofort an eine Unterzuckerung.
Deshalb schwitzte Anna wohl auch. Alle Stresssymptome wiesen auf einen zu niedrigen Blutzuckerspielgel hin – das Schwitzen und Zittern, vielleicht hatte sie ja zusätzlich Herzrasen.
Aber das waren Vermutungen.
Anna muss ins Krankenhaus
„Wir müssen den Arzt rufen“, rief Beate, als sie in die Küche zurückeilte. Nebenan war gleich das Büro.
„Ich mach‘ dass“, sagte Ulrike, die ebenfalls hereingekommen war.
Der Arzt kam schnell.
„Frau Sturm sollte für ein paar Tage ins Sund-Krankenhaus“, sagte er zu Schwester Ulrike.
„Ich habe ihr eine Spritze gegeben, und ihr geht es jetzt wieder so weit gut“, sagte er noch.
„Warum soll ich ins Krankenhaus“, fragte Anna plötzlich.
Sie hatte sich im Bett aufgerichtet und schaute verwirrt in die Runde.
„Keine Sorge, das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme“, redete Beate auf sie ein.
Herbert soll Anna ins Krankenhaus begleiten
„Herbert, die wollen mich ins Krankenhaus verfrachten, aber ich will das nicht.“
Anna blickte zu Herbert, ihrem Mitbewohner, der zwischen dem Arzt, Schwester Ulrike und Beate durchlugte.
Er zog seinen Kopf blitzschnell wieder zurück, als sich alle zu ihm umdrehten.
„Sind Sie Ihr Freund?“, fragte der Doktor.
„Nein, um Gottes Willen“, beteuerte Herbert.
„Wir kennen uns nur flüchtig.“
Das klang, als sich beide zufällig auf der Straße begegnet und hätte flüchtige Blicke miteinander ausgetauscht.
Aber sie waren sich nicht auf der Straße begegnet, höchstens auf dem Flur im ‚Betreuten Wohnen‘.
Hier gab es kein Entrinnen, außer man wurde ins Krankenhaus eingeliefert, oder noch schlimmer.
Der Arzt hatte in der Zwischenzeit einen Krankenwagen geordert und die Überweisung ausgestellt.
„Wilhelm, du begleitest mich doch ins Krankenhaus?“.
Anna schaute Herbert an. Der war verwirrt und ahnte, dass Anna ihn mit ihrem Mann Wilhelm Sturm verwechselte.
„Der Herbert kommt dich vielleicht besuchen, wenn wir wissen, wie es dir geht“, griff nun Beate ein.
„Aber ich denke, du kannst bald wieder an unseren Liedernachmittagen in der Tagespflege teilnehmen“, sagte sie noch.
Anna nickte und winkte, als die beiden Rettungssanitäter sie im Rollstuhl zum Fahrstuhl fuhren.
„Ach, hier geht es raus, das muss ich mir merken.“
Die beiden Sanitäter schauten sich verblüfft an und konnten sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
„So Frau Sturm, jetzt geht es ins Krankenhaus und dann schauen wir mal, dass wir sie wieder gesund kriegen“, sagte einer der Rettungssanitäter, während sie Anna in den Fahrstuhl schoben.
„Ich bin gar nicht krank, die spinnen ja alle.“
Die Sanitäter wechselten nur einen Blick, erwiderten aber nichts darauf.
Schwester Beate rief Klara an.
„Ihre Mutter musste zur Kontrolle ins Krankenhaus. Zur Sicherheit.“
„Was hat sie denn?“, fragte Klara besorgt.
„Ihre Zuckerwerte waren nicht so in Ordnung. Aber es geht ihr schon viel besser. Wenn es so bleibt, dann kann sie sich in ein bis zwei Tagen wieder nach Hause.“
Anna denkt nicht mehr an ihre Wohnung
Schwester Beate hatte gar nicht daran gedacht, dass es Annas Zuhause gar nicht mehr gab, sondern sie nur noch ein Zimmer im ‚Betreuten Wohnen‘ hatte.
„Kannst du dir vorstellen, dass Mutti noch nicht einmal nach ihrer Wohnung gefragt hat“, sagte Klara zu Peter, nachdem sie ihm berichtet hatte, dass Anna ins Krankenhaus gekommen war.
„Das ist doch ein sehr gutes Zeichen, denn dann fühlt sie sich offensichtlich wohl.“
Keiner mochte aussprechen, dass es wohl vor allem daran lag, dass Anna vergessen hatte, wo sie einst gewohnt hatte.
Zwei Tage später rief Klara wieder im Heim an, um zu erfahren, ob Anna wieder aus dem Krankenhaus heraus war.
„Ihre Mutti ist gestern bei uns wieder gelandet und ist gut drauf“, sagte Schwester Ulrike, die gerade Dienst hatte.
„Kann ich sie mal sprechen?“, fragte Klara.
„Klar.“
„Anna, Telefon für dich“, hörte Klara Schwester Ulrike sagen.
„Das ist ja schön, dass du dich mal meldest“, sagte Anna zu Klara.
„Ja, ich wollte nur mal hören, wie es dir geht und ob du den Krankenhausaufenthalt gut überstanden hast“, sagte Klara.
„Ich war nicht im Krankenhaus, ich war die ganze Zeit hier.“
Anna saß gerade in der Küche, auf ihrem Lieblingsplatz, von dem aus sie alles beobachten konnte.
Klara wollte erst etwas dazu sagen, dass Anna sich nicht mehr erinnerte, aber dann schwieg sie doch.
„Und, geht es dir gut?“
„Mir geht es sehr gut!“, sagte Anna.
„Seid ihr auch schmerzfrei“, fragte sie Klara.
Klara war verblüfft. Wieso nahm sie so ein Wort in den Mund?
„Ja, wir sind alle schmerzfrei“, sagte Klara stattdessen und musste doch ein wenig schmunzeln.
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ALLTÄGLICHES-2022.02.02
ANNA ‚ICH BRAUCH‘ BEDENKZEIT‘
VON DER TÄGLICHEN QUAL DES SICH ÜBERWINDENS UND DER FREUDE, ES GESCHAFFT ZU HABEN
KRÜMEL ZEIGT MIR, WAS GLÜCK IST UND BRINGT MICH AUF EINEN BIBELSPRUCH
ES KOMMT DARAUF AN, OB DU DEN ANDEREN ÜBERHAUPT VERSTEHEN WILLST
GEDULD UND SELBSTBEHERRSCHUNG – UNSCHLAGBAR IN STRESSIGEN SITUATIONEN
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BIBEL-2022.02.01
So habe ich das auch noch nicht gesehen. Gut, dass ich diesen Spruch in der Bibel gefunden habe.
Und ich wollte mir schon die Haare färben lassen.
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ALLTÄGLICHES-2022.01.29
SONNTAG, 23.01.2022 (KW 03) KRÜMEL ZEIGT MIR, WAS GLÜCK IST UND BRINGT MICH AUF EINEN BIBELSPRUCH https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/23/bibel-2022-01-23/
MONTAG, 24.01.2022 ES KOMMT DARAUF AN, OB DU DEN ANDEREN ÜBERHAUPT VERSTEHEN WILLST https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/24/bibel-2022-01-24/
DIENSTAG, 25.01.2022 https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/25/bibel-2022-01-25/
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DONNERSTAG, 27.01.2022 SPEZIALIST FÜR DAS BANALE IM ALLTAG SEIN https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/27/schreib-alltag-2022-01-27/
FREITAG, 28.01.2022 ‚ICH HELFE, WO ICH NUR KANN‘ https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/28/anna-2022-01-28/
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ANNA-2022.01.28
Schwester Beate schlief unruhig, seitdem Ulrike ihr vorgeschlagen hatte, die Leitung der Tagespflege zu übernehmen.
Was sollte sie tun? Das Angebot von Ulrike annehmen?
Eigentlich wollte sie nicht mehr Verantwortung übernehmen, sich mit den Kolleginnen herumstreiten oder vor dem Computer sitzen und die Planung für die nächsten Wochen aufstellen.
Aber sie hätte auch ihr ‚eigenes Reich‘, könnte sich kreativ entfalten, den Tagesgästen mit ihren Ideen ein paar schöne Momente am Tag bereiten.
Anna bekam von Klara einen Anruf.
„Ich sitze gerade in der Drogerie auf der Treppe“, sagte sie zu ihrer Tochter in einem Ton, der keinen Zweifel aufkommen lassen sollte, wo sie wirklich war.
Anna saß gerade in der Küche des ‚Betreuten Wohnens‘ während sie mit Klara telefonierte.
Klara sprach noch kurz mit Schwester Beate, die sich kurz darüber empört hatte, was Anna am Telefon von sich gegeben hatte: ‚Hier gibt’s kein Frühstück‘.
„Gibt es noch irgendwas, was ich wissen sollte oder was ich tun kann“, fragte Klara.
„Nein, im Prinzip nicht.“
„Vielleicht“, begann Schwester Beate und stockte, weil sie überlegte, wie sie es Annas Tochter sagen sollte.
„Ja?“, fragte Klara und wartete ab, was nun kommen würde.
„Ach wissen Sie, Ihre Mutter hat hier ganz schön zugelegt und ihr passen die Hosen gar nicht mehr, die in ihrem Schrank hängen“, sagte nun Beate.
„Gut, das mach‘ gern und kaufe ihr ein paar neue Hosen“, antwortete Klara, während Peter in den Raum kam.
„Ach, mein Mann kommt gerade herein. Meine Mutter unterhält sich so gern mit ihm.“
Peter wehrte sich, den Hörer zu übernehmen. Er wedelte lautlos mit den Händen, so als wolle er eine Boeing 747 zum Stoppen auffordern.
„Sind Sie noch dran?“, fragte Schwester Beate.
„Ja, ich übergebe mal“, sagte Klara und reichte Peter im gleichen Moment den Hörer.
Peter zog die Augenbrauen hoch, seufzte, so als würde er sich einen dicken Stoffballen aufladen müssen und wusste, dass er es nicht schaffen würde.
„Hallo?“, fragte er knapp.
„Ja guten Tag Peter, ich freue mich, dass ich auch mal höre.“
„Wie geht es dir?“, fragte Peter, ohne auf Annas Bemerkung einzugehen.
„Ach, mir geht es sehr gut. Die Sonne scheint, ich schaue auf das Meer. Das ist doch viel.“
Peter wunderte sich, dass Anna vom Meerblick sprach. Sie saß offensichtlich in der Küche und konnte von da aus gar nicht auf den Sund blicken.
„Was machst du so den ganzen Tag“, fragte er weiter, während Klara ihn mit einem Blick streifte, der wohl hieß: ‚Was fragst du sie, wo sie doch kaum weiß, was sie gerade in der letzten Minute getan hat.‘
Peter beschloss, Anna aufzumuntern. Er begann von Krümel zu erzählen.
„Stell dir vor, die Kleine war für eine ganze Woche bei uns und wir bekamen sie kaum gebändigt, so viel Energie hatte sie mitgebracht.“
„Ach, wie schön“, sagte Anna, wobei nicht ganz klar war, worauf sie das bezog.
„Morgens beim Frühstück“, da habe ich der Kleinen stets eine Geschichte erzählt, von einer Scheune, einem Esel, dem Hund ‚Bobby‘ und der Katze ‚Penni‘.
„Weißt du“, fing Anna an zu schwärmen, „ich war früher selber gern auf dem Hof von Onkel Gottfried.
‚Ich hätte Anna die gleiche Geschichte erzählen können‘, dachte Peter, nur dass Anna sich wesentlich weniger merken konnte.
Peter vergaß oft, den Hasen ‚Hoppel‘ zu erwähnen, was Krümel sofort anmahnte, „und Hoppel?“
„Hilfst du denn auch in der Küche mit?“, wechselte Peter das Thema.
„Oh ja, ich helfe, wo ich kann“, sagte Anna.
„Was machst du denn zum Beispiel in der Küche?“
Es entstand eine Pause, Anna wußte wohl nicht, was sie auf Peters Frage sagen sollte.
„Anna, du schnippelst doch viel“, war die Stimme von Schwester Beate aus dem Hintergrund zu hören.
