Archiv der Kategorie: ANNA IST DEMENT

Kurzgeschichten über den Umgang mit an Demenz erkrankten Angehörigen.

ICH HAB‘ HIER SO EINE SCHÖNE DOSE!

ANNA IST DEMENT (66)

Anna war gut drauf, als Klara sie anrief.
„Wie geht’s dir Mutti?“, fragte Klara sie. Es war eine ihrer Standardfragen, die sie ihrer Mutter oft zu Beginn des Telefonats stellte.

„Mir? Wie soll es mir gehen?“, fragte Anna zurück.
„Das weiß ich nicht Mutti, wie es dir gehen soll. Deshalb frage ich ja nach“, sagte Klara.

„Ach, mir geht es mal eben so hin“, antwortete Anna.
„Ist irgendetwas?“, hakte Klara nach.
„Nein, es ist alles so wie immer.“

Klara hörte auf, sie weiter zu fragen.
„Weißt du eigentlich, was ich hier für eine schöne Dose habe“, fing Anna nun an.

„Was denn für eine Dose, Mutti?“
„Eine Keksdose, groß, viereckig. Und sie ist blau, bunt und mit Mosaikmustern, wunderschön.“

„Was sind denn da für Kekse drin, Mutti?“
„Ja, es sind zwei Lagen mit Keksen. Und die schmecken vielleicht“, sagte Anna zu Klara.

„Na Mutti, nicht dass du zu viel davon isst, denk‘ an deinen Zucker.“

„Nein, ich esse jeden Nachmittag vier Kekse. Und dazu trinke ich einen schönen Kaffee und sitze auf dem Balkon.“

„Das freut mich aber, dass du es dir so gut gehen lässt“, sagte Klara.

„Weißt du denn, von wem du die Keksdose hast?“, fragte Klara.
„Nein, das weiß ich nicht mehr.“

„Ich hab‘ sie dir mitgebracht, als ich das letzte Mal bei dir in Stralsund war und dich besucht habe.“

„Ach wirklich?“, fragte Anna ganz erstaunt.
Dann war sie eine ganze Weile ruhig.

Schließlich sagte sie: „So eine schöne Keksdose. Die kannst auch nur du mitbringen!“

„Mutti, das freut mich ja, dass sie dir so gut gefällt“.
„Oh ja, ich freu‘ mich jeden Tag wieder aufs Neue dazu.“

Klara und Anna verabschiedeten sich.

Klara war zwar traurig, dass ihre Mutter nicht behalten hatte, wer ihr die Keksdose mitgebracht hatte, aber sie freute sich umso mehr, dass Anna sie derart gut gefiel und ihr jeden Tag Freude bereitete, für den Moment jedenfalls.

GUTE WORTE UND GUTE GEDANKEN HELFEN – FÜR DEN MOMENT

ANNA IST DEMENT (65)

Anna fröstelte, obwohl es ein warmer Maiabend war. Sie stand auf dem Balkon und konnte so das Treiben im Stralsunder Hafen und auf dem Wasser beobachten.

Es war einer jener Momente, in denen sie alles klar sah, sogar Zusammenhänge gedanklich herstellen konnte.

Sie grübelte. Warum musste Wilhelm nur so früh sterben und sie allein zurücklassen?

Anna fühlte sich einsam, wurde depressiv und fand nichts Schönes mehr an dieser Welt.

An jenem Abend dachte sie an ihre Kinder und es wurde ihr warm ums Herz, so wohlig, dass sie schon weniger fror.

„Ach, es ist schön, dass Lukas mich so oft besucht und fragt, wie es mir geht“, dachte sie.

„Wie gut hatte sich der Junge nur entwickelt, so fleißig und zuverlässig, wie er jetzt war, einfach schön.

Und dann hat er ja noch diese ‚Scheißarbeit‘ mit den vielen Ferienwohnungen in Stralsund und auf Rügen.“

Anna seufzte, als sie im Stillen an ihn dachte.

Ja, Anna hatte Glück gehabt mit ihren Kindern und die auch mit ihrer Mutter.

Das machte es für Klara und Lukas so schwer, die richtigen Worte ihr gegenüber zu finden, und manchmal auch etwas energischer aufzutreten.

Anna fühlte es, dass Klara und Lukas ihr halfen. Nur was sie taten, das vergaß sie regelmäßig.

„Lukas kommt ja so gern zu mir und er mag es, für mich einzukaufen“, erzählte sie Klara kürzlich am Telefon.

Anfangs hatte Klara noch etwas darauf entgegnet, wie schwierig es war, von ihr einen Einkaufszettel zu bekommen.

Es klingelte und Anna ging vom Balkon ins Wohnzimmer.

Klara war am Telefon: „Hallo Mutti, wie geht es dir?“

„Naja, wie soll’s mir schon gehen“, sagte Anna mit einem traurigen Unterton in der Stimme.

„Warst du nicht auf dem Balkon? Es ist doch so schön heute gewesen“, versuchte Klara sie aufzumuntern.

„Ach, es ist war ja so herrlich, ich komme doch gerade vom Balkon. Du glaubst ja nicht, wie schön es hier bei mir ist.“

Klara glaubte es ihr aufs Wort, denn Lukas hatte vor ein paar Tagen Blumen für ihren Balkon besorgt, alles aufgeräumt und die Stühle hingestellt.

„Mutti, was siehst du denn heute von deinem Balkon?“

Anna begann mit Eifer zu erzählen, Klara hatte sie dazu gebracht, dass sie aufstand, während sie erläuterte, wie toll doch alles aussah. Und die Aussicht erst.

Morgen würde wieder Lukas kommen, nach ihr schauen, etwas zu trinken hochholen, den Einkaufszettel durchgehen und abends, da war Klara wieder am Telefon.

 

 

 

 

WENN WIR TRAURIG SIND, WIRD’S AUCH NICHT BESSER

ANNA IST DEMENT (64)

Samstagmorgen.
„Endlich, die Woche ist geschafft.“

Peter atmete hörbar aus, als er das sagte. Klara war noch dabei, das Frühstück auf den Tisch zu stellen, während sich Peter bereits hingesetzt hatte und dabei war, die Füße auf den zweiten Korbstuhl hochzuhieven.

„Wovon bist du denn so kaputt?“, fragte Klara.
„Du bist doch nicht einmal mit der S-Bahn nach Berlin reingefahren“, setzte sie noch nach.

„Ja, das stimmt schon, aber ich habe doch hier am Schreibtisch gesessen und wie verrückt geplant.“

Klara sagte nichts darauf, denn sie fürchtete, dass Peter ihr sofort einen längeren Vortrag darüber halten wollte, wie schwer es sei, von Zuhause aus zu arbeiten.

„Ach, du arbeitest von Zuhause aus?“, hatte Anna ihn schon oft gefragt. Das klang für Peter immer so, als wäre das in ihren Augen keine richtige Arbeit.

Dabei war es oft intensiver am eigenen Schreibtisch zu sitzen und zu arbeiten, als es in einem Bürojob der Fall wäre. Die Ablenkungen sind Zuhause nicht so groß, weil keiner da war, der stören konnte.

Nur Peter selbst konnte das tun, was er auch mehr als einmal am Tag tat.
Peter hatte aber auch keine Lust, dieses Thema erneut zu diskutieren. Seit Corona hatte er ohnehin den Eindruck, dass die Leute der Arbeit im Homeoffice mehr Beachtung schenkten.

„Wie geht es eigentlich Anna?“, fragte Peter stattdessen.
„Ach, alles wie immer“, sagte Klara. Sie klang bedrückt.
„Ist wirklich alles in Ordnung oder ist irgendwas?“, hakte Peter noch einmal nach.

„Ja, es macht einen irgendwie traurig, wenn du erlebst, wie Anna zusehends verfällt, geistig und auch körperlich“, sagte Klara nun doch.

„Aber jetzt stell‘ dir mal vor, wie es Lukas ergeht. Er hat nahezu täglich mit Anna zu tun und es bleibt ja trotzdem seine Mutter. Wenn du es direkt im Gegenüber siehst, dann fühlst du dich ganz anders“, versuchte Peter Klara aufzumuntern.