„Ja, das stimmt, ich schnipple viel.“
„Schälst du Kartoffeln mit und wäscht du das Gemüse ab?“
Peter wollte Anna helfen, aber zwei Fragen in einem Satz, das war zu viel für Anna.
„Bestimmt putzt du viel das Gemüse.“
„Ja, das mach‘ ich“, kam es nun von Anna.
„Also ist auf dich Verlass“, sagte Peter.
„Das kann man wohl so sagen“, stimmte Anna zu.
Es war leicht, sich darüber lustig zu machen, aber Peter konnte das nicht.
Er hatte zwar seine eigene Art von Humor, jedoch an der Stelle half er lieber Anna, sich zu erinnern, zu sprechen, einfach sie aufzumuntern.
Peter verabschiedete sich von Anna.
„Es war so schön, dass du auch mal am Hörer warst“, sagte Anna zum Schluss.
Klara hatte das nicht gehört, und er wollte ihr davon nichts sagen, denn dann hätte er gleich einen Plan der Telefongespräche mit Anna aufstellen müssen.
Es war schon komisch. Bei Krümel bettelte er geradezu darum, ihr abends am Telefon eine ‚Gute Nacht Geschichte‘ erzählen zu können und hier musste er sich überwinden.
Aber wie würde es bei ihm sein, wenn er in der Lage von Anna wäre?
Würde Laura sich um ihn so kümmern, wie es Klara und er bei Anna taten?
Peter verdrängte den Gedanken, wollte sich nicht mit diesen Aussichten beschäftigen.
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BIBEL-2022.01.23
„Wer auf das Wort merkt, der findet Glück; und wohl dem, der sich auf den Herrn verlässt!“ SPR 16,20
Dieser Satz brachte mich zurück in die Welt meiner vierjährigen Enkelin.
Sie ist so glücklich, wenn ich mit meinen Worten, unsortiert und ungeschliffen, über eine klapprige Scheune erzähle, in der ein Esel zu Hause ist, die Katze ‚Penni‘ und der Hund ‚Bobby‘.
Und durch den Schornstein kommt ‚Pipeva‘ geflogen, der kleine freche Spatz, der mit Ruß bedeckt aus dem Kamin klettert.
Krümel liebt diese Welt, die ich für sie beim Frühstück erschaffe.
Wie sehr sie darin lebt, in dem Moment jedenfalls, das merke ich, wenn sie sagt: „Erzähl‘ weiter, Opa.“
Als wir sie nach Hause fahren, da ruft sie von der Rückbank: „Opa, du musst anhalten und das Fenster herunterkurbeln, ‚Penni‘ will noch mitfahren.
Also halte ich an, öffne das Fenster und frage: „Ist ‚Penni‘ drin?“
„Ja, Opa, du kannst weiterfahren“, antwortet sie fröhlich.
Das sind die kleinen Augenblicke des Glücks für Krümel, ausgelöst durch einfache beschreibende Worte, und das macht mich wiederum glücklich.
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ALLTÄGLICHES-2022.01.22
MANCHMAL IST NUR REDEN ZU WENIG https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/17/bibel-2022-01-17/
MANCHES ÄNDERT SICH EBEN DOCH NICHT https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/18/anna-2022-01-18/
PFLEGEN, BETREUEN, HELFEN - SIND NICHT NUR WORTHÜLSEN FÜR DEN CURA VERDE PFLEGEDIENST AUS ORANIENBURG https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/19/menschen-2022-01-19/
SENIORENHILFE GOTHA - EIN TEAM, DAS IN DIESE ZEIT PASST https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/21/menschen-im-alltag-2022-01-21/
ANNA-2022.01.18
Dieser Beitrag stammt aus dem vergangenen Jahr, aus Januar 2021.
Hätte ich ihn auch zu Beginn dieses Jahres, also 2022, schreiben können?
Schon komisch, man sagt, die Welt verändert sich. Aber Manches bleibt wohl doch gleich, oder es wiederholt sich nur unter anderen Bedingungen.
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ANNA-2022.01.14
WAS BISHER WAR:
Schwester Ulrike hatte Beate angeboten, künftig die Leitung der Tagespflege zu übernehmen.
Beate sträubte sich zunächst gegen diesen Gedanken. Sie scheute die Verantwortung, traute sich nicht zu, für alles zuständig zu sein.
Sie hatte sich bei Ulrike Bedenkzeit ausgebeten.
Annas Demenz schritt weiter voran, langsam und dennoch unerbittlich.
Klara machte sich Sorgen, wie es mit ihr weitergehen sollte.
Beate schlief seit einigen Tagen nicht gerade gut und auch nicht viel.
Sie stand nachts auf, schlurfte in die Küche, machte lustlos die Kühlschranktür auf und schaute, was sie noch essen konnte um die Zeit, kurz vor Mitternacht.
Sie entdeckte einen Schokoladenpudding, nahm ihn heraus und setzte sich an den Küchentisch. Sie setzte sich nicht richtig, nur halb. Sie wollte nicht lang verweilen, sie wollte einfach nur müde werden, um wenigstens noch ein paar Stunden schlafen zu können.
Sie riss die Abdeckung vom Schokoladenpudding auf, leckte den ersten Pudding mit herausgestreckter Zunge von der Innenseite des Deckels, tauchte anschließend einen Plastiklöffel in den Pudding und steckte ihn in den Mund.
Der Schokoladenpudding schmeckte gut, aber Beate ärgerte sich schon, dass sie nicht standfest geblieben war, um nicht noch weiter zuzunehmen.
Was solle sie nur tun? Dem Angebot von Ulrike zustimmen und die Leitung der Tagespflege übernehmen?
Sie wusste es nicht. Sie wollte eigentlich nicht mehr Verantwortung übernehmen, sich mit den Kolleginnen herumstreiten oder vor dem Computer sitzen und die Planung für die nächsten Wochen aufstellen.
Aber sie hätte auch ihr eigenes Königreich, könnte sich verwirklichen, den Menschen aus dem Heim ein paar schöne Stunden am Tag bereiten.
Tat sie das nicht jetzt schon, den Tagesgästen Freude bereiten?
Schließlich hatte sie gerade Knut von der Insel Rügen für den Liederabend gewinnen können.
Sie sollte ihn fragen, was er davon hielt, dass sie künftig die Chefin der Tagespflege sein würde.
Beate schaute auf die Küchenuhr, die an der Wand hing und deren Ticken etwas Beruhigendes hatte.
Es war inzwischen kurz nach zwei Uhr Mitternacht. Beate erhob sich vom Suhl und ging aus der Küche zurück in ihr Schlafzimmer.
Sie legte sich hin, wälzte sich noch ein paar Mal umher und schlief schließlich ein.
Der Wecker machte einen ohrenbetäubenden Lärm und Beate schrak hoch, schnellte geradezu aus dem Bett?
Hatte sie verschlafen?
Ihr war, als wäre sie gerade erst eingenickt.
Es war bereits nach fünf Uhr und Beate hatte Frühdienst.
Sie machte sich hastig fertig und ging ohne Frühstück aus dem Haus.
Den Gedanken an die Tagespflege verdrängte sie und konzentrierte sich auf den Beginn des Tages mit den Bewohnern.
Als sie im Haus ankam und den Schlüssel heraussuchte, ging die Tür von innen auf und der Hausmeister kam ihr mit einem fröhlichen ‚Guten Morgen‘ entgegen.
„Schon so früh am Wirken?“, versuchte Beate lustig zu sein.
„Wie schnell ist Nacht und nichts gemacht“, erwiderte der Hausmeister und wünschte ihr noch einen schönen Tag.
‚Na, ich bin froh, wenn ich ihn überstehe, ohne irgendwo einzuschlafen‘, dachte Beate im Stillen.
Im Flur saß Anna, ungekämmt, ungewaschen und noch im Nachthemd.
„Anna, was ist los?“
„Ach, ich konnte nicht schlafen und da habe ich mich ein wenig hier hingesetzt und schaue zu, wie der Hausmeister gesaugt hat. Aber der kann ja arbeiten, so schnell und so sauber“, sagte sie.
„Na, dann wollen wir dich mal zurückbringen und dich gleich fertigmachen“, antwortete Beate.
Jetzt kam sie richtig in Stress. Sie müsste eigentlich sofort mit den Vorbereitungen für das Frühstück beginnen. Aber Anna war erst einmal wichtiger.
Irgendwie war Beate in ihrem Element. Die Müdigkeit war verflogen.
Anna war frisch gekämmt, gewaschen und mit einem bequemen Kleid angezogen, das Beate ihr rausgelegt hatte.
Während Beate sich um das Frühstück kümmerte, saß Anna bereits wieder vorn, diesmal nicht im Flur, sondern in der Küche.
Sie konnte zusehen, wie die Pflegekräfte hin – und herliefen und die ersten Bewohner in der Küche eintrafen, um sich an ihren Platz zu setzen.
Das Telefon klingelte und Beate rief Anna zu:
„Deine Tochter Klara möchte dich sprechen.“
„Klara, wieso?“ Anna schien nicht zu wissen, wer mit ihr telefonieren wollte.
Dann wurde es ihr klar und ihr Gesicht hellte sich auf.
„Sturm“, sagte sie etwas förmlich, so als würde nicht ihre Tochter am anderen Ende der Leitung sein, sondern eine fremde Person, die mit ihr etwas Sachliches besprechen wollte.
„Wo bist du gerade?“, fragte Klara.
„Ach, ich sitze in der Drogerie auf der Treppe, auf der Offizierstreppe, weißt du?“, antwortete Klara.
Beate drehte sich verblüfft vom Herd um und schaute Anna fragend an.
Wusste Anna etwa nicht, dass sie im Heim war?
Klara aber ließ sich nicht beirren, sie wusste, wo Anna in Wirklichkeit war – in der Küche auf dem Stuhl vor ihrem Frühstückstisch.
Sie realisierte schnell, dass ihre Mutter in ihrer ganz eigenen Welt war. Sie wähnte sich auf Arbeit, in der Drogerie, in der sie mit 16 Jahren angefangen hatte und mit 60 Jahren ausgeschieden war.
Was sollte Klara davon halten?
Sollte sie traurig sein, dass ihre Mutter nicht mehr wusste, wo sie war?
Klara entschloss sich, es gut zu finden.
Wahrscheinlich fand Anna es aufregend, in der Küche zu sitzen und den Schwestern zuzusehen, wie sie umherliefen, Pillen verteilten und den Blutdruck überprüften.
„Habt ihr denn schon mit dem Frühstück angefangen?“, fragte Klara weiter.
„Nein, heute gibt es nichts“, sagte Anna.
„Natürlich gibt es gleich was zum Frühstück“, sagte Beate jetzt laut in Annas Telefonat hinein.
Sie war empört, dass Anna so etwas behauptete.
Was sollte die Tochter von Anna denken? Dass ihre Mutter nicht richtig verpflegt wurde?
Zur gleichen Zeit hätte Beate sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
Für einen Augenblick hatte sie ebenfalls vergessen, wie dement bereits Anna war.
„Und habt ihr denn viel zu tun, auf Arbeit?“, fragte Klara nun ihre Mutter.
„Naja, hier ist ganz schön was los“, sagte jetzt Anna.
„Mutti, gib‘ mir doch mal bitte Schwester Beate“, sagte Klara nun.
„Schwester Beate, guten Morgen, Frau Gerber. Entschuldigen Sie, aber das ist mir eben so rausgerutscht.“
„Ja, ich kann sie verstehen. Ich bin ja selbst so schockiert, dass Mutti manchmal schon so abwesend ist. Wie klappt es denn sonst?“
„Ach, Frau Gerber, wir haben hier alle ihre Mutti gern. Sie geht jetzt viel umher, fragt nicht mehr nach ihrer Wohnung und spricht gern mit anderen Bewohnerinnen. Nur mit dem Waschen, besser dem Duschen, da haben wir so unsere Schwierigkeiten.“
Klara seufzte anstelle einer Antwort.