„Das ist es ja, dass wir nicht viel tun können, eigentlich gar nichts, um die Krankheit aufzuhalten“, sagte Klara.

„Was bringt es uns, wenn wir die ganze Zeit traurig sind?“, fragte Peter.
Klara nickte stumm.

„Wir werden das alles nicht aufhalten, aber wir können etwas für den Moment tun, für Anna und auch für uns.“

Klara wusste, was Peter meinte. Sie fühlte, dass es besser war, selbst in diesen Zeiten glücklich zu sein, das Leben zu genießen und ein Stück dieses guten Gefühls an Anna weiterzugeben.

„Die Demenz ist da, Anna vergisst immer mehr, aber sie hat auch ihre lichten Augenblicke. Und dann sollten wir sie zum Lachen bringen, auch wenn es schwerfällt. Und wir können auch selbst über Annas kuriosen Antworten lachen, denn wir lachen sie ja nicht aus“, sagte Peter.

„Das stimmt, es ist besser, sich auf das Gute zu konzentrieren, denn die Krankheit bleibt so oder so. Und auf diese Weise können wir meine Mutter vielleicht ebenfalls ein wenig glücklicher machen, antwortete Klara.

„Das meine ich doch.“ Peter hatte die Füße vom Stuhl genommen.
„Lass uns den Tag genießen“, sagte Peter und goss Klara Kaffee in die Tasse.

Das Telefon klingelte.
Laura kündigte ihren Besuch an. Sie wollte in zehn Minuten mit Krümel gemeinsam am Bahnhof im Dorf ankommen. Peter biss in das Brötchen, nahm noch einen Schluck Kaffee, verbrannte sich dabei die Zunge und eilte zum Bahnhof.

Wenig später stiegen Krümel und Laura aus dem Zug aus.
Krümel hatte ihren Sturzhelm auf und auf dem Rücken ihren kleinen Rucksack.

„Opa, ich ‚pomme‘“, rief sie schon von Weitem.
‚Das wird ein schöner Tag‘, dachte Peter und fing Krümel auf, die auf ihn zustürzte.

 

ICH WILL STERBEN

ANNA IST DEMENT (63)

Der Tag begann mit herrlichem Wetter, die Sonne fing an zu scheinen, die Baumwipfel bewegten sich leicht und verdeckt von den grünen Zweigen der Bäume und Büsche waren die Vögel mit ihrem fröhlichen Gezwitscher zu vernehmen.

Anna war auf den Balkon gegangen und schaute von da aus auf den Strelasund. Auf dem Wasser waren Boote zu sehen und Segelschiffe, die langsam über die Wellen glitten.

Anna sah das alles, doch sie nahm es nicht wirklich wahr.
Ihr Gesicht schien regungslos und die Mundwinkel zeigten nach unten, so als ob es ganz furchtbar sei, an diesem schönen Tag auf dem Balkon zu stehen.

Es klingelte und Anna ging vom Balkon zurück in das Wohnzimmer und von da aus steuerte sie im Flur auf die Wohnungstür zu. Sie drehte den Schlüssel um, und noch bevor sie die Türklinke heruntergedrückt hatte, ertönte die Klingel ein zweites Mal.

Es war Lukas, der nach Anna sehen wollte.
„Du hast ja solange gebraucht, um die Wohnzimmertür zu öffnen“, sagte er.

„Ach, ich war auf dem Balkon“, sagte Anna.
„Und, schön über das Wasser zu gucken?“, fragte er Anna.
„Was soll denn daran schön“, fragte Anna mürrisch zurück.
„Mutti, wie viele Einwohner von Stralsund haben eine so schöne Wohnung mit einem phantastischen Ausblick auf den Strelasund?“
Anna antwortete nicht.

„Geht es dir nicht gut, Mutti?“, fragte Lukas besorgt.
Weißt du, ich will sterben!“

Lukas erschrak, obwohl es nicht das erste Mal war, dass Anna diese Satz sagte.

Sie äußerte sich vor allem dann so, wenn sie in einer depressiven Phase war, und sie den Eindruck bekam, dass sie sich nichts mehr merken konnte und zum Teil sogar in der eigenen Wohnung die Orientierung verlor.

„Warum willst du denn sterben?“, fragte Lukas mit leiser Stimme nach.

„Mir macht nichts mehr richtig Spaß und ich vergesse ja sowieso alles“, antwortete Anna. Ihr Gesicht hatte einen weinerlichen Ausdruck angenommen.

„Aber Mutti, wir sind doch alle für dich da und ich will für dich ja heute auch noch einkaufen. Soll ich dir Eis mitbringen?“
Lukas schaute Anna fragend und zugleich erwartungsvoll an.

„Das wird doch wieder alles schlecht im Kühlschrank“, sagte Anna knapp und trotzig.

Lukas ging, kaufte für Anna ein, brachte ihr Eis mit und verabschiedete sich traurig von ihr.
Am nächsten Tag rief Klara bei Anna an.

„Hallo Mutti, wie geht es dir?“
„Mir geht es gut, ich sitze gerade auf dem Balkon und schaue auf das Wasser. Weißt du eigentlich, wie schön es hier ist?“, fragte Anna fröhlich.

„Ja Mutti, das weiß ich, denn du wohnst ja immerhin dort schon seit über 60 Jahren.“

„Da hast du recht, aber ich wollte es nur noch einmal sagen.“
„Mutti, das ist doch wunderbar, und ich freue mich, dass es du heute gut drauf bist“, sagte Klara.

„Wieso heute? Mir geht es immer gut“, sagte Anna.
Klara rief später Lukas an und erzählte ihr von diesem Telefonat. Sie mussten beide lachen, obwohl ihnen nicht so richtig danach zumute war.

KANNST DU MIR MAL SAGEN, WARUM DER BLUMENKOHL SO HART IST?

„Gibt’s was Neues bei deiner Mutter?“, fragte Peter, nachdem Klara mit Lukas telefoniert hatte.

„Lukas hat es geschafft, dass Anna endlich den Blumenkohl aus dem Gefrierfach freigegeben hat, für den Mülleimer“, sagte Klara.

„Was ist so Besonderes dabei?“, fragte Peter.
„Eigentlich gar nichts, wenn du die Tatsache außer Acht lässt, dass der Blumenkohl seit Monaten vor sich hingammelt.“

„Das verstehe ich“, meinte Peter daraufhin.
„Und das erste, was Mutti sagte war, dass sie nicht begreifen kann, warum der Blumenkohl so steinhart geworden sei“, meinte Klara noch.

„Ruf doch deine Mutter noch einmal an und erkläre ihr das in Ruhe“, meinte Peter jetzt.

„Ach, da habe ich sogar keine Lust zu.“
„Frag sie am Anfang erst einmal danach, ob sie mitbekommen hat, dass auf Rügen die ‚Königslinie‘ Sassnitz-Trelleborg eingestellt wurde, und das nach 111 Jahren.“

Peter wusste es von Lukas. Der hatte ihm gerade einen Zeitungsausschnitt per Post zugeschickt. Darin wurde ausführlich über das Ereignis berichtet.

Lukas hatte den Artikel feinsäuberlich ausgeschnitten, und ihn noch dazu exakt an den Zeitungsrändern beschnitten.
„Das gefällt mir“, meinte Peter.
„Lukas weiß doch, wie ‚pingelig‘ du bist“, entgegnete Klara.
„Das stimmt schon, aber Lukas liebt auch die Ordnung“, sagte nun Peter.

„Ihr nehmt euch beide nicht viel“, sagte Klara.
„Sei froh, dass wir so sind“, meinte Peter.
„Schau dir doch nur mal deinen Schreibtisch an, da kann doch keiner durchfinden.“

„Wer hat denn vorige Woche nicht seinen Impfausweis gefunden, wo du gegen die Pneumokokken geimpft worden bist?“
Peter sagte nun nichts mehr, denn er hatte seinen Impfausweis tatsächlich nicht gefunden.

Das lag vor allem daran, dass er zwar alles auf Kante legte, aber ständig sein Ablagesystem neu strukturierte, es im Computer wechselnd neu vermerkte. Und wenn es ernst wurde, fand er nichts wieder, weder in seinen Dateien, noch auf seinem Schreibtisch.
Klara nahm den Hörer in die Hand, um die Nummer von Anna zu wählen.