Sie musste sich zurückerinnern, wie es war, als sie die letzten Mal ihre Mutter in der Wohnung besucht hatte und wie störrisch Anna da bereits gewesen war, wenn es darum ging, sich einmal gründlicher zu duschen oder gar zu baden.
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ANNA-2022.01.13
(ANNA-2021.07.21)
„Wie ist das Wetter bei euch da oben?“, fragte Peter Anna.
Es war das übliche Telefongespräch am Vormittag, es war diesig und es schien keine Sonne, Wind war aber auch nicht.
Das war gestern so, vorgestern ebenfalls.
Anna hätte also sagen können: „Das Wetter ändert sich seit Tagen nicht, es ist gleichgeblieben.“
Doch diese gedanklichen Fäden konnte Anna nicht mehr ziehen.
„Der Himmel ist grau, die Sonne scheint nicht, aber es ist auch kein Wind“, sagte Anna stattdessen.
„Prima“, antwortete Peter. Er war irgendwie froh, dass er über dieses stets wiederkehrende Thema den Gesprächsfaden mit Anna knüpfen konnte.
Klara hat einen Stollen für Anna gebacken
„Heute Nachmittag fahren wir zur Post. Klara hat einen Stollen eingepackt und den schicken wir dir“, redete Peter weiter.
„Ach, wie kann ich dir nur danken?“, fragte Anna.
„Naja, ich habe damit nichts zu tun. Nur, dass ich den vorhergehenden mit aufgegessen habe, nachdem Klara ihn gebacken hatte.“
Anna verstand diese Art von Humor nicht mehr.
„Ja, das ist so schön, ich freue mich. Wie kann ich euch nur eine Freude machen?“
„Ach, mir würde eine ganze Menge einfallen“, antwortete Peter und bereute zugleich, dass er es überhaupt gesagt hatte.
Anna kommt nicht mehr darauf, anderen eine Freude zu bereiten, wo sie das früher doch so gern getan hat
„Ja, was denn?“, fragte Anna nach einer Weile.
Flasche Sekt, warme Socken, Kasten Mon Cherie, Puppe für Krümel, das könnte er antworten. Es schoss ihm geradezu ein, während Anna die Frage noch gar nicht zu Ende formuliert hatte.
Sagte er davon was? Natürlich nicht. War es schlimm, dass Anna nicht mehr auf das kam, was sie früher in solchen Momenten tat? Überhaupt nicht.
„Schade nur, dass Anna sich um die Glücksgefühle brachte, die sie früher überkamen, wenn sie anderen eine Freude machte“, dachte Peter in diesem Moment.
Doch dafür konnte sie nicht. Die Demenz ließ das nicht mehr zu, nahm ihr Stück für Stück diese Empathie.
Das war das eigentlich Schlimme – vor allem für Anna. Umso mehr mussten sich Klara, Laura und Peter bemühen.
Und das taten sie ja auch.
Der Kreis der Möglichkeiten, Anna eine Freude zu bereiten, wurde kleiner; der Stollen passte da noch rein
„Wenn dir der Stollen schmeckt, dann ruf doch KIara an. Sag ihr, dass er gut gelungen ist.“
„Das mach ich ja sowieso“, sagte Anna, so als hätte Peter auf etwas hingewiesen, was doch selbstverständlich war. Nun wurde er noch von Anna der Begriffsstutzigkeit überführt.
Trotzdem: Für den Moment hatte er Anna ein paar unbeschwerte Momente bereitet, so schien es jedenfalls.
Und wenn das Paket mit dem Stollen ankam, dann würde sich das wohl wiederholen. Immerhin. Der Kreis der Möglichkeiten, eine Freude zu bereiten, wurde kleiner.
Sie intensiver zu nutzen, das war wohl jetzt die Aufgabe.
Peter griff wieder zum Hörer, um Klara zu informieren: alles im grünen Bereich.
ANNA-2021.12.18
Anna saß in der Tagespflege ‚Du lebst im Moment‘.
Sie lauschte den Klängen des Akkordeons.
Irma sang besonders laut mit.
Laut und falsch. Sie saß direkt hinter Anna, die sich empörte, dass Irma alle übertönte.
„Ist die ‚mall’?“, raunte sie Herbert zu, der neben ihr auf dem Stuhl Platz genommen hatte.
„Ein bisschen“, sagte der leise und griente sie an.
„So wie wir alle eben. Sie ist nur schon ein wenig weiter“, schob er noch hinterher.
Anna schaute ihn empört an. „Wieso sind wir ‚mall‘? Also ich nicht, ich will damit nichts zu tun haben.“
Knut, der ‚Hamburger‘, spielte gerade die Melodien von Freddy Quinn und alle im Saal schunkelten und sangen mit.
‚Seemann, deine Heimat ist das Meer‘, sang Knut mit tiefer Stimme und Anna seufzte mehr dazu, als dass sie mitsang.
Anna wollte nicht, dass Herbert seinen Arm um ihre Schultern legte und drohte mit einem Kinnhaken von Wilhelm
„Ach, ist das schön!“, sagte sie und knüllte ihr Taschentuch zusammen, das sie in den Händen hielt. Herbert neben ihr rückte näher an sie heran und umfasste mit seinem linken Arm ihre Schulter.
Anna sah ihn fragend und verständnislos an.
„Wenn du nicht gleich loslässt, dann sage ich Wilhelm Bescheid, der kommt gleich wieder.“
Herbert zog erschrocken seinen Arm zurück und murmelte eine Entschuldigung.
„Bitte versteh‘ mich nicht falsch, ich wollte dich nur ein wenig trösten, du sahst so traurig aus.“
„Traurig, ich?“ Anna zog die Stimme hoch, sodass es pikiert klang.
„Du, wenn das Wilhelm sieht, dann bekommst du einen Kinnhaken, das hat er schon einmal gemacht mit seinem besten Freund, der sich an mich heranmachen wollte.“
„Kinnhaken?“, Herberts Gesichtszüge nahmen einen rätselhaften Ausdruck an.
„Wann soll das denn gewesen sein“, fragte er.
„Na beim Handball.“
„Aber das muss doch über sechzig Jahre her sein.“
Herbert ließ nicht locker.
„Ja, wir können ihn fragen, wenn er wieder hereinkommt.“
Herbert räusperte sich, kam mit dem Oberkörper ein Stück auf Anna zu und flüsterte fast, während Anna sich ein Stück in die andere Seite mit ihrem Oberkörper neigte.
„Anna“, sagte er, während sein Gesicht gefährlich nah an Anna herankam, „der Wilhelm, der ist doch längst tot.“
Beate war mit Herz und Verstand bei ihren Patienten
Anna sah ihn an und wurde schnippisch: „Na, das werden wir ja nun sehen. Warte es nur ab, er kommt gleich wieder. Wo er nur bleibt!“
Anna ließ sich nicht beirren und schaute wieder auf Knut, der inzwischen ‚Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins, ob du ein Mädel hast oder auch keins…‘ intonierte.
Anna laut mit und übertönte mit ihrer Stimme sogar Irma.
Schwester Beate saß in der hinteren Reihe des Saals, während Knut vorn Akkordeon spielte und die Bewohner dazu hingebungsvoll mitsangen und mitschunkelten. Sie konnte hinten nicht viel sehen, aber sie spürte, wie glücklich Anna und all die anderen waren.
Sie musste an ihren Dozenten denken, der ihr gesagt hatte, was das Wichtigste am Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen sei:
„Wir wollen den Menschen dabei helfen, mit ihrer Demenz umzugehen. Sie sollten alles aus sich herausholen können, was in ihnen drin ist, was sie nutzen können, um den Moment zu genießen.“
Beate ist eine ausgebildete ‚Vollblutschwester‘
Schwester Beate ist 1,65 cm groß, ein wenig übergewichtig, aber immer noch gutaussehend.
Sie hatte ihre brünetten Haare nach hinten gekämmt und dort zusammengebunden, so dass es ihr eine gewisse Strenge im Aussehen verlieh.
Beate hatte ihren Beruf von der Pike auf gelernt. Beate absolvierte die Schwesternschule, die direkt am Sund gelegen war und machte ihr Praktikum im Sund-Krankenhaus.
Sie war geschieden und hatte einen Sohn und eine Tochter, die beide verheiratet und nach Hamburg gezogen waren.
Beate war manchmal einsam, aber ihr Beruf nahm sie voll in Anspruch.
Sie war Jahrzehnte als OP-Schwester tätig gewesen und wollte vor einigen Jahren noch einmal etwas Neues beginnen, eine Tätigkeit ausüben, die sie mit mehr Menschen zusammenbrachte.
Schwester Beate qualifizierte sich zur staatlich anerkannten Altenpflegerin weiter.
Später hängte sie noch eine Weiterbildung für die Betreuung von demenzkranken Menschen ran.
Nun war sie schon für ein paar Jahre in der Senioreneinrichtung ‚Sörensen‘, im Bereich des ‚Betreuten Wohnens‘.
Immer mehr wurde sie auch in der Tagespflege eingesetzt.
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BIBEL-2022.01.10
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ALLTÄGLICHES-2022.01.08
WARUM ÜBER MENSCHEN IN DER PFLEGE SCHREIBEN https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/02/menschen-im-alltag-2022-01-02/ MENSCHEN IM ALLTAG-2017-2021 https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/02/menschen-im-alltag-2017-2021/
LAURA BILDET SICH MAL WIEDER WEITER https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/08/alltaegliches-2022-01-08-2/
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ANNA-2022.01.07
Was bisher war:
Knut, der ‚Hamburger‘ spielte die Lieder von Freddy Quinn und alle im Saal schunkelten mit.
Herbert, ein Mitbewohner, saß neben Anna und versuchte, sich ihr anzunähern.
Anna wies ihn brüsk zurück. „Wenn das Wilhelm sieht, dann bekommst du einen Kinnhaken…“
Nur das Wilhelm, der Mann von Anna, schon über 20 Jahre tot war.
Schwester Beate saß in der hinteren Reihe des Saals, während Knut auf dem Akkordeon spielte und die Gäste mitsummten.
Beate konnte nicht viel sehen, aber sie spürte, wie glücklich die Gäste in der Tagespflege waren, wenn sie für ein paar Stunden, dem ‚Betreuten Wohnen‘ entrinnen konnten.
Die Veranstaltung mit Knut, dem ‚Hamburger‘ war zu Ende und die Gäste klatschten begeistert Beifall.
Beate saß immer noch auf ihrem Stuhl und war gerührt, weil die Bewohner aus dem Haus ‚Sörensen‘ so eine schöne Abwechslung genießen konnten. Sie war froh, dass sie den Seemann Knut angesprochen hatte.
Herbert ging hinter Anna, als sie den Saal der Tagespflege verließen. Herbert war noch betroffen von dem Vorgang im Saal. War er tatsächlich zu weit gegangen, als er versucht hatte, den Arm um Anna zu legen?
Dabei wollte er doch nur ein wenig Gemütlichkeit aufkommen lassen, mit Anna schunkeln und Freude haben. Oder redete er sich das nur ein, und er verfolgte in Wirklichkeit mehr?
Er wusste es selbst nicht so richtig.
„Herbert, wo bleibst du denn?“, ertönte es vor ihm. Anna hatte sich zu ihm im Gehen umgedreht und rief den Namen Herbert so, als sei in Wahrheit ihr Wilhelm gemeint. Sie hatte den Vorgang von vorhin bereits wieder vergessen.
Herbert blieb vorsichtshalber doch hinter ihr. Wer wusste das schon, wie es gemeint war. Vielleicht kam Wilhelm doch noch um die Ecke und verpasste ihm einen Kinnhaken. Es passierten ja so viele merkwürdige Dinge.
„Hallo, ihr Lieben!“, rief Schwester Ulrike, die an der Tür stand, „war es schön?“
„Ach ja, so schön“, antwortete einige, während sie auf sie zugingen.
Schwester Ulrike blieb noch an der Tür stehen und wartete, bis Schwester Beate auftauchte.
„Beate, kannst du mal in mein Zimmer kommen?“, sprach Ulrike sie an.
„Ist irgendetwas passiert?“, fragte Beate sie verblüfft.
„Nein, nein, ich will mit dir nur in Ruhe etwas besprechen.“
„Ist gut, ich komme gleich, ich will nur sehen, dass alle wieder gut auf ihre Zimmer kommen“, sagte Beate noch.
Schwester Ulrike nickte und verschwand auf der Etage in ihrem Büro.
Sie hatte ihren Schreibtisch so gestellt, dass sie direkt auf den Sund schauen konnte, wenn sie daran saß und etwas erarbeiten musste.
Sie blickte hinaus und sah in der Ferne ein kleines weißes Schiff, das offensichtlich langsam vor sich hin tuckerte. Wahrscheinlich war es die Fähre, die die Leute nach Hiddensee brachte.
Sie sah viele weitere Boote, die aber eher wie kleine schwarze Punkte von ihrem Zimmer aus zu erspähen waren. Kleine Anglerboote, die auf dem Wasser schaukelten und auf Hering aus waren.
Es klopfte und Ulrike schreckte hoch.
„Ja bitte“, sagte sie etwas förmlich, obwohl sie wusste, dass es nur Beate sein konnte.
Sie kannten sich schon aus früheren Zeiten, eigentlich schon aus der Zeit, als beide noch im Sund-Krankenhaus als Krankenschwestern arbeiteten.
Sie mochten sich und sie respektierten sich gegenseitig, aber eine wirkliche Freundschaft war zwischen ihnen nicht entstanden.
Es war vielleicht besser so, denn nun war Ulrike die Vorgesetzte von Beate.
Ulrike war mehr die Macherin, die Managerin, die Abläufe planen und organisieren konnte, die es verstand, Menschen für sich einzunehmen.
Und Beate war immer eher auf der fachlichen Seite gewesen. Sie fühlte sich vor allem gern in Menschen ein, versuchte ihnen auch in ungewohnter Umgebung ein Gefühl von einem ‚Zuhause‘ zu geben.
Beate war froh, dass sie aus dem medizinischen Bereich des Krankenhauses in die Pflege gewechselt war, den Patienten noch näher sein konnte, nicht nur pflegerisch, sondern auch menschlich.
Ulrike schrak aus ihren Gedanken hoch, als es an ihrer Tür klopfte.
„Ja, bitte.“
„Da bin ich“, sagte Beate und trat vorsichtig ins Zimmer ein. Obwohl sich beide gut kannten, fühlte sich Beate nie ganz wohl, wenn sie zu ihrer Pflegedienstleitung gerufen wurde.
Es war in ihr drin, dieser Respekt, den sie nun mal vor jemandem hatte, der eine Leitungsfunktion ausübte.
„Bitte setz‘ dich doch, Beate“, sagte Ulrike freundlich.
„Kaffee?“
„Ja gern.“
Ulrike holte die bereitgestellten Tassen vor und goss aus der Thermoskanne den Kaffee ein.
„Danke“, sagte Beate, nachdem sie die Kaffeetasse entgegengenommen hatte.
Sie setzte an, um einen Schluck zu trinken und stellte fest, dass der Kaffee noch vom Morgen übriggeblieben sein musste.
Er hatte einen schalen Geschmack und war nicht mehr heiß.
Sie schluckte ihn runter, wie etwas, dem man nicht ausweichen konnte.
„Den Bewohnern schien es gut gefallen zu haben, mit dem ‚Hamburger‘ Knut?“
„Oh ja, ich habe ja hinten gesessen und konnte dadurch nicht alles erkennen, aber die Gäste haben mitgesungen, mitgeschunkelt und einige haben sich sogar untergehakt.“
„Wunderbar.“
„Das müssten wir des Öfteren veranstalten, und nicht nur das, sondern das Konzept für die Tagespflege erweitern.“
„Hm“, sagte Beate kurz und schaute Ulrike unentwegt an.
‚Worauf willst du hinaus?‘, schien sie zu denken.
„Sie hat mich doch nicht hierhergebeten, um mir das allzu Offensichtliche zu erklären, schoss es Beate durch den Kopf.
„Ich brauche dich als Leiterin der Tagespflege“, riss Ulrike sie aus ihren Gedanken.
„Mich?“
„Nein!“
„Doch!“, blieb Ulrike dabei.
Plötzlich war es still im Raum.
Ulrike ließ nicht den Blick von Beate und die wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
„Aber es gibt doch so viele gute und talentierte Kräfte, die außerdem noch viel jünger sind, als ich es bin“, wich Beate aus.
„Das mag schon sein, aber ich brauche dich als ein Fels in der Brandung, jemand, der entschlossen anpackt und auch die Richtung vorgeben kann.“
„Und das soll ausgerechnet ich sein?“, versuchte Beate, sich aus der Schlinge herauszuziehen.
„Beate, du bist kreativ, du hast für uns den Abend mit den Seemannsliedern organisiert. Die Leute spüren, dass du es ehrlich meinst mit ihnen. Sie fühlen sich bei dir geborgen.“
Das hatte Beate nun davon, dass sie sich wie ein Familienoberhaupt um ihre Gäste in der Tagespflege kümmerte und dabei noch vielen ihrer Kolleginnen im Stress zur Seite stand.
„Wir werden mehr tun müssen, was die fachgerechte Planung und Dokumentation anbetreffen.
Du siehst ja selbst, wie viel Zeit dafür draufgeht.
Und wir müssen umfangreiche Vorlagen und Materialien erarbeiten, die es uns erlauben, die Gäste noch individueller zu betreuen.“
Beate schwieg. Was sollte sie tun?
„Ich brauche Bedenkzeit“, sagte sie schließlich.
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ALLTÄGLICHES-2022.01.04
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BIBEL-2022.01.03
#BIBEL FÜR DEINEN ALLTAG
Anmerkung: „Der an einem Wasserlauf stehende Baum ist ein einprägsames Bild für das stets fruchtbringende Leben eines Menschen, der von der nie versiegenden Quelle des göttlichen Wortes getränkt wird.“ Vgl.: Der Psalter (Die Psalmen); Einführung, S. 658 Stuttgarter Erklärungsbibel mit Apokryphen, Die Heilige Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers, mit Einführungen und Erklärungen; Deutsche Bibelgesellschaft. ISBN 978-3-438-01123-7 Neuausgabe mit Apokryphen © 2005 Deutsche Bibelgesellschaft Zweite, verbesserte Auflage 2007, 10.2016.
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ALLTÄGLICHES-2021.12.31
LERNEN BIS ANS LEBENSENDE? SCHON, ABER AUSGERECHNET DIESE VOKABELN?
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ALLTÄGLICHES-2021.12.24
LIES ALICE MUNRO, DENN DAS BRINGT DICH WEITER – ALS LESER, ALS SCHREIBER, ALS MENSCH
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ANNA-2021.12.18
Was bisher war: Anna saß in der Tagespflege ‚Du lebst im Moment'. Sie lauschte den Klängen des Akkordeons. Irma sang besonders laut mit. Laut und falsch. Sie saß direkt hinter Anna, die sich empörte, dass Irma alle übertönte. „Ist die ‚mall’?“, raunte sie Herbert zu, der neben ihr auf dem Stuhl Platz genommen hatte. „Ein bisschen“, sagte der leise und griente sie an. „So wie wir alle eben. Sie ist nur schon ein wenig weiter“, schob er noch hinterher. Anna schaute ihn empört an. „Wieso sind wir ‚mall‘? Also ich nicht, ich will damit nichts zu tun haben.“
Knut, der ‚Hamburger‘, spielte gerade die Melodien von Freddy Quinn und alle im Saal schunkelten und sangen mit.
‚Seemann, deine Heimat ist das Meer‘, sang Knut mit tiefer Stimme und Anna seufzte mehr dazu, als dass sie mitsang.
„Ach, ist das schön!“, sagte sie und knüllte ihr Taschentuch zusammen, das sie in den Händen hielt. Herbert neben ihr rückte näher an sie heran und umfasste mit seinem linken Arm ihre Schulter.
Anna sah ihn fragend und verständnislos an.
„Wenn du nicht gleich loslässt, dann sage ich Wilhelm Bescheid, der kommt gleich wieder.“
Herbert zog erschrocken seinen Arm zurück und murmelte eine Entschuldigung.
„Bitte versteh‘ mich nicht falsch, ich wollte dich nur ein wenig trösten, du sahst so traurig aus.“
„Traurig, ich?“ Anna zog die Stimme hoch, sodass es pikiert klang.
„Du, wenn das Wilhelm sieht, dann bekommst du einen Kinnhaken, das hat er schon einmal gemacht mit seinem besten Freund, der sich an mich heranmachen wollte.“
„Kinnhaken?“, Herberts Gesichtszüge nahmen einen rätselhaften Ausdruck an.
„Wann soll das denn gewesen sein“, fragte er.
„Na beim Handball.“
„Aber das muss doch über sechzig Jahre her sein.“
Herbert ließ nicht locker.
„Ja, wir können ihn fragen, wenn er wieder hereinkommt.“
Herbert räusperte sich, kam mit dem Oberkörper ein Stück auf Anna zu und flüsterte fast, während Anna sich ein Stück in die andere Seite mit ihrem Oberkörper neigte.
„Anna“, sagte er, während sein Gesicht gefährlich nah an Anna herankam, „der Wilhelm, der ist doch längst tot.“
Anna sah ihn an und wurde schnippisch: „Na, das werden wir ja nun sehen. Wart’s nur ab, er kommt gleich wieder. Wo er nur bleibt!“
Anna ließ sich nicht beirren und schaute wieder auf Knut, der inzwischen ‚Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins, ob du ein Mädel hast oder auch keins…‘ intonierte.
Anna laut mit und übertönte mit ihrer Stimme sogar Irma.
Schwester Beate saß in der hinteren Reihe des Saals, während Knut vorn Akkordeon spielte und die Bewohner dazu hingebungsvoll mitsangen und mitschunkelten.
Sie konnte hinten nicht viel sehen, aber sie spürte, wie glücklich Anna und all die anderen waren.
Sie musste an ihren Dozenten denken, der ihr gesagt hatte, was das Wichtigste am Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen sei:
„Wir wollen den Menschen dabei helfen, mit ihrer Demenz umzugehen. Sie sollten alles aus sich herausholen können, was in ihnen drin ist, was sie nutzen können, um den Moment zu genießen.“
Schwester Beate ist 1,65 cm groß, ein wenig übergewichtig, aber immer noch gutaussehend.
Sie hatte ihre brünetten Haare nach hinten gekämmt und dort zusammengebunden, das ihr eine gewisse Strenge im Aussehen verlieh.
Sie hatte ihren Beruf von der Pike auf gelernt. Beate absolvierte die Schwesternschule, die direkt am Sund gelegen war und machte ihr Praktikum im Sund-Krankenhaus.
Sie war geschieden und hatte einen Sohn und eine Tochter, die beide verheiratet und nach Hamburg gezogen waren.
Beate war manchmal einsam, aber ihr Beruf nahm sie voll in Anspruch.
Sie war Jahrzehnte als OP-Schwester tätig gewesen und wollte vor einigen Jahren noch einmal etwas Neues beginnen, eine Tätigkeit ausüben, die sie mit mehr Menschen zusammenbrachte.
Schwester Beate qualifizierte sich zur staatlich anerkannten Altenpflegerin weiter. Später hängte sie noch eine Weiterbildung für die Betreuung von demenzkranken Menschen ran.
Nun war sie schon für ein paar Jahre in der Senioreneinrichtung ‚Sörensen‘, im Bereich des ‚Betreuten Wohnens‘.
Immer mehr wurde sie auch in der Tagespflege eingesetzt.
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ANNA-2021.12.11
WAS BISHER WAR: Anna hatte in der Nacht unruhig geschlafen, der Sturm war heftig gewesen und hatte mit unbändiger Kraft an den Fenstern und Rollläden des Hauses gerüttelt. Sie war aufgestanden, auf dem Flur umhergegeistert und schließlich wieder eingeschlafen, nachdem sie von der Nachtschwester zurück ins Bett gebracht worden war. Am nächsten Tag wusste sie von alledem nichts mehr. Sie ging nach dem Frühstück gemeinsam mit Herbert, einem Mitbewohner, hinunter zur Tagespflege.