„Sturm“, erklang es am anderen Ende des Hörers.
„Hallo Mutti, ich bin’s“, rief Klara in den Hörer, bemüht fröhlich zu klingen.

„Ja, was gibt’s?“, fragte Anna mit verschlafener Stimme.
Immer öfter legte sie sich auch vormittags auf die Couch, statt nach draußen zu gehen.
Das tat sie gar nicht mehr. Klara wollte nicht gleich mit einer Predigt beginnen, dass Anna doch darauf achten sollte, alte Lebensmittel aus dem Kühlschrank zu entsorgen.

„Hast du denn in der Ostseezeitung gelesen, dass die Fährverbindung Sassnitz – Trelleborg eingestellt wurde?“
„Hier bei uns in Stralsund?“
„Nein, Mutti, in Sassnitz auf Rügen, also wenn du über die Rügendammbrücke fährst.“

„Da fahre ich ja nicht mehr“, meinte Anna mit gleichgültiger Stimme. Klara versuchte es noch einmal.
„Mutti, du und Papa, ihr seid doch so gern nach Sassnitz gefahren und von da aus weiter mit der Fähre nach Trelleborg.“

„Und warum fährt das Schiff nicht mehr, ist der Fahrer gestorben?“
Klara gab es auf und wechselte das Thema.

„Mutti“, du kannst die Lebensmittel nicht so lange im Kühlschrank aufbewahren, wie zum Beispiel den Blumenkohl.“
„Ach, der Blumenkohl, der war sowieso steinhart. Wie kann das eigentlich sein, sag mir mal?“ Jetzt klang Annas Stimme angriffslustig, fast bockig.

Sie verstand es, den ‚schwarzen Peter‘ noch geschickt an den Gesprächspartner weiterzureichen. Sie traf ja keine Schuld.

„Na, weil du ihn vorher nicht blanchiert hast.“
„Blanchiert? Ich? Oh, wie ‚smiets‘ du mit ‚de‘ Fremdwörter,“ gab Anna auf ‚Platt‘ zurück.

„Mutti, das erkläre ich dir ein anderes Mal“, sagte Klara.
Auf jeden Fall hast du den Blumenkohl einfach so ins Gefrierfach geschmissen, und selbst da war er schon alt.
Sie war erschöpft und traurig zugleich und mochte nicht mehr sprechen. Sie verabschiedete sich von Anna und legte den Hörer auf.

„Also wirklich, wie vornehm du sprichst, das ist mir auch aufgefallen“, versuchte Peter nun Klara noch aufzuziehen, nachdem sie das Gespräch mit Anna beendet hatte.

„Was meinst du?“
„Na, ‚bloonchiiieren‘, das kenne ich auch nicht“, sagte Peter.
Klara schwieg, sie hatte keine Kraft mehr und auch keine Lust, nach dem Telefonat auf vermeintliche lustige Einwürfe von Peter zu reagieren.

Sie war einfach nur genervt und verzweifelt zugleich.
Doch es gab keinen Ausweg aus dieser Situation. Am besten, sie nahmen es tatsächlich mit Humor.

Auf jeden Fall wollte Klara am nächsten Tag Anna noch einmal anrufen und ihr erklären, wie sie den Blumenkohl frisch halten konnte.

DIE SACHE MIT DEM 1. MAI

ANNA IST DEMENT (61)

„Bist du auf der Maidemonstration gewesen und gab es auf dem Marktplatz wieder Erbseneintopf mit Bockwurst?“

Lukas hielt für einen Moment den Atem an. Hatte Anna ihn gerade gefragt, ob er zur Maidemonstration war? Wie zu DDR-Zeiten?
Dabei hatte er das nicht einmal in diesen Jahren getan. Er war lieber auf seinem Hof geblieben, an seinem Räucherofen.

Gut, es konnte sein, dass er mittags zum Stralsunder Marktplatz schlenderte, um sich das Treiben auf den Straßen anzusehen und vielleicht eine Bockwurst zu essen.

Und Anna? Sie nahm nie an den Maifeierlichkeiten teil, sie interessierte sich einfach nicht dafür. Ihr reichte es, wenn ihr Mann, Wilhelm Sturm, vom Betrieb aus mitmarschierte. Daran war Anna gewöhnt, es war einfach das Lebensgefühl, das sie gespeichert hatte.

An diesem Tag waren die Bäume meist schon grün, die Sträucher blühten auf und der Frühling kam zur vollen Entfaltung.

Daran erinnerte sich Anna noch und auch, dass Wilhelm mitunter sagte: „Ich habe schon einen Teller Erbsensuppe mit einer Bockwurst aus einer Gulaschkanone gegessen und bin satt. Du brauchst kein Mittag mehr zu machen.“

Das sagte Wilhelm, obwohl Anna bereits den halben Vormittag damit verbracht hatte, das Mittagessen vorzubereiten.

Dafür freute sich Anna umso mehr auf den Nachmittag, auf den Kaffeetisch im Garten, an dem oft Klara und Peter und Laura saßen.
Das war es, was Anna vermisste, was gute Gefühle in ihr auslöste, und das viele Jahrzehnte ihr Leben ausgemacht hat. Ein Leben, mit dem sie zufrieden war, und auch glücklich.

Konnte Lukas ihr verdenken, dass sie ihn nun nach dem 1. Mai fragte?

Nein, das konnte er nicht und er wollte es auch nicht.
„Mutti, die Bockwurst und der Erbseneintopf waren wieder besonders lecker“, sagte Lukas stattdessen.

„Ach ja, das ist schön“, seufzte Anna und schwieg.
Lukas sah in das Gesicht seiner Mutter und entdeckte ein kleines, leises Lächeln.

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ANNA – MIR SAGT JA KEINER WAS

ANNA IST DEMENT (60)

Anna rief abends, kurz vor 22.00 Uhr bei Klara und Peter an.
Sie weiß nicht mehr, dass sie an dem Tag Geburtstag hatte.
Und sie beschwert sich darüber, dass ihr wieder mal niemand Bescheid gesagt hatte, dass für ganz Mecklenburg-Vorpommern ein Einreiseverbot wegen der Corona-Krise besteht.

Klara saß auf der Couch und war bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, Sudoku. Nebenher schaute sie in den Fernseher, in dem eine Krimi-Komödie mit Jason Bateman lief.

Peter lag auf seinem 2,5 – Sitzer, die Beine quer über die gesamte Länge ausgestreckt. Die Füße baumelten im Freien. Er hätte lieber auf Netflix die Serie ‚Fauda‘ gesehen, in dem es um die Bekämpfung von Terroristen im Nahen Osten ging.

Peter war fasziniert von den Bildern und schockiert von der Gewalt zugleich, die die Serie ausstrahlte. Dabei war es nur ein Film und die Wirklichkeit mit Sicherheit noch viel schlimmer.

Klara ist gegen diese Serien und so musste sich Peter fügen und einen relativ seichten Film mitanschauen.
Aber er hatte inzwischen den Haupthelden, dargestellt eben von diesem Jason Bateman, ins Herz geschlossen.

In dem Film, der gerade lief, spielte Jason Bateman einen Ehemann, der gerade einen Durchschuss von einer Pistolenkugel erlitten hat.

„Das wird jetzt sehr wehtun“, sagte seine Ehefrau.
„Da habe ich nicht den geringsten Zweifel“, antwortete ihr Ehemann.

Und dort hinein, in diese Szene, schrillte das Telefon. Klara und Peter hörten erst, ob es nicht doch ein Klingeln aus dem Film war.
Aber nein, ihr Telefon klingelte immer noch.

„Es ist Anna“, sagte Peter, nachdem er auf das Display geschaut hatte.

„Ich geh‘ jetzt nicht mehr ran“, meinte Klara.
„Geh ran, sonst liegst du die ganze Nacht wach und grübelst, warum deine Mutter noch so spät anruft. Vielleicht steht ja Stralsund in Flammen, weil Anna auf dem Balkon die Kerze hat brennen lassen“, sagte Peter noch scherzhaft.