Anna fühlte sich in eine andere Welt versetzt. Sie hörte von Weitem die Klänge des Akkordeons und tanzte auf dem Weg zu ihrem Platz ein wenig mit.
Dazu hatte sie die Arme angehoben und schwang sie leicht hin- und her, so als wolle sie dem Spieler den Takt vorgeben.
Am Akkordeon war Knut intensiv damit beschäftigt, die Melodie des Liedes „An der Nordseeküste …“ zu spielen.
Knut wurde von allen der ‚Hamburger‘ genannt. Dabei stammte er ursprünglich aus Schwerin, hatte dort in seiner Jugend die Schule und Ausbildung absolviert und sich später in den Westen abgesetzt.
Er heuerte als Leichtmatrose auf einem Frachtschiff an und schaffte es auf der Karriereleiter bis zum Bootsmann.
Seine Frau Helene stammte von Rügen und so zog er nach der Wende nach Saßnitz.
Als sie starb, fiel er in ein tiefes Loch, bis Schwester Beate von der Tagespflege ihn ansprach.
Sie hatte ihn in einer Kneipe in Alt-Saßnitz spielen hören.
Knut gefiel ihr. Nicht nur, weil er Seemannslieder spielte, sondern auch, weil er aussah wie ein Seebär.
Ein kantiges Gesicht, das von einem weißen Bart eingerahmt war, breite Schultern und Hände, die nicht vermuten ließen, dass er überhaupt die Tasten am Akkordeon erwischen konnte und noch dazu die richtigen Töne herausbrachte.
Beate überzeugte ihn, einmal in der Woche in der Tagespflege in Stralsund zu spielen.
Für Knut war das eine willkommene Abwechslung. Und so fuhr er mit seinem alten Opel donnerstags nach Stralsund, in die Pflegeeinrichtung ‚Sörensen`, besser gesagt, in die angeschlossene Tagespflege ‚Du lebst im Moment‘.
Für Schwester Beate ging damit ein langgehegter Wunsch in Erfüllung. Sie wollte ihren Tagesgästen nicht nur Spiele und Bastelarbeiten bieten, sondern auch Unterhaltung.
Die Frauen und Männer, die auf den Stühlen saßen und dem Seemann zuhörten, summten und schunkelten mit.
Irma sang besonders laut mit.
Laut und falsch. Sie saß direkt hinter Anna, die sich empörte, dass Irma alle übertönte.
„Ist die ‚mall’?“, raunte sie Herbert zu, der neben ihr auf dem Stuhl Platz genommen hatte.
„Ein bisschen“, sagte der leise und griente sie an.
„So wie wir alle eben. Sie ist nur schon ein wenig weiter“, schob er noch hinterher.
Anna schaute ihn empört an. „Wieso sind wir ‚mall‘? Also ich nicht, ich will damit nichts zu tun haben.“
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ANNA-2021.12.03
Der orkanartige Sturm hatte in der Nacht an den Fenstern von Annas Zimmer gerüttelt.
Es war unheimlich, die Windböen heulen zu hören, die über den Strelasund rasten und bis zum Pflegeheim herüberkamen.
Anna schlief unruhig. Sie wälzte sich im Bett umher, stand schließlich auf und begab sich in den Flur der Einrichtung.
„Anna, wo wollen Sie denn hin?“, fragte die Nachtschwester, die Schritte gehört hatte und nun Anna entgegenkam.
„Wo sind wir hier?“
„Sie sind hier in der Einrichtung ‚Sörensen‘, Anna.“
„‘Sörensen‘?, kenn‘ ich nicht. Anna blickte verwirrt und mürrisch die Schwester an.
Ja, ihre Mundwinkel zeigten einen störrischen, widerwilligen Ausdruck, so als wolle sie sagen: ‚Was soll das hier alles, wieso bin ich nicht in meiner Wohnung?“
„Anna, ich bringe Sie jetzt mal zurück zu Ihrem Zimmer“, sagte die Schwester und Anna ließ sich ohne Gegenwehr zurückbegleiten. Am nächsten Morgen wusste Anna nicht mehr, was überhaupt passiert war.
„Na, Anna, das war aber eine unruhige Nacht heute“, sagte die Schwester, die dabei war, das Frühstück vorzubereiten. Ihre Kollegin hatte ihr bei der Übergabe von dem nächtlichen Ausflug berichtet.
„Unruhig?“, fragte Anna zurück.
„Ich hab‘ nichts gehört. Ich lag doch in meinem Bett und habe geschlafen.“
Die Schwester ging nicht auf Annas Erwiderung ein.
„Wenn Sie gut geschlafen haben, dann ist ja alles bestens“, sagte sie stattdessen.
Aber Anna ließ nicht locker.
„Warum sollte denn irgendetwas nicht in Ordnung gewesen sein?“
„Sie sind in der Nacht ein bisschen spazieren gegangen, hier auf unserem Flur“, sagte die Schwester nun doch.
„Was ist denn das für ein Quatsch, auf dem Flur spazieren gehen? Hier kann man doch nicht wandern“, entgegnete Anna widerborstig.
Die Schwester aber, die ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
Sie stellte stattdessen eine Kaffeekanne vor Anna hin.
„Die Brötchen kommen auch noch gleich und ihre Lieblingsmarmelade.“
„Ja, die Himbeer-Marmelade, die esse ich doch so gern.
Anna nahm sich ein Brötchen aus dem Korb, griff zum Messer und teilte es damit in zwei Hälften, die sie aufklappte.
Das alles geschah für einen Außenstehenden, der zufällig hereinschauen würde, gefühlt in Zeitlupe, aber Anna hatte ja Zeit. Nichts hatte sie soviel wie die Zeit in dem Pflegeheim.
„Möchten Sie auch einen frischgepressten Orangensaft?“, fragte die Schwester weiter.
„Ja, da kann man ja wohl nicht nein sagen.“
„Gut, Anna, kommt sofort“, sagte die Schwester.
Anna biss währenddessen in das Brötchen und schaute sich in dem kleinen Speisesaal um.
Ihr gegenüber am Tisch saß Herbert. Er war noch ziemlich fit und auch sehr redegewandt.
„Guten Appetit, Frau Sturm“, sagte er.
Er traute sich nicht, sie mit dem Vornamen anzureden, obwohl sie schon einander vorgestellt wurden.
„Ich bin Anna und wer sind Sie“, fragte Anna ihn.
„Ich bin der Herbert“, sagte er und schaute sie an, ob sie sich nun wegen des Vornamens vielleicht empören würde.
Aber nichts dergleichen geschah.
„Und ich bin Anna“, sagte sie daraufhin.
„Aber was machst du in meiner Küche, Herbert? Warst du zu Besuch heute Nacht hier?“
„Anna, der Herbert wohnt doch in dem Zimmer nebenan“, griff die Schwester ins Gespräch ein.
Anna schaute irritiert.
„Dann bin ich wohl falsch?“, sagte sie.
„Nein, nein, Sie sind genau richtig hier bei uns. Und nach dem Frühstück gehen Sie runter in die Tagespflege, da wartet schon der Seemann aus Hamburg, der auf dem Akkordeon spielt.“
„Der Seemann aus Hamburg, hier wirst du nicht schlau“, sagte Anna.
„Anna, wir gehen nachher zusammen runter. Das wird bestimmt schön.“
Herbert schaute sie freundlich an.
„Ich kann doch nicht mit dir mitgehen, ich geh‘ doch mit meinem Mann, Wilhelm Sturm“, sagte Anna.
Herbert schaute betreten nach unten, so als wäre dort etwas Aufregendes zu sehen.
„Anna, der Wilhelm ist doch über 20 Jahre tot“, sagte die Schwester.
„Tot, über 20 Jahre? Und warum sagt mir das keiner?“
Herbert schwieg und die Schwester auch. Es war eine bedrückende Stimmung, die auf einmal aufkam. Keiner wusste, was er sagen sollte.
Vor allem wusste keiner der Anwesenden, was schlimmer war – dass Annas Mann schon viele Jahre nicht mehr lebte, oder dass Anna das vergessen hatte.
Als Anna und Herbert in Richtung Tagespflege gingen, da hörten sie bereits das Akkordeon des singenden Seemanns.
„An der Nordseeküste…“
„An der Ostseeküste…“, summte -Anna nun mit und tänzelte weiter in die Richtung, aus der die Akkordeonklänge drangen.
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ANNA-2021.11.23
WIE DIE KRANKHEIT DAS GESAMTE UMFELD DER FAMILIE VERÄNDERTE, SCHLEICHEND, FAST UNAUFFÄLLIG Der Alltag ging weiter, aber irgendwie und irgendwo war Annas Demenz auch immer mit dabei. Anna hatte ein verstaubtes Bild von der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Und sie liess sich davon nicht mehr abbringen. Jetzt, nach ihrer Krankheit, erst recht nicht mehr.
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ANNA-2021.11.08
November, vor ein paar Tagen. Ich habe Hanteln im Discounter gekauft - Sonderangebot. Morgens, kurz vor 07.00 Uhr. Die Leute standen draußen an, in einer Reihe. Ich fühlte mich zurückerinnert an DDR-Zeiten, so als gäbe es Apfelsinen oder Bananen. Die Menschen drängten mit Wucht in den Eingang, den die Verkäuferin gerade geöffnet hatte. Die ‚Raubtierfütterung‘ konnte losgehen. Ich schaute in das Gesicht eines Mannes, der an mir vorbeihetzte. Er schien um sein Leben zu rennen. Mir fiel die Geschichte ein, die ich vor einem Jahr, auch im November, bei ‚Anna ist dement‘ geschrieben hatte: Peter versuchte Kopfkissen, Bettbezüge und einen Hubschrauber für Krümel zu kaufen.
Peter schaute sich hilfesuchend um, wen er ansprechen könnte, damit er so schnell wie möglich an die Kopfkissenbezüge, die Decke für das Bett und den Hubschrauber für Krümel kam.
Er dachte darüber nach, was jetzt wohl am sinnvollsten wäre und er entschied sich für einen vorläufigen Rückzug, um mit etwas Abstand im hinteren Bereich den Überblick für die nächsten Schritte zu bekommen.
Peter fasste den Einkaufskorb an und zog ihn hinter sich her, während er sich nach Hilfe umschaute. Sollte er die Frau da drüben ansprechen, die ebenfalls in den Sachen wühlte, nur dass sie es nicht so aggressiv tat, sondern mit Bedacht.
Entschlossen schob er den Einkaufswagen wieder nach vorn, so wie eine Ramme, die für den Sturm auf ein schier uneinnehmbares Burgtor eingesetzt werden sollte.
„Ja, passen Sie doch auf, wo Sie mit Ihrem Wagen hinfahren“, schnaubte jetzt ein älterer Herr, der von der Seite kam.
„Ich komme von rechts“, sagte Peter.
„Sind wir auf dem Ku’damm? Lächerlich!“, antwortete der Herr und drängelte sich in die erste Reihe am Wühltisch.
Peter sah sich erneut um. Da entdeckte er die Verkäuferin, die gerade Lebensmittel in die seitlich stehenden Kühltruhen einfüllte.
Gerade als Peter sie ansprechen wollte, drehte sie ihm den Rücken zu und schob einen riesigen Wagen, angefüllt mit leeren Pappkartons, in Richtung der Tür zum Wareneingang.
„Vorsicht bitte!“, rief sie laut und entfernte sich schneller, als es Peter recht war.
‚Wenn man die schon mal braucht“, brummte er.
Er spürte, wie in ihm das Blut allmählich hochkochte.
Peter ließ einfach den Einkaufswagen stehen und ging schnellen Schrittes auf die Verkäuferin zu, die an der Kasse saß.
„Bitte entschuldigen Sie, ich suche ein paar Kopfkissenbezüge und eine Decke, die ich nicht an den Wühltischen finden kann“, rief Peter der Kassiererin zu, die damit beschäftigt war, eine endlos scheinende Anzahl von Dosen, Wurstpaketen, Haushaltsartikeln und Getränken vom Band zu nehmen und die entsprechenden Preise in die Kasse einzugeben.
„Junger Mann seien Sie doch so nett und fragen meine Kollegin, die gerade den Gang entlang auf Sie zukommt.“
„Oh, vielen Dank, mach‘ ich“, sagte Peter, drehte sich um und sah genau die gleiche Verkäuferin, die schon einmal vor ihm geflohen war, versteckt hinter einem Warenkorb auf Rädern.
Die Verkäuferin hatte Peter nun auch entdeckt und bog geschmeidig in einen anderen Gang ab. Jetzt war Peter hellwach. Er war endgültig auf der Jagd und so würde die Verkäuferin beim zweiten Mal keine Chance haben, ihm zu entkommen.
„Junge Frau!“, rief Peter mit lauter Stimme, sodass sich einige nach ihm umdrehten. Er war stehengeblieben. Er war überzeugt, sie würde es auch tun.
Die Verkäuferin hielt tatsächlich inne, drehte sich um und schaute Peter an, leicht verärgert, weil er sie in ihrem Tun unterbrach.
„Könnten Sie mir helfen, ein paar Dinge zu finden, die ich bis jetzt nicht entdecken konnte?“
„Was wollen Sie denn?“, fragte ihn die Verkäuferin mit einem Unterton in der Stimme, der an ihrer Botschaft keinen Zweifel ließ: ‚Wieso wagst du es überhaupt, mich anzusprechen, wo ich doch auf dem Weg zur Kasse bin, die ich aufmachen will, damit sich die Schlange der Wartenden an der Kasse nicht noch mehr in den Raum ergießt‘, schienen ihr Blick und ihre Stimme in völliger Eintracht miteinander ausdrücken zu wollen.
„Ich suche eine Decke und zwei Kopfkissenbezüger, hier, sehen Sie mal.
Peter wollte ihr auf dem iPad das Foto von dem Einkaufsprospekt zeigen, das er vorsorglich abfotografiert hatte.
„Das finden Sie alles da drüben“, unterbrach die junge Frau ihn und wedelte mit ihrer linken Hand in die Richtung des Ungewissen an den Wühltischen.
„Naja, da finde ich eben nichts“, entgegnete Peter fest entschlossen, sich nicht noch einmal abwimmeln zu lassen.
„Und offensichtlich finden Sie das ja ganz leicht, also wäre es schön, wenn Sie mir kurz helfen würden.“
Peter log, als er ‚kurz‘ meinte, denn er war der festen Überzeugung, dass sich das alles in die Länge ziehen würde.
Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie gemeinsam etwas finden würden, die war um ein Vielfaches größer, als wenn Peter es weiter allein versuchen wollte.
„Was suchen Sie denn?“, fragte die Verkäuferin nun schon versöhnlicher und beugte sich über das iPad. Dessen Oberfläche war inzwischen wieder schwarz geworden. Peter verfluchte das Gerät.
Er hatte es so eingestellt, dass er jedes Mal neu einen Code eintippen musste, damit die iPad-Oberfläche wieder aufleuchtete.
Bevor er also lange suchen musste, sagte er erst einmal, dass er einen Hubschrauber für seine Enkelin suche.
Die Verkäuferin ging schnurstracks auf die Leute zu, die sich vor den Wühltischen drängten.
„Darf ich mal hier durch?“, befahl sie mehr, als sie fragte.
„Schauen Sie mal, hier ist doch alles“, sagte sie jetzt an Peter gewandt, der direkt neben ihr stand.
„Ja, wo ist der Hubschrauber?“ Peter ließ nicht mehr locker.
Die Verkäuferin fuhr mit einem Arm zwischen die bunten Pakete und Schachteln und tastete sich so vorwärts, ohne den Hubschrauber zu finden. Jeden Karton, den sie triumphierend präsentierte, zeigte andere Spielzeuge, nur den Hubschrauber nicht.
Es war wohl doch nicht so einfach, stellte Peter mit Genugtuung fest.
„Hier sehen Sie mal“, sagte die Verkäuferin und hielt nach einem intensiven Durchwühlen des Tisches das Spielzeugpaket mit dem Hubschrauber auf dem Foto hoch.
„Na bitte, den nehmen wir“, sagte Peter.
„Und jetzt die Kopfkissenbezüge“, drängte Peter die Verkäuferin weiter.
„Die finden Sie nicht hier, sondern da drüben, in den großen Kartons, die noch nicht zu Ende ausgepackt sind“, antwortete sie.
„Ich muss nun zur Kasse“, sagte die Verkäuferin, winkte zum Abschied und eilte davon.
„Oh, vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen“, rief ihr Peter hinterher und stürzte zielstrebig in Richtung der Kartons, bevor es andere Kunden ebenfalls mitbekamen, wo sich die noch nicht gänzlich ausgepackten Waren befanden.
Die Kartons waren oben bereits offen und man konnte mit den Händen hineingreifen und die begehrten Kopfkissen herausziehen.
Die dicke Frau von den Wühltischen beobachtete Peter aus der Ferne argwöhnisch und näherte sich mit dem Instinkt eines immer noch hungrigen Schakals.
Peter zerrte das zweite Kopfkissen heraus, beugte sich über den Karton und griff mit dem Arm bis ganz nach unten durch.
Sein Bauch schnitt sich in die scharfe Kante am oberen Kartonrand ein.
Endlich bekam Peter eine Decke zu fassen, zerrte sie aus dem Karton, prüfte, ob es die richtige war und schmiss sie zufrieden in hohem Bogen in seinen Einkaufswagen.
„Darf ich mal vorbei?“, sagte Peter zu der dicken Frau, an der nun fröhlich vorbeiging. Die sah ihn wütend an, bevor sie ein Stück zur Seite ging.
„Vielen Dank. Da hinten gab es übrigens herrliche Kopfkissenbezüge. Aber die sind jetzt weg, ich habe die letzten mitgenommen“, flötete Peter in einem süßlich vergifteten Ton und hüpfte fast freudig in Richtung Kasse.
Die dicke Frau sah ihm erst misstrauisch nach und beugte sich anschließend selbst über den Karton, ja, sie hängte sich so tief mit dem Oberkörper hinein, dass sie fast das Gleichgewicht verlor.
Zu groß war ihre Neugier gewesen, was Peter da so angeblich Tolles herausgenommen hatte.
„Geschieht dir recht, du gieriges Monster“, murmelte Peter, während er mit Vergnügen das enttäuschte Gesicht der dicken Frau beobachtete, nachdem diese wieder aus der Tiefe der Kartons aufgetaucht war.
„Haben Sie etwas zu mir gesagt?“, fragte ihn jetzt eine junge Frau, die hinter ihm stand.
„Nein, nein, ich habe mit mir selbst gesprochen“, sagte Peter schnell.
„Ich meinte nur, dass die Kopfkissenbezüge wie kleine gemütliche Monster seien“, setzte er noch hinzu.
Die junge Frau nickte ihm freundlich lächelnd zu.
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ANNA-2021.10.15
Rückblick: Peter und Klara haben Anna in der Kurzzeitpflege für einige Tage untergebracht. Sie waren erleichtert, dass alles reibungslos und ohne größeren Widerstand von Anna geklappt hatte.
Peter und Klara waren wieder in Annas Wohnung angekommen. Es war komisch, dass Anna nicht mehr da war.
Aber Lukas ließ ihnen keine Zeit, groß darüber nachzudenken.
Die Schränke warteten darauf, auseinander gebaut zu werden. Ein Teil der Anbauwand sollte wieder in Annas Zimmer im ‚Betreuten Wohnen‘ aufgestellt werden.
„Ich werde verrückt“, sagte Klara, nachdem sie alle Kleidungsstücke auf das Bett geworfen hatte.
Blusen, Röcke, Kleider, Hosenanzüge, Kostüme stapelten sich auf dem Bett.
„Ich könnte heulen, wie soll ich hier zwischendurch finden?“, beklagte sie sich.
„Wir machen es so, wie auf dem Londoner Flughafen, als es zu einem Chaos wegen des Gepäcks kam. Da wurde alles nach Italien geflogen, dort sortiert und anschließend geordnet zurücktransportiert“, schlug Peter vor.
„Auf so eine blöde Idee kannst auch nur du kommen“, antwortete Klara.
Peter reagierte nicht, sondern schnappte sich einen Packen von den Kleidern und schleppte sie einfach ins Wohnzimmer. Nach und nach wurde der Haufen auf Annas Bett im Schlafzimmer kleiner und gleichzeitig wuchs er im Wohnzimmer an.
Peter trug nun die Sachen, einzeln und schon vorsortiert nach Hosenanzügen oder Kleidern zu Klara ins Schlafzimmer zurück.
Sie hatte eingesehen, dass Peters Idee doch nicht so schlecht war.
Montagfrüh.
Die Umzugsfirma kam und transportierte die ersten Möbel aus der Wohnung, um sie anschließend wieder im ‚Betreuten Wohnen‘ auszuladen.
Lukas und Peter schwitzten den ganzen Tag, bis sie alles an ihrem Platz hatten- ein Teil der Anbauwand stand links von der Tür. An der hinteren Wand hatten sie den Schlafzimmerschrank aufgebaut, wieder nur einen Teil, den aber mit Türen aus Spiegelglas versehen.
Es sah gut aus, und als Klara noch die Bilder an die Wand hängte und die Anbauwand mit Annas Sachen dekorierte, da kam Gemütlichkeit im Zimmer auf.
Ein paar Tage später war es so weit. Klara und Peter holten Anna aus der Kurzzeitpflege ab.
„Ach, ich freue mich so, dass ich wieder nach Hause komme“, sagte Anna.
Klara und Peter schwiegen.
Was würde wohl Anna sagen, wenn sie nicht vor ihrem Haus hielten, sondern in der Einrichtung am Strelasund?
„Du fährst in die falsche Richtung“, riss Klara Peter aus seinen Gedanken.
„Wieso? Hier geht’s doch zu Annas Wohnung“, sagte Peter.
Und im selben Moment fiel ihm ein, dass es genau in die entgegengesetzte Fahrtrichtung gehen musste.
Er wendete das Auto und sagte zu Klara: „Sorry, meine Schuld.“
„Was ist deine Schuld?“, fragte Anna.
„Ach nichts, ich habe nur nicht daran gedacht, dass wir einen Umweg fahren müssen.“
Peter lag dabei nicht einmal falsch, denn Annas neues Zuhause befand sich ja tatsächlich ein Stückchen weiter vom Stadtinneren entfernt.
Sie näherten sich dem Tor, das nur mit einem Code geöffnet werden konnte. Es stand offen, weil gerade ein Auto der Tagespflege durchgefahren war.
Klara und Peter schwiegen, sie waren angespannt.
„Wie geht es der Kleinen?“, fragte Anna nun.
„Ach, die ist so niedlich“, sagte Peter erleichtert und erzählte ihr, wie gern er mit Krümel auf dem Fußboden im Wohnzimmer saß und mit ihr gemeinsam mit den Autos spielte.
Anna war angetan, lachte und hörte gespannt zu, was Peter ihr erzählte.
So sehr es Klara nervte, wenn er ihr morgens die neuesten Wertungen der Politik versuchte nahezubringen. In dem Moment war sie ihm dankbar, dass er Anna mit seinen Worten fesseln konnte.
Sie hatten das Haus ‚Sörensen‘ endgültig erreicht.
Sie stiegen in den Fahrstuhl, fuhren in den 5. Stock und wurden von der Schwester freundlich begrüsst.
Anna war still und ließ alles über sich ergehen.
„Wir wollen uns erst einmal das Zimmer ansehen“, sagte Klara.
„Welches Zimmer?“, fragte Anna sofort nach.
„Mutti, du musst mal ein paar Tage hier zur Beobachtung bleiben“, sagte Klara zu ihr.
„Wer sagt das?“
„Dr. Silberfisch.“
„Der spinnt ja wohl!“, entgegnete Anna entrüstet.
„Sollen wir ihm das so übermitteln?“, fragte Peter und Klara stieß ihm von hinten ihre Hand in seinen Rücken.
„Na, das muss man ja wohl nicht machen“, sagte Anna.
„Und wer hat hier eigentlich meine Möbel reingebracht?“, fragte Anna.