Klara konnte darüber nicht lachen. Mit verkniffenen Lippen drückte sie auf den grünen Knopf des Telefons.

„Mutti?“, fragte sie in den Hörer hinein.
„Ja, ich bin’s. Ich begrüße euch. Geht’s euch gut?“, fragt Anna zurück.
„Mutti, weißt du eigentlich, wie spät es schon ist?“, entgegnet Klara mit einem gereizten Unterton.

„Wie spät soll es denn sein?“, fragte Anna.
„Es ist kurz vor 22.00 Uhr, Mutti!“, Klara konnte sich kaum beherrschen.

„Ja, weißt du, ich bin mir so unsicher, ob ich heute Geburtstag hatte“, meinte sie nun.

„Ja, natürlich hattest du Geburtstag, Mutti, den ganzen Tag heute. Wir haben doch alle angerufen und wir haben dir gratuliert. Erinnerst du dich nicht?“
Es herrschte Stille am Telefon.

„Bist du noch dran, Mutti?“
„Ja, ich erinnere mich doch jetzt wieder“, sagte sie verhalten.
„Ihr seid ja alle dagewesen!“, meinte sie dann.
„Mutti, wir können gar nicht dagewesen sein.

Aber Lukas hat doch mit dir eine sehr schöne Fahrt auf die Insel gemacht und anschließend habt ihr bei ihm auf dem Hof noch Kaffee getrunken.“
„Ach, wirklich!“

„Sag‘ bloß, dass du das nicht mehr weißt“, sagte nun Klara und bereute es im selben Moment.
„Aber warum seid ihr denn nicht hier gewesen?“, fragte Anna stattdessen.

„Weil wir wegen Corona gar nicht zu dir nach Stralsund dürfen.“
„Corona?“

„Ja, wir haben weltweit die Corona-Krise, es sterben Menschen, erkranken schwer und wir wollen dich nicht in Gefahr bringen, weil besonders ältere Menschen mit den Folgen der Erkrankung zu kämpfen haben.“

„Ach so? Naja, mir sagt ja keiner was.“
„Mutti, es ist schon spät, geh‘ doch ins Bett“, sagte Klara und verabschiedete sich von Anna.

Peter und Klara schauten den Film noch zu Ende. Er war lustig, aber nach Lachen war ihnen nach dem Telefon
nicht mehr wirklich zumute.

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BLOG – BEITRÄGE NUR NOCH EINMAL IN DER WOCHE

Das dachte ich noch bis vor einigen Tagen. 
Ich denke jetzt, das war ein Fehler.
Warum?
Nun, ich merke, dass ich jeden Tag einen Text schreiben sollte,  und wenn der noch so klein ist.
Also, es gibt wieder jeden Tag einen Text, montags bis samstags.
Warum das gut ist, das habe ich ja schon hier beschrieben, und daran hat sich auch nichts geändert.

Wenn mir etwas wichtig ist, so schreibe ich es zunächst mit Hand. Der Nachteil daran ist, dass ich es danach meist noch abschreiben muss.

Aber da ich das im 10-Finger-Schnell-Tipp-Modus erledige, hält sich der Aufwand in Grenzen, zeitlich zumindest.
Der riesige Vorteil für mich liegt darin, dass ich ‚durch die Hand hindurch denke‘.

Quasi vom Bleistift direkt ins Gehirn und umgekehrt.
Warum das so ist, darüber sind unendlich viele Abhandlungen geschrieben worden. Für mich ist es einfach eine Gewohnheit, die ich mir zunutze mache.

Ich denke, die meisten, die viel schreiben kennen das.
Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. Jetzt zum Beispiel, da schreibe ich den Text sofort auf dem Computer und schaue auf den Bildschirm, wie sich die Buchstaben aneinanderreihen.

Es ist übrigens nach wie vor ein Phänomen für mich, dass ich nach einer bestimmten Anzahl von Zeilen wie von selbst auf den Computer umsteige.

Irgendwie ist das so, dass du anfängst zu gehen, dann schneller wirst und plötzlich läufst du einfach.

Die Idee dahinter: Ich will mich genau auf diese Themen konzentrieren. Sie haben alle eine gemeinsame Klammer, meinen Alltag, meine Gedanken, Erlebnisse, die ich niederschreibe.

Bis bald.

 

 

ANNA VERTEIDIGT IHREN KÜHLSCHRANK HELDENHAFT

ANNA IST DEMENT (59)

Die Straßen von Stralsund sind wie leergefegt, die Urlauber abgereist, neue Touristen dürfen nicht in die Stadt und auch nicht weiter auf die Insel.

Die Einheimischen sitzen Zuhause, vor den Fernsehapparaten. Die Sender überschlagen sich in der Berichterstattung über das Coronavirus. Militärkonvois sind zu sehen, zum Beispiel in Italien; kolonnenweise sieht man, wie LKW die Särge mit verstorbenen Corona-Patienten transportieren.

Ein Gefühl von Angst kriecht in Lukas hoch, als er die Bilder sieht. Er will sich ablenken und greift zum Telefon, denn er muss Anna noch einmal daran erinnern, dass sie für ihn den Einkaufszettel schreibt.

Anna gehört zu den wenigen Menschen, die nicht erst seit Tagen zu Hause sitzen. Nein, sie ist seit Wochen nicht mehr vor die Tür gegangen.

Nicht, weil sie sich vor Corona fürchtet. Das macht ihr keine Angst, denn sie weiß ja gar nicht, dass das Virus die Menschen in eine Art Schockstarre versetzt hat.

Aber das ist an Anna vorbeigegangen.
„Mutti hast du denn mitbekommen, dass gar keiner mehr nach Stralsund und auch nicht auf die Insel darf?“, fragte Klara sie am Telefon in den vergangenen Tagen.

„‘Jaa‘?“, kam es verzagt von Anna.
„Warum kommt denn keiner mehr?“
„Weil wir die Corona-Pandemie haben“, sagte Klara nun entschieden.

„Oh, ‚wie schmitts‘ du mit ‚de Fremdwörter‘, hätte deine Oma in ihrem unverwechselbaren Platt gesagt“, meinte Peter, während Klara noch mit Anna sprach.
Klara musste lachen.

„Naja, Mutti, die Hauptsache, dir geht es gut“, meinte Klara weiter.
„Ja, weißt du, gut geht es mir schon. Aber ich bin ja so einsam“, sagte Anna.

„Das können wir ändern, Mutti, wir haben eine tolle Einrichtung in Stralsund. Oder auf der Insel gibt es auch was in Sassnitz. Da kannst du Kaffee trinken, dich unterhalten, Musik hören, alte Bekannte treffen“, sagte Klara.

„Ach nö, das will ich nicht“, antwortete Anna.
„Naja Mutti, dann darfst du dich nicht beklagen“, gab Klara zurück.

Sie hätte das früher nie zu ihrer Mutter gesagt, aber sie hatte es gelernt, auch etwas deutlicher zu formulieren, energischer die Dinge auszusprechen.

Früher, ja da hat Anna noch wenigstens in den Briefkasten geschaut oder hat den Müll runtergebracht. Doch auch das ist vorbei.
Anna geht nicht mehr raus, weil sie sich nicht mehr traut, vor die Tür zu gehen. Sie hat Angst davor.

Ist ihr Orientierungsvermögen verloren gegangen? Ist es eine schleichende Bequemlichkeit, die Anna immer träger werden lässt?
Lukas und Klara sehen das mit Sorge, aber keiner weiß so richtig, wie man damit umgehen soll.

Nur Peter, der entwickelt seine Theorien, gibt Klara wortreiche Handlungsempfehlungen.

„Hm“, sagt die dann kurz und bündig und ihrem Gesicht ist klar abzulesen, was sie von Peters ‚Wortschnitzereien‘ hält.

„Ich weiß es aber auch nicht“, meint Peter zum Schluss, wenn er spürt, dass er seine für ihn wertvollen Gedächtnisperlen ausrollen lässt, und sie keiner aufheben will.

Lukas sitzt noch in der Küche und erinnert sich ein paar Tage zurück: „Mutti, komm‘ doch mit, wir fahren ein Stück, nachdem wir im Netto waren!“, sagte er zu Anna. „Zum Netto, warum zum Netto, sag‘ mir mal?“, erwiderte Anna daraufhin, schon fast in trotzigem Ton.

„Na, du kannst mich doch begleiten, wenn ich für dich einkaufe“, meinte Lukas beherrscht.

Sein Inneres bebte bereits, aber es gelang ihm, äußerlich ruhig zu bleiben.

„Wann gehst du schon mal für mich einkaufen!“, das ist ja wohl das letzte, schnaubte sie nun.

„Naja Mutti, das ist nicht das erste Mal, dass ich das für dich tue, und es wird wohl auch nicht das letzte Mal gewesen sein“, antwortete Lukas in Ruhe.

„Das hat es ja noch nie gegeben, noch nie! Dass du mir hier vorwirfst, ich würde nicht einkaufen gehen, das hätte ich von dir nicht gedacht.“ Anna war sichtlich empört.
Lukas schwieg dagegen an.

Die Zeit war schnell vergangen, während Lukas über all das nachdachte und sich an die Entgegnungen seiner Mutter erinnerte.

Jetzt aber schreckte er hoch, denn er hatte immer noch nicht Anna angerufen, obwohl es wieder soweit war: Er brauchte den Einkaufszettel und wollte danach zum Einkaufen fahren.
Jetzt musste er mit dem Grübeln aufhören und wirklich Anna anrufen. Er drückte entschlossen auf das Display mit der Telefonnummer von Anna.

„Mutti, hast du an den Einkaufszettel gedacht? Ich komme gleich und hole ihn ab“, sagte er, nachdem Anna sich am Telefon gemeldet hatte.
„Ich werde doch wohl noch wissen, was ich einzukaufen habe“, sagte Anna nun.

Lukas kam sich vor wie im Hamsterrad. Er trat auf der Stelle.
„Ich komm‘ vorbei, und wir gucken gemeinsam in Kühlschrank“, meinte Lukas jetzt.

„Was willst du denn in meinen Kühlschrank schauen? Ich gucke doch auch nicht in deinen Kühlschrank!“, gab Anna zurück.

„Musst du auch nicht, denn ich gehe für dich einkaufen und nicht umgekehrt.“

„Umgekehrt?“
„Mutti, ich bin gleich da“, sagte Lukas nun und legte auf.
Er zog sich an, stieg ins Auto und fuhr zu Anna.

„Ach, das ist ja schön, dass du mal vorbeischaust“, sagte Anna zu ihm, als sie ihm die Tür öffnete.

„Oh, wie schön, dein Mülleimer ist ja geleert“, meinte Lukas scherzhaft, obwohl er genau wusste, dass er es noch am Tag zuvor selbst erledigt hatte.

„Ja, den kippe ich fast jeden Tag aus“, meinte Anna nun, ohne das Gesicht zu verziehen.
Lukas schluckte eine Bemerkung runter und sagte stattdessen:

„So, was haben wir denn im Kühlschrank?“
„Da brauchst du gar nicht nachzusehen“, sagte Anna.
Lukas hörte nicht auf sie und öffnete die Tür.

Er konnte sich kaum bewegen, weil direkt hinter ihm Anna stand.
„Na, aus dem Blumenkohl kannst du dicke zwei machen, der ist ja wohl mehr als verdorben“, meinte Lukas, nachdem er den vergammelten Kohl im Gemüsefach sah.

„Den lass mal schön in Ruhe, den will ich noch essen“, meinte Anna trotzig.

„Nein, Mutti, auf keinen Fall, das kann ich nicht zulassen, du vergiftest dich.“

„Vergiften, so ein Quatsch“, äffte Anna Lukas nach.
Der ließ sich nicht abhalten und schmiss den Kohl kurzerhand in den Mülleimer.

„Was brauchst du Mutti? Leberwurst?“
„Die liegt doch da!“, zeigte Anna auf das Stück, das vergammelt in der hinteren Ecke des Kühlschrankes lag.

„Nein, ich bringe dir ein frisches Stück mit“, sagte Lukas und überhörte, was Anna murmelte.

„So, ein bisschen Obst brauchen wir auch, Bananen und Äpfel?“, fragte Lukas.
„Naja, das wäre schön“, meinte Anna nun schon etwas besänftigt.

Aber sie ging Lukas noch nicht aus dem Rücken. Erst als der die Kühlschranktür wieder schloss, gab sie Ruhe.

„Also bis gleich“, meinte Lukas zum Schluss.
„Wo willst du hin?“, fragte Anna.

Lukas schaute sie mit traurigen Augen an. War das noch seine Mutter, die er so liebte?

Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er sie gesund zurückbekam. Aber das war ein Traum, er wusste es.
Er konnte ihr nur noch helfen, mit ihrer Krankheit fertigzuwerden, so gut es ging.

„Ich gehe einkaufen und komm gleich wieder“, sagte er, während er die Treppe eilig hinunterlief.

„Wieso gehst du einkaufen?“, hörte er sie noch von weitem fragen.

Aber Lukas hatte es fürs erste geschafft.
Bis zum nächsten Mal.

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SCHREIBEN IN ZEITEN VON CORONA

SCHREIB-ALLTAG

Das Schreiben in der kontaktarmen Zeit von Corona
kann ich auch als Chance begreifen.

Die Bilder im Fernsehen über das Fortschreiten der Pandemie jagen mir einen Schauer über den Rücken.

Ich weiß, dass es kaum ein Entrinnen gibt, auch für mich nicht. Und trotzdem, ich hoffe, dass ich wenigstens glimpflich davonkomme. Das wünsche ich meiner Frau, meiner Tochter, meiner Enkelin, im Grunde genommen allen Menschen. Einfach, dass es irgendwie an uns vorüberzieht.

Aber wird es so sein? Mein Bauchgefühl sagt mir das Gegenteil.
Was soll ich tun? Nur am Schreibtisch sitzen und darüber philosophieren?

Nein. Ich ordne mein Leben neu, gedanklich jedenfalls.
Ich will weiterschreiben. Es gehört einfach zu mir dazu.
Gestern Abend, da lag ich auf der Couch und ließ mich von einem mittelklassigen Thriller berieseln.

„Eigentlich brauchtest du doch nur noch ein wenig Sport machen, lesen und das Schreiben ganz wegfallen lassen. Dafür gehst du eben arbeiten, aufwischen zum Beispiel und das reicht dann.“

Ich finde den Gedanken gut. Und ein paar Stunden hält sich diese Stimmung auch. Aber dann schlägt sie wieder um.
Was will ich wirklich? Was macht mein Leben aus?

Es ist genau das, worüber ich sehr oft fluche, nämlich das Schreiben.
Wie kann ich das attraktiver gestalten, was gibt es für Chancen, trotz der Corona-Krise, oder gerade wegen ihr?

BELLETRISTISCHES SCHREIBEN IM FOKUS

Ich werde mich auf das belletristische Schreiben konzentrieren. Etwas Anderes kann ich jetzt ohnehin nicht tun.
Also schreibe ich, Blogbeiträge, Texte für E-Books.
Ich merke immer stärker, dass ich noch nicht fokussiert genug an die Sache herangehe.

Bisher habe ich überlegt, wie ich dem Leser gefallen kann.
Die großen Marketingexperten sagen dir das.
„Interessiere dich für deine Zielgruppe, schreibe darüber, was sie interessiert.“

Das habe ich nun lange genug gemacht. Obwohl ich auf Keywords bei der Recherche geachtet und mir Themen gesucht habe, die leserfreundlich sind, hat das alles nichts genützt.

Jetzt in dieser aktuellen Zeit werde ich mich neu aufstellen.
Zum einen mache ich mich nicht mehr abhängig davon, ob ich ein E-Book verkauft bekomme oder nicht.

Und: Ich schreibe ausschließlich kleine Geschichten, die aus dem Alltag sind, so wie ich es schon längst wollte.

Wie ich das nun wirklich mal intensiver voranbringe, darüber denke ich im nächsten Beitrag nach.

 

SCHREIB-ALLTAG

Mehr lesen:

https://uwemuellererzaehlt.de/schreiballtag/

ANNA WEISS NICHTS VON CORONA UND SCHON GAR NICHTS VOM EINKAUFSZETTEL

ANNA IST DEMENT (58)

Lukas sitzt in seiner Garage, ganz hinten, an der Rückseite. Vor ihm auf dem Tisch steht eine Flasche Bier, alkoholfrei versteht sich.
Aus dem Fernsehapparat tönt Schlagermusik.

„Anita…“, intoniert der Sänger und hampelt dabei hemmungslos auf der Bühne herum, während seine Fans verzückt die Melodie im Rhythmus mitklatschen.

Aber das sieht Lukas nicht. Er schaut nicht hin.
In der Ecke liegt die Katze im Körbchen. Sie hat sich zusammengerollt, die Augen zusammengekniffen und schnurrt leise vor sich hin. Ein gutes Zeichen. Für sie ist alles so, wie es sein soll.

Lukas bewegt sich kaum auf seinem Stuhl. Die Katze hat ihr Fressen bekommen, die Musik plätschert harmlos aus dem Fernseher und warm ist es auch.

Es ist die Art von Gemütlichkeit, die manch einer nicht in sein Wohnzimmer bekommt.
Klara und Peter sitzen dort auch gern und reden für einen Moment, wenn sie mal in Stralsund sind, lachen oder kraulen einfach die Katze.

„Krümel hätte längst fröhlich nach ihrer ‚Datze‘ gerufen, vorausgesetzt, sie wäre ebenfalls hier“, sagt Peter dann mit einem gewissen Seufzen.

Lukas hat einen ruhigen Tag hinter sich. Zu ruhig.
„Was soll das noch alles werden?“, denkt er im Stillen und schüttet Bier ins Glas nach.“

Corona hat Stralsund und Rügen erreicht, die Urlauber sind von hier weg und ebenfalls runter von der Insel. Die Eigentümer der Ferienwohnungen machen sich so ihre Gedanken, wie das alles weitergehen soll und die macht sich Lukas auch.

Noch vor ein paar Wochen wollte er sich von einigen Objekten
trennen. „Das wird mir langsam alles ein wenig zu viel“, hatte er gesagt. Und weiter: „Ich gehe ja auch allmählich auf die Rente zu, brauch‘ einfach mehr Ruhe.“

Die Ruhe hat er jetzt. Mehr als ihm lieb ist, weil die Einnahmen durch die fehlenden Buchungen in den von ihm betreuten Ferienanlagen in Stralsund und Rügen faktisch ganz weggebrochen sind. Keiner will groß drüber reden, aber die Angst, was sein wird, die geht doch um.

Nur Anna, die hat keine Angst. Die kennt nicht die Gefahren von Corona.

„Mutti, was sagst du zu den ganzen Bildern im Fernsehen, zu den vielen Kranken in Italien. Macht dir das nicht Angst?“, fragte Klara sie vor einigen Tagen.

„Mir? Warum? Was meinst du?“, fragte Anna daraufhin.
„Was machst du gerade, Mutti?“, lenkte Klara das Gespräch in eine andere Richtung.

„Ach, ich hab‘ ein bisschen den Fernseher an und kaue gerade einen Apfel. Weisst, du ich esse so gerne mal einen Apfel. Und der hier, der schmeckt mir besonders. Den habe ich mir gerade vom Netto geholt.“

„Vom Netto? Mutti! Wann warst du das letzte Mal im Netto?“
„Da kauf‘ ich doch immer ein“, sagte nun Anna wieder.
Klara gab es auf, verabschiedete sich und rief Lukas an.

„Mutti war wieder mal einkaufen, sie hat sich die Äpfel geholt, die so gern isst“, sagte Klara zu Lukas.

„Na gut, dass du mir das sagst“, meinte Lukas. „Ich hätte doch glatt gedacht, dass ich die Äpfel für Mutti aus dem Netto mitgebracht hätte.“

Anna kennt nur noch ihren Balkon, weil sie nicht mehr rausgeht. Auf dem stand sie aber, als Lukas heute Nachmittag mit seinem Auto vorfuhr. Anna erkannte ihren Sohn und winkte ihm freudig zu.
Lukas musste lächeln.

Es war ein ehrliches leises Lachen, denn er wollte natürlich, dass es seiner Mutter gut ging und sie sich noch freuen konnte, wenn er kam. Aber es mischte sich ein Gefühl ins Unterbewusstsein, dass sich dieses freundliche Lachen wohl nicht lange halten würde, wenn er erst einmal die Treppen zu ihr hinaufgestiegen war.

„Ach Lukas kommt einfach gern zu mir“, sagt Anna manchmal abends zu Klara.
„Mutti, ja, er kommt gern zu dir. Das stimmt. Aber er kommt, weil er dir helfen will“, antwortet Klara dann.

„Wieso helfen?“, fragt Anna dann verwundert.
„Na Mutti, was glaubst du, wer dir deinen Kühlschrank wieder mit den Lebensmitteln aufgefüllt hat und wer deine Post aus dem überfüllten Briefkasten heute Vormittag genommen hat?“, fragt Klara dann.

Früher hätte sie nicht so energisch dagegengehalten, aber inzwischen stieg schon eine leise Empörung in ihr hoch, wie Anna alles gedanklich von sich schob.

Doch das war nun mal Annas Krankheit, die ihr Wesen so veränderte hatte, und die lichten Momente nutzte sie zunehmend dafür, die Ungereimtheiten, die ihr selbst auffielen, mit blumigen Worten zu überdecken.

Schon mittags hatte Lukas gemerkt, dass Anna gar nicht so gut drauf war.
„Mutti, denkst du bitte daran, dass du den Einkaufszettel schreibst? Ich komme später bei dir vorbei und gehe danach einkaufen“, erinnert Lukas Anna am Telefon.

„Wieso Einkaufszettel? Ich hab‘ das schließlich im Kopf, was ich brauche“, sagt sie schnippisch zu Lukas.

„Muuttii, du gehst doch gar nicht einkaufen, ich mach‘ das seit Monaten für dich. Früher bist du noch mitgekommen, aber selbst das willst du nicht mehr. Du gehst ja nicht mal mehr zum Briefkasten“, entgegnete Lukas nun.

Er merkte, wie innerlich sein Blutdruck langsam nach oben ging.
„Also, dass du mir das sagst, das finde ich ja unerhört. Das muss ich mir nicht sagen lassen.“

Anna hatte nun auf Konfrontation umgeschaltet.
Lukas setzte das Glas Bier an, während er an den telefonischen Disput mit Anna zurückdachte.

Er bereute es hinterher stets, dass er sich nicht mehr im Zaun hatte.
„Du musst immer daran denken, dass es Annas Demenz ist, die sie so reagieren lässt“, sagt Peter in solchen Momenten zu ihm.

„Ja, ne klar“, antwortet Lukas dann.
„Ich weiß, ich würde wahrscheinlich viel eher ausflippen, wenn ich sehen würde, wie deine Mutter die Lippen nach unten zieht, eine Mimik aufsetzt, so als hätte sich alles schlecht Gelaunte auf dieser Welt in ihren Gesichtszügen festgesetzt“, gab Peter zu.

NÄCHSTE FOLGE: 
ANNA VERTEIDIGT HELDENHAFT IHREN KÜHLSCHRANK
….vor allem die darin gehorteten Lebensmittel, mit weit überschrittenem Verfallsdatum…
ANNA IST DEMENT (59)
MITTWOCH, 01.APRIL 2020

DIE KRÄFTE BÜNDELN

ANNA-2020.03.11

LUKAS, KLARA, PETER SIND EIN TEAM BEI DER UNTERSTÜTZUNG VON ANNA

Lukas ist krank, erkältet. Er krächzt am Telefon und es strengt ihn sehr an, neben seiner Arbeit noch bei Anna vorbeizuschauen.
Sie überschüttet ihn zudem mit Anrufen, nicht tagsüber, sondern abends.

Genau dann, wenn er sich ein wenig erholen und seine Erkältung auskurieren will.

„Mutti, warum meldest du nicht am Tag bei mir und nicht erst abends, nach 20.00 Uhr?“, fragt Lukas sie mal wieder kurz vor 21.00 Uhr, als es bei ihm klingelt.

„Das werde ich ja nie wieder tun!“, sagt Anna beleidigt.
Am nächsten Tag meldet sie sich nicht bei ihm, erst am späten Abend klingelt wieder das Telefon.
Lukas hat sich bereits ins Bett gelegt. Es geht ihm immer noch nicht gut.

„Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht“, sagt Anna.
„Mutti, ich liege bereits im Bett, du kannst mich doch tagsüber viel besser erreichen“, sagt Lukas.

„Ich ruf‘ ja nie wieder bei dir an“, antwortet Anna. Ihre Stimme klingt verärgert.

Klara kommt abends aus Berlin zurück. Die Arbeit nimmt sie derzeit sehr in Anspruch. Und trotzdem muss sie mit Anna besprechen, wie es mit den Lebensmitteln bei ihr im Haus aussieht, um Lukas anschließend bei der Zusammenstellung einer optimalen Einkaufsliste für Anna zu unterstützen.

„Achte bitte darauf, dass Mutti die Lebensmittel aus dem Kühlschrank nimmt, deren Verfallsdatum abgelaufen ist“, sagt Klara zu Lukas.

„Mach‘ ich“, antwortet Lukas knapp. Sie verstehen sich nahezu blind.
Peter sitzt am Computer und flucht. Er wollte eigentlich längst seinen Text fertiggeschrieben haben. Stattdessen schlägt er sich mit den neuen Versicherungspolicen von Anna herum, die Lukas in ihrer Wohnung entdeckt hat.

„Das Schlimme ist, dass wir deine Mutter nicht einmal danach fragen können, ob bei ihr jemand in der Wohnung war, um Verträge abzuschließen“, sagt Peter zu Klara, die den Kopf in sein Arbeitszimmer steckt.

„Aber ich kriege das schon wieder hin“, murmelt Peter noch.
„Ich weiß“, sagt Klara und geht nach unten ins Wohnzimmer, um mit Anna zu telefonieren.

Sie alle eint nur ein Gedanke, nämlich mit ganzer Kraft für Anna dazu sein, auch wenn jeder mitunter an seine Grenzen kommt.
Zusammen aber, da bauen sie sich gegenseitig wieder auf und machen am nächsten Tag weiter, denn Anna braucht auch künftig ihre Hilfe und Unterstützung.

ANNA IST DEMENT (56)

LUKAS FREUT SICH AUF SEIN FEIERABENDBIER

Es ist spät geworden an diesem Dienstag. Lukas war noch bei einem Eigentümer einer Ferienwohnung. Die Wohnung ist begehrt, sie hat einen direkten Blick auf den Stralsunder Hafen und den Sund. Im Hintergrund kann man die Brücke sehen, die nun schon seit fast anderthalbhalb Jahrzehnten Stralsund mit Rügen verbindet.

„Ist das nicht ein fantastischer Blick“, empfängt der Eigentümer ihn in der Ferienwohnung.

Lukas kümmert sich um die Gäste der Wohnung, regelt die An- und Abreisen, sorgt dafür, dass die Wohnungen sauber sind, führt kleinere Reparaturen durch oder kümmert sich um Handwerker, wenn größere Aufgaben anfallen.

Lukas hat alles im Griff und im Blick. Nur der Blick dafür, was die Schönheiten ausmacht, wenn man aus dem Fenster schaut, der geht ihm mitunter im Trubel verloren.

„Wir sollten reden, wie wir es den Urlaubern noch angenehmer machen, damit sie unseren Service voll genießen können“, sagt Lukas stattdessen zum Eigentümer.

„Was meinen Sie mit noch mehr Service?“, fragt der Eigentümer zurück. Sein Blick verrät, dass er augenblicklich nicht noch mehr Geld in den Standard der Wohnungsausrüstung stecken will.

„Ach, die Urlauber sind stets sehr zufrieden, es sind also nur Kleinigkeiten“, meint Lukas und kramt einen Zettel aus seiner für ihn so typischen Handwerkerhose.

Das Gespräch dauert länger, als Lukas es gedacht hätte, aber schließlich ist alles besprochen und beide verabschieden sich zufrieden voneinander.

Lukas schaut auf die Uhr und will noch schnell bei Anna vorbeischauen. Eigentlich war der Tag stressig genug und das Bier wartet auf ihn, die Katze, seine stille Wegbegleiterin über den Tag, ebenfalls.

„Wo kommst du denn jetzt her?“, empfängt Anna ihn an der Tür.
„Mutti, ich wollte nur schauen, ob bei dir alles in Ordnung ist“, sagte Lukas und ließ sich erschöpft in einen der Sessel fallen. Dabei fiel ihm ein Schreiben auf, das auf der Anbauwand neben der Couch lag.
Er nimmt das Papier in die Hand und beginnt zu lesen.

„Liebe Frau Sturm, wir bestätigen den Eingang Ihres Schreibens und bedauern es zugleich sehr, dass Sie
unser Vertragsverhältnis kündigen wollen.“
Lukas sitzt nun mit einem Schlag kerzengerade im Sessel.

„War wieder jemand hier, der deine Versicherungsverträge durchgesehen hat, Mutti?“

„Wo denkst du hin, natürlich nicht“, sagt Anna barsch.
Lukas steht auf, verabschiedet sich und beeilt sich nach Hause zu kommen.

Er will nachdenken, wie er herausbekommt, wieso schon wieder von einer Versicherungsgesellschaft ein Schreiben vorlag, in der Annas schriftliche Kündigung bestätigt wurde.
Anna kann nicht mal mehr einen Einkaufszettel selbstständig schreiben.

Die Freude auf das alkoholfreie Feierabendbier ist Lukas vergangen.

ANNA IST DEMENT – (55)

GLAUB‘ MAL NICHT, DASS ICH NICHT MEHR RAUSGEHE

Anna sträubt sich dagegen, mit Hilfe von Klara eine Einkaufsliste zu schreiben. Sie will nicht wahrhaben, dass sie gar nicht mehr allein vor die Tür geht, schon gar nicht bis zum Supermarkt.

„Mutti, ich ruf‘ dich morgen Vormittag an und dann schreibst du die Einkaufsliste für Lukas.“
„Einkaufsliste für Lukas? Wieso Einkaufsliste für Lukas?“
„Mutti, Lukas geht doch einkaufen für dich. Er muss wissen, was du brauchst.“

„Wieso muss der wissen, was ich brauch‘?“
„Weil Lukas für dich einkauft, damit du alles hast.“
„Das mach‘ ich doch allein“, sagte Anna.
„Du gehst seit Wochen schon nicht mehr raus“, antwortete Klara. Sie hatte Mühe, sich zu beherrschen.

„Also das ist ja das letzte, dass du so etwas sagst.
Lukas war noch nie für mich einkaufen. Das mach ich immer noch allein.“

„Aber Mutti, du gehst nicht einmal mehr zum Briefkasten runter.“
„Dass du das zu mir sagst, das hätte ich nicht gedacht.“
„Ich auch nicht, Mutti“, sagte Klara jetzt schon ein wenig erbost.

Doch sie bereute ihren Ton im selben Moment.
„Mutti, wir alle wollen doch, dass es dir gut“, sagte Klara jetzt wieder versöhnlicher.
„Das weiß ich doch. Aber glaub‘ mal nicht, dass ich nicht mehr rausgehe!“

‚Ich weiß aber, dass du nicht mehr rausgehst‘, dachte Klara jetzt.
„Mutti, das ist ja schön, dann helfe ich dir, deine Einkaufsliste zu schreiben“, sagte Klara stattdessen laut.

„Ja, in Ordnung“, meinte Anna nun.
Am nächsten Tag rief Klara erneut bei Anna an.

„Hallo Mutti, wollen wir mal schnell deine Einkaufsliste durchgehen?“, fragte Klara sie.

„Welche Liste? Ich brauch‘ keine Liste!“, antwortete Anna mürrisch. Eine Stunde später war die Liste trotz Annas erneuten anfänglichen Widerstandes geschrieben.

„Und was soll ich jetzt damit?“, fragte Anna.
In dem Moment klingelte es bei Anna an der Tür.

Es war Lukas. Er holte die Liste und ging zum Supermarkt, ohne Anna. Wie jeden Samstag.

ANNA KANN NIRGENDWO MEHR ALLEIN HINGEHEN

ANNA IST DEMENT (54)

Anna ist bei ihrer Schulfreundin zum Geburtstag eingeladen und kommt dort nicht an.

„Findest du dort auch allein hin, Mutti?“, fragte Klara Anna. Sie wollte sichergehen, dass Anna nicht nur rechtzeitig ankam, sondern auch wusste, welchen Weg sie gehen musste.

Annas Schulfreundin hatte sie zum Geburtstag eingeladen, wie jedes Jahr.

Die Zeit am Sonntag war heran, Anna müsste längst bei ihrer Freundin angekommen sein.

Das Telefon klingelte. Klara schreckte aus dem Halbschlaf, sie war vor dem Fernsehapparat eingenickt.

„Mutti ist noch nicht eingetroffen, sie müsste aber längst hier sein“ Es war Annas Schulfreundin, die sich sorgte.

„Lukas hätte Anna begleiten müssen“, sagte Peter zu Klara.
Er wusste, dass diese Worte in dem Moment wenig hilfreich waren.
Doch er hatte es vorher schon gedacht und wollte es nur nicht sagen, um nicht als der Besserwisser dazustehen.

„Lukas und ich dachten, dass sie doch nur ein paar Schritte zu laufen hätte“, sagte Klara.
In diese Worte hinein schrillte das Telefon.

„Sie ist angekommen und hatte nur ihre Brille vergessen. Deshalb konnte sie die Hausnummer an der Tür nicht erkennen.“

Die Stimme von Annas Schulfreundin klang erleichtert.
Klara war es auch. Sie wusste nun mit Bestimmtheit, dass sie Anna nirgendwo mehr allein hinlassen konnte.

ANNA IST DEMENT- (53)

DAS MACHEN WIR DOCH GERN

Klara war zu Anna gefahren und Peter kämpfte mit seiner schlechten Laune.

„Ich bin gut in Stralsund angekommen“, sagte Klara am Telefon zu Peter.
„Hm, ja schön“, antwortete der einsilbig.

Klara hatte eine Woche Urlaub und die wollte sie bei Anna verbringen, um bei ihr nach dem Rechten zu schauen.
Obwohl Peter das verstand, es auch tolerierte, war er nicht begeistert, wenn es dann tatsächlich soweit war.
„Du hast doch jetzt Zeit, viel zu arbeiten!“, sagte Klare in solchen Momenten.

Peter sah das nicht so. Er war eher demotiviert, wenn er allein war. Er geriet aus dem Alltagstrott, der ‚Routine‘, wie er sie nannte.
„Brate dir bloß keine fetten Sachen und röste das Brot nicht so scharf an“, mahnte Klara ihn noch heute Morgen, bevor Peter sie zum Bahnhof brachte.

„Ach, wo denkst du hin“, meinte der.
Das war aber schnell vergessen.
„Ich könnte mir die paar Wurstscheiben anbraten und ein bisschen Brot dazu essen“, dachte Peter ein paar Stunden später.

Er machte sich gleich an die Arbeit, schnitt die Wurst klein und toastete die Scheiben Brot. Den Toaster stellte er auf ‚volle Kanne‘.
„Ich muss bloß sehen, dass ich ihn wieder zurückstufe, bevor Klara kommt“, murmelte er vor sich hin.

Es klingelte noch einmal und Anna war dran.
„Ach Peter, du glaubst gar nicht, wie überrascht ich war, als Klara in der Tür stand“, sagte sie fröhlich.

„Ich danke dir“, schob sie noch hinterher.
„Das machen wir doch sehr gern“, antwortete Peter.
Zum Glück konnte Klara das nicht hören, denn noch vor der Abfahrt hatte er gebrummt: „Ich möchte mal wissen, ob Krümel und Laura auch so an uns denken, wenn wir dement sind.“

„Sag‘ so was bloß nicht!“. Klara war entsetzt über Peters
Gedanken.

Es war inzwischen Abend geworden. Klara war längst bei Anna und räumte ihre Zimmer auf. Peter saß allein am Computer und plante lustlos die Arbeit für den nächsten Tag.

Wieder schrillte das Telefon. Krümel war dran.
„Opaaa?“ Pause.
„Ja, meine Süße, was gibt es denn?“
„Opa ‚lala‘ singen!“
„Kommt ein Vogel geflogen, lala lala lala…“, sang Peter los und bekam wieder gute Laune, für einen Moment jedenfalls.

ANNA IST DEMENT (52)

VOM FLUCH DES VERGESSENS

Krümel ist krank und damit muss auch ihre Mama zuhause bleiben. Bisher war Krümel aufgrund ihres Fiebers noch nicht bereit, längere Gespräche oder gar Telefonate zu führen.

„Na, willst du denn mal den Opa am Telefon sprechen“, wurden von ihr kurz und knapp mit „ne“ beantwortet.
Jetzt geht es ihr wieder besser und nun reagiert und agiert sie auch wieder munterer.

„Wollen wir denn mal Uroma Anna anrufen?“, fragte Laura gestern.
„Ja“, sagte Krümel. Laura wählte die Telefonnummer und am anderen erklang die Stimme von Anna.

Dann war es eine Weile am Telefon still. Krümel hatte den Hörer in der Hand, aber sie sprach nicht. Wir kennen das schon, wenn wir mit ihr telefonieren. Ich singe dann einfach „la, la, la“, und Krümel stimmt ein.

Aber hier war es nun anders, Anna wartete darauf, dass sich jemand meldete, und Krümel dachte gar nicht daran auch nur ein Wort zu sagen.

„Ja, wer ist denn da?“, klang es nun schon ärgerlicher. Anna hatte keine Geduld. Sie hatte auf der Couch gelegen und ‚übergeschlafen‘, wie sie sagte.

Und das morgens um 09.00 Uhr. Aber Anna hatte überhaupt in den Vormittagsstunden Schwierigkeiten, sich zu aktivieren und ließ es schon gar nicht zu, wenn andere sie zu etwas überreden wollten.

„Oma ‚Kanna‘?“, fragte Krümel plötzlich. Sie konnte noch nicht Anna sagen.

„Ach du bist es, mein ‚Süssing‘, jetzt erkenne ich dich ja“, sagte Anna nun schon fast fröhlich.

„Wir ‚pielen‘“, sagte Krümel durch das Telefon und meinte, dass ihre Mama und sie am Tisch saßen und Blauklötze stapelten.

„Was macht ihr?“, fragte Anna.
„‘pielen‘“, meinte Krümel erneut.

„Ach weißt du Oma, Krümel ist krank, wir sind gerade zuhause und da dachten wir, dass wir dich mal anrufen“, mischte sich jetzt Laura ein.

„Das verstehe ich nicht“, sagte Anna.
„Was verstehst du nicht?“, hakte Anna nach. Und sie ergänzte: „Oma, Krümel ist krank und ich bin deshalb auch krankgeschrieben.“
„Wer ist Krümel?“, fragte Anna daraufhin.

ANNA IST DEMENT (51)

WIR SIND MAL ZUR STIPPVISITE DA

Anna war beim Friseur, nach vielem Hin- und Her, vielen Ausreden und Ausflüchten.

„Der Termin ist hier gestrichen, ich muss da also nicht mehr hin“, sagte sie noch am Tag, als Lucas sie abholen wollte.
Schließlich ließ sie sich doch überreden und stieg zu Lucas ins Auto, um zum Frisörladen zu fahren.

Als sie da war, fühlte sie sich wohl, weil die Friseurin es ihr sehr leicht machte, sich ‚fallen zu lassen‘.
Sogar eine andere Haartönung bekam sie.

„Ich bin jetzt anspruchsvoller geworden“, sagte Anna zu Klara am Telefon, als sie auf ihre Frisur zu sprechen kam.

Klara war für einen Moment sprachlos, dann musste sie sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen.
Sie tat es nicht