„Das waren wir. Und wir haben auch deine Fotoalben mitgebracht“, sagte Peter weiter.
„Wollen wir uns die mal anschauen?“
„Die kenn‘ ich ja“, antwortete Anna trotzig.
„Guck mal hier. Was steht denn da?“
Anna schaute auf die Fotos in der ersten Seite und auf das, was sie danebengeschrieben hatte.
Das machte Anna vor Jahren mit großer Leidenschaft, die Bilder einkleben und notieren, wo sie gerade waren, ob der Kapitän des Schiffes einen Empfang gegeben hatte oder wie weit Petersburg von Rostock entfernt war.
„Leinen los“, rief Anna plötzlich mit einer fröhlichen Energie, dass Peter das Album vor Schreck fast von seinem Knie rutschte.
Anna und Peter waren beide in das Album vertieft.
Sie steuerten in ihrer Phantasie die offene See an, eine neue Welt, die Anna nun kennenlernen würde, während Klara Annas Taschen mit den Sachen auspackte und in den Schränken verstaute.
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ANNA-2021.10.08
Klara und Peter wachten im Gasthof ‚Soljanka‘ auf. Sie checkten im Gasthof aus, und wollten abends in Annas Wohnung übernachten. Vorher aber mussten sie Anna in die Kurzzeitpflege bringen. Der Arzt Dr. Silberfisch hatte ihnen dazu geraten. Nur wusste keiner, wie sie es schaffen sollten, Anna dazu zu bewegen, aus ihrer Wohnung zu gehen.
Klara und Peter hatten die zweite Nacht besser geschlafen. Die Autos, die auf der Strasse vor dem Hotel vorbeiratterten, nahmen sie nicht mehr so deutlich wahr, wie es in der ersten Nacht der Fall gewesen war.
„Mir ist nicht wohl dabei, wenn ich an den heutigen Tag denke.“
„Geht mir genauso“, sagte Peter, während er in sein iPad schaute.
„Aber wir müssen da jetzt durch, wir haben keine Wahl.“
Beide schwiegen, während sie im Auto sassen und zu Annas Wohnung fuhren.
Als sie angekommen waren und vor Annas Tür standen, drückte Klara auf den Klingelknopf und holte vorsichtshalber schon mal den Wohnungsschlüssel aus aus ihrer Handtasche.
Die Tür ging auf und Anna schaute Klara und Peter mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was wollt ihr denn hier?“, schleuderte sie den beiden entgegen.
„Guten Morgen, schön dich zu sehen“, sagte Peter übergangslos.
„Wir wollen dich abholen, damit wir eine kleine Fahrt durch Stralsund machen können“, entgegnete Peter.
„Hast du Lust dazu?“, fragte er gleich noch hinterher.
„Ja“, sagte Anna.
„Na bitte, dann freuen wir uns auf einen schönen Tag“, meinte Peter, während er Klara zuzwinkerte.
Anna antwortete nicht.
„Warum seid ihr hier?“, fragte sie stattdessen erneut.
„Wir wollen mit dir einen schönen Ausflug machen“, wiederholte Peter, ohne darauf einzugehen, dass Anna die Frage schon einmal gestellt hatte, ein paar Minuten zuvor.
Peter ging ins Wohnzimmer, schlug die Ostseezeitung auf und überflog flüchtig die Schlagzeilen. Aus dem Schlafzimmer hörte er, wie Anna sich sträubte, auch nur irgendein Kleidungstück anzuziehen.
„Mutti, wir können doch nicht so mit dir auf die Straße gehen“, sagte Klara zu ihr.
„Wieso auf die Straße, was soll ich da?“, fragte jetzt Anna erneut.
„Ich geh‘ schon mal zum Auto runter und warte dort auf euch“, sagte Peter.
Klara fragte ihn noch leise, ob er die Taschen vom Dachboden mit hinunternehmen würde.
Peter nickte und ging zur Tür hinaus. Er holte die Taschen vom Dachboden und begab sich zum Auto.
Klara hatte sie einen Tag zuvor dort deponiert, damit Anna sie nicht fand und wieder auspackte.
Es verging noch eine weitere Stunde, bevor Anna in der Hauseingangstür auftauchte.
Peter war sichtlich erleichtert. Der erste Schritt war getan.
„So, jetzt machen wir eine schöne Hafenrundfahrt und anschließend fahren wir in Richtung Sund-Krankenhaus“, sagte Peter, als Anna endlich im Auto saß.
Anna sagte nichts.
Sie fuhren durch die Stadt und Peter hielt in der Nähe des Hafens an.
„Kommen hier Erinnerungen an deine Kindheit hoch?“, fragte Peter.
„Ja, und wie“, sagte Anna.
„Guck mal, da lagen früher viel mehr Fischerboote und wir haben dort sehr gern als Kinder gespielt und beobachtet, wie die Fischer ihre Ware auf die Pier hievten“, erklärte Anna und lebte dabei zusehends auf.
Klara und Peter waren sichtlich erleichtert, dass Anna gute Laune zu haben schien.
Peter fuhr wortlos in Richtung Sund-Krankenhaus weiter und suchte einen geeigneten Parkplatz.
Klara war ihrer Mutter beim Aussteigen behilflich.
„Es ist besser, ich hole das Gepäck später aus dem Auto“, sagte Peter leise zu Klara.
In der Anmeldung zur Kurzzeitpflege wartete Peter gemeinsam mit Anna auf Klara, die in der Information fragen wollte, wo sie sich melden sollten.
„Was macht Klara da?“, fragte Anna.
„Du, ich habe keine Ahnung“, sagte Peter ausweichend.
Es war ihm unangenehm, dass er nicht die Wahrheit mit Anna besprechen konnte.
Dass es für sie besser wäre, nicht mehr Zuhause allein zu wohnen, und dass sie übergangsweise für ein paar Tage in der Kurzzeitpflege sein müsste.
Doch das hätte alles gefährdet. Der Arzt und das Pflegepersonal hatten ihnen abgeraten, alles zu erklären, sondern lieber eine Wahrheit zu sagen, die Anna auch akzeptieren könnte.
Ein schwieriger Akt, den man erst vollends begriff, wenn man selbst die Verantwortung dafür tragen musste.
Klara kam schnell wieder. Sie fuhren in die dritte Etage.
„Ach das ist ja wunderbar, Frau Sturm, dass Sie so pünktlich kommen“, sagte die Schwester.
„Was will die von mir?“, fragte Anna ihre Tochter, ohne auf die Begrüßungsworte der Schwester einzugehen.
„Ich bin Schwester Erika. Frau Sturm, kommen Sie doch gleich mal mit. Es gibt jetzt Mittagessen“, sagte die zu Anna.
„Was gibt’s denn?“, fragte Anna.
„Rouladen mit Rotkohl.“
Es war eines der Lieblingsgerichte von Anna.
Sie hakte sich wortlos bei Schwester Erika ein und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, in Richtung Speisesaal mit.
Klara und Peter waren verblüfft, aber vor allem froh, dass alles so reibungslos geklappt hatte.
Peter hastete zum Auto und holte Annas Gepäck.
Klara sortierte Annas Sachen aus dem Koffer gleich in den Schrank im Zimmer von Anna ein.
Es war ein Einzelzimmer, modern eingerichtet, mit eigener Toilette und Duschtrakt.
„Hättest du gedacht, dass wir das so gut hinbekommen?“, fragte Peter auf der Rückfahrt.
„Nie im Leben“, sagte Klara. Man merkte ihr an, wie erleichtert sie war.
In Annas Wohnung angekommen, blieb ihnen nicht viel Zeit, zu verschnaufen.
Die Schränke mussten ausgeräumt und die Sachen aussortiert werden, die Anna mit ins ‚Betreute Wohnen‘ mitnehmen sollte.
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2. überarbeitete Auflage
ANNA-2021.10.07
Oktober 2021. Anna ist seit einem Monat im Betreuten Wohnen „Sörensen“ am Strelasund untergebracht. Es scheint noch, als wäre das alles noch nicht passiert und Anna würde noch in ihrer Wohnung leben. Das war ein langer Prozess, bis alle begriffen, dass es nicht mehr lange so weitergehen konnte, dass Anna einfach allein weiterlebte. Vor einem Jahr schienen es alle zu ahnen, aber handeln mochte da noch keiner.
KLARA WOLLTE IHRER MUTTER BEIM PUTZEN HELFEN
Klara klingelte an der Tür ihrer Mutter.
Es dauerte eine Weile, bis Anna die Tür öffnete.
Sie hatte sich ein wenig auf die Couch gelegt, obwohl es erst gegen neun Uhr am Morgen war.
„Wieso bist du hier in Stralsund und nicht in Berlin?“, fragte sie ihre Tochter.
„Mutti, ich bin seit Sonntag in Stralsund, und Montag habe ich dir gesagt, dass ich am Mittwoch wiederkomme, um deine Fenster zu putzen“, sagte Klara zu ihr.
Klara und Peter hatten sich ein paar Tage freigenommen, um ein wenig auszuspannen, gemeinsam mit Laura und Krümel. Klara nutzte den Aufenthalt, um Lukas zu entlasten und in Annas Wohnung beim gründlicheren Saubermachen zu helfen.
„Mittwoch?“, fragte Anna.
„Ja, Mittwoch ist heute.“
„Aber wieso sagt mit das keiner?“
Klara entgegnete darauf nichts, denn sie hatte nicht mehr die seelische Kraft, auf alle Fragen ihrer Mutter zu antworten.
Der Vormittag verging wie im Flug, obwohl sich Anna nach Kräften dagegen wehrte, dass ihre Tochter in ihrer Wohnung das Zepter übernahm.
Doch Klara hatte es gelernt, sich gegen ihre Mutter durchzusetzen, denn nur so konnte sie ihr wirklich helfen.
Und als Anna sah, wie ihre Fenster nach und nach sauber in der Sonne blinkten, da war sie ruhig und fand das alles recht schön.
KLARA LUD ANNA ZUM KAFFEETRINKEN MIT DER FAMILIE EIN
Am Nachmittag wollte sich die Familie versammeln, um gemeinsam Kaffee zu trinken.
Anna wollte sich nicht umziehen, sie wollte gar nichts und sich am liebsten auf die Couch schmeißen, wie sie ununterbrochen zu Klara sagte.
„Warum soll ich das Kostüm anziehen, gehen wir zu einer Hochzeit?“
Anna konnte sehr spöttisch reagieren, wenn ihr irgendetwas nicht in den Kram passte.
Annas Charakter hatte sich in letzter Zeit ins Gegenteil von dem verkehrt, was sie einmal ausmachte, ihre Güte, ihr bescheidenes Wesen, aber all das schien die Demenz in ihr allmählich auszulöschen.
Klara hatte es schließlich geschafft, Anna davon zu überzeugen, dass sie sich umzog und mit ihr nach draußen kam.
Unten wartete bereits Peter im Auto auf Anna und Klara.
„Oh, du siehst wirklich gut aus“, rief Peter schon von weitem Anna entgegen.
„So sind wir das gewohnt, wenn wir ausgehen“, antwortete Anna selbstbewusst, so als hätte sie sich nicht noch vor wenigen Augenblicken dagegengestemmt, das Kostüm auch nur aus dem Schrank zu holen.
KRÜMEL TURNT ZWISCHEN DEN STÜHLEN IM RESTAURANT UMHER
Sie fuhren zum größten Hotel in der Stadt.
In dem Saal, in dem die Plätze reserviert waren, saß kein Gast. Corona hatte auch Stralsund fest im Griff.
„Wozu haben wir überhaupt Plätze reserviert?“, fragte Peter.
Sie setzten sich trotzdem an den Tisch, der für sie vorgemerkt war. Krümel fand das alles herrlich.
Sie turnte zwischen den leeren Stühlen und Tischen hin- und her und juchzte vor Freude.
Inzwischen hatten am Tisch gegenüber zwei Gäste Platz genommen. Ausgerechnet in unmittelbarer Nachbarschaft des reservierten Tisches.
Es war ein Ehepaar, beide um die 70 Jahre herum. Der Mann sah brummig aus. Er schaute immer grimmiger, weil Krümel ausgelassen weiter umherlief und laut sang.
Peter erinnerte sich an seine eigene Kindheit, Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Eltern es auch nur im Ansatz zugelassen hätten, dass sie als Kinder so durch die Stuhlreihen eines Lokals hätten toben dürfen.
Aber Peter genoss gerade den Gedanken, dass seine Enkelin ausgelassen und fröhlich sein durfte, so ganz ohne Furcht.
Also blickte er zu dem Mann herüber, der Krümel mit finsterer Miene beobachtete. Peter fixierte ihn mit einem Blick, der keine Missverständnisse aufkommen ließ: ‚Sag‘ nur ein böses Wort zu der Kleinen und du wirst es bereuen.‘
Der Mann knickte ein, denn er schaute weg und seine Gesichtszüge lösten sich auf, fast hin zu einem gemütlichen Ausdruck.
Peter schaute nun seinerseits zu Krümel und lockte sie mit einem kleinen Spielzeughund, den er mitführte, an den Tisch zurück.
ANNA SCHIEN MIT IHREN GEDANKEN NICHT BEI DER SACHE ZU SEIN
Anna beobachtete das ganze Treiben ein wenig distanziert, so als würde sie gar nicht dazugehören.
Die Kellnerin kam an den Tisch und fragte, ob die Gäste schon Kuchen ausgesucht hätten.
„Ja, antwortete Klara. Meine Mutter und ich, wir wollen Frankfurter Kranz.“
„Ich auch“, sagte Peter.
„Ich auch“, rief Laura.
„Und was soll ich essen?“, fragte Anna in die Runde. Die Kellnerin schaute irritiert.
„Ihre Tochter hat für sie bereits mitbestellt“, sagte sie.
„Wieso bestellt sie einfach was für mich mit?“, tat Anna entrüstet.
„Weil wir dich eben gefragt haben, was du für einen Kuchen willst und du dich genau dafür entschieden hast, Mutti.“
Klara kochte innerlich, dass Anna so ein Theater vor der Kellnerin abzog.
„Ja gut, dann nehm‘ ich den auch“, sagte Anna.
Wenig später kamen der Kaffee und der Kuchen an den Tisch.
Krümel hing zwischen Peter und Klara und spielte mit dem Hund, während Klara versuchte, ihr zwischendurch ein Stück Kuchen in den Mund zu schieben.
„Da sind wir ja heute wieder auf der steilen Diätkurve“, sagte Peter.
Keiner antwortete ihm und Klara warf ihm einen Blick zu, der hieß: ‚Sei bloß still, oder ich platze vor Wut.‘
Peter wandte sich wieder Krümel zu und beide spielten mit dem kleinen Spielzeughund, bis die Tischdecke immer mehr verrutschte und Klara Peter einen warnenden Blick zuwarf, den Peter aber geflissentlich ignorierte.
ANNA WEISS NICHT MEHR, WIESO SIE GERADE DIESES STÜCK KUCHEN BESTELLT HATTE
„Wieso habe ich so ein Stück Kuchen?“, fragte nun Anna in die Runde mit vollem Mund.
Klara schien ihren Ohren nicht zu trauen.
„Weil wir ihn für dich bestellt haben und du ihn dir gewünscht hast“, sagte Peter schnell, bevor Lukas oder Klara etwas Unbedachtes antworteten.
„Schmeckt dir denn der Kuchen?“, fragte nun Lukas.
„Ja, sehr gut“, antwortete Anna.
Ein paar Minuten war es ruhig am Tisch. Nur Krümel war zu hören, die den Spielzeughund triezte.
„Wieso habe ich dieses Stück Kuchen bestellt?“, erklang erneut die Stimme von Anna.
„Weil er dir besonders gut schmeckt“, sagte Peter nun.
„Ja, das ist wahr, der schmeckt mir sehr gut“, antwortete Anna.
WIE SOLLTE ES NUR MIT ANNA WEITERGEHEN
Der Nachmittag war schön, Anna gehörte zur Familie, sie würde immer dazugehören, ganz besonders jetzt, wo die Krankheit fortschritt.
Nach dem Kaffee brachten Peter und Klara Anna gemeinsam nach Hause.
Anna stand noch auf dem Balkon und winkte zum Abschied.
Ein vertrautes Bild, aber auch ein trauriges Bild.
„Denk‘ nicht an das, was kommt, denk‘ an den schönen Moment, den wir Anna heute Nachmittag verschafft haben“, sagte Peter. Klara nickte kurz und blickte traurig aus dem Fenster des Autos.
„Ich weiß gar nicht, ob Mutti das alles noch so schön empfindet, wie wir denken. Oder ob es nicht viel mehr ihre ohnehin gedankliche Alltagsstruktur durcheinanderbringt“, setzte Peter noch nach.
Klara schwieg, denn sie wusste es auch nicht. Und sie wusste vor allem nicht, wie es in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen sollte.
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ANNA-2021.10.02
Die Nacht im Dorfgasthaus war schnell vorüber. Klara und Peter hatten unruhig geschlafen.
Vor dem Hotel verlief die Straße abschüssig und die Autos donnerten darauf mit einem ohrenbetäubenden Lärme vorbei, auf Kopfsteinpflaster.
DAS FRÜHSTÜCK
Im Frühstücksraum kam ihnen eine ältere Mitarbeiterin entgegen, die sie freundlich mit einem ‚Guten Morgen‘ begrüßte.
„Hier am Büfett ist alles aufgebaut, den Kaffee bringe ich gleich.“
„Soljanka auch?“, fragte Peter. Klara stand hinter ihm und stieß ihm mit der Hand in den Rücken.
„Die können Sie sehr gern haben, hier gibt es aber auch frisch gepressten Orangensaft, ein wenig Haferkleie und Obst“, sagte die Mitarbeiterin und fixierte Peters Bauch.
‚Haferkleie, die esse ich zuhause‘, dachte Peter.
„Wunderbar, dann kann der Tag ja nur gut werden“, antwortete Peter laut und ging schnurstracks auf den Behälter mit dem Rührei zu.
KLARA FUHR ZU ANNA, PETER BLIEB IM HOTEL
Nach dem Frühstück fuhren beide nach Stralsund rein, zu Annas Wohnung.
Peter begab sich danach sofort zurück zum Hotel, holte seine Arbeitssachen heraus und begann sich auf dem kleinen Tisch einzurichten.
Zuerst musste der Fernseher beiseite gerückt werden, damit das iPad und die Tastatur Platz fanden.
Er hatte seine Sachen in der Tasche verstaut, die er täglich mit ins Fitness-Studio nahm.
Jetzt lagen dort Bleistifte, Papier, Klebestifte, Kabel für das iPad und Unterlagen für Annas Kurzzeitpflege drin. Sie rutschten von einer Seite auf die andere und Peter erfühlte mehr das, was er brauchte, als dass er es sah.
Endlich hatte er alles aufgebaut.
PETERS GEDANKEN SCHWEIFTEN AB
Er versuchte sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Obwohl er mit zehn Fingern blind auf der Tastatur schreiben konnte, nützte ihm das wenig. Er starrte nämlich auf das weiße Display und versuchte einen Satz hinzubekommen.
Es nützte nichts, ihm fiel nichts ein. Seine Gedanken schweiften ab zu Klara. Wie mochte sie wohl Anna angetroffen haben? Peter war nicht mit hochgegangen.
Er wollte sich nicht Annas Fragen aussetzen, warum sie in Stralsund seien.
Der Regen tropfte ans Fenster und Peter kam allmählich zur Ruhe.
Eigentlich ging es ihm doch gar nicht so schlecht. Er saß in einem Hotelzimmer, wurde nicht nass, konnte ein wenig schreiben, die Akquise für die Werbeeinnahmen vorbereiten und zwischendurch gedanklich auch noch abschweifen.
DEN AUGENBLICK SCHÖN FINDEN
Und jetzt saugte er die Ruhe in sich auf. Die Autos ratterten immer noch vorbei, aber es war irgendwie wie aus einer weiten Ferne.
Auf der gegenüberliegenden Seite hastete eine Frau auf dem Fußweg vorbei, wahrscheinlich zur Arbeit.
Ihr Gesicht war verkrampft, nichts sah danach aus, dass sie Freude an dem hatte, was sie gerade tat.
Peter war Jahre, ja Jahrzehnte seinen Träumen nachgerannt, die spätestens mit der Wende platzen und er wieder ganz von vorn anfangen musste.
Also warum sollte er sich jetzt nicht freuen, dass er im Zimmer saß, trocken, und schreiben konnte?
Wer weiß, wie es ihm in zehn Jahren gehen würde. Vielleicht war er dann auch schon in einem Heim und musste sich ein Zimmer mit einem Nachbarn teilen.
Wie es wohl Klara bei Anna angetroffen hatte?
https://uwemuellererzaehlt.de/2021/09/30/anna-2021-09-30/
Klara ging die fünf Treppen hoch, zu Annas Wohnung. Sie merkte, dass es ihr schwerer viel, schwungvoll bis nach oben zu kommen.
Dabei waren sie früher als Kinder die Stufen hochgestürmt, hatten oft genug zwei auf einmal genommen.
Aber die Zeiten waren vorbei.
„Wer ist da?“, hörte sie plötzlich Annas Stimme aus dem Schlafzimmer.
„Mutti, ich bin’s, guten Morgen.“
„Wieso kommst du mitten in der Nacht, ich habe mich gerade hingelegt“, sagte Anna mit einem vorwurfsvollen Unterton.
Klara dreht den Schlüssel im Schloss um, öffnete die Tür und stand kurze Zeit darauf im Schlafzimmer.
Auf ihrem Bett lagen Sachen, Kleider, Blusen und der Schlafanzug.
Anna blickte verwirrt.
„Wo bin ich?“
„Mutti, du bist in deiner Wohnung.“
ANNA MUSSTE PROFESSIONELL BETREUT WERDEN
Da half auch nicht, dass Lukas täglich kam, fast jeden Tag jedenfalls und Klara mindestens einmal im Monat aus Berlin anreiste, um wenigstens eine gewisse Struktur in den Alltag von Anna zu bekommen.
Klara half ihrer Mutter, sich anzuziehen, nachdem sich Anna gewaschen und die Zähne geputzt hatte.
Das dauerte eine gefühlte Ewigkeit für Klara.
KLARA VERSUCHTE ANNA ABZULENKEN, UM UNGESTÖRT IHRE TASCHE ZU PACKEN
Klara kochte Anna einen Tee und schmierte ihr ein halbes Brötchen mit Marmelade.
„Mutti, komm‘, setz dich hier in Ruhe hin und frühstücke“, sagte Klara.
Anna kam in die Küche, setzte sich schweigend auf den Stuhl und begann langsam zu kauen.
Das war die Chance für Klara, unbeobachtet von Anna die Sachen für die Kurzzeitpflege zu packen und auf den Dachboden zu stellen.
„Warum willst du die Tasche auf den Dachboden bringen?“, hatte Peter sie noch einen Tag zuvor gefragt.
„Mutti wieder alles ausräumen würde. Wir müssen uns hier wirklich an den Rat von Dr. Silberfisch halten“, entgegnete Klara.
ANNA MUSSTE AM NÄCHSTEN TAG UNBEDINGT INS AUTO STEIGEN
„Letztlich geht es um das Wohl deiner Mutter, dass sie rund um die Uhr betreut wird“, bestärkte Peter Klara. Er wusste, wie schwer es Klara fiel, dass alles durchzuziehen.
„Morgen kommt es darauf an. Da geht es um alles. Wir müssen es schaffen, Anna davon zu überzeugen, ins Auto zu steigen, damit wir überhaupt die Chance haben, mit ihr zur Kurzzeitpflege zu kommen“, sagte Peter noch.
Klara seufzte nur.
https://uwemuellererzaehlt.de/2021/10/01/anna-2021-10-01/
AUSBLICK: Die vorerst letzten beiden Beiträge: ANNA GEHT IN DIE KURZZEITPFLEGE (08.10.2021) ANNAS NEUES ZUHAUSE IM BETREUTEN WOHNEN (15.10.2021)
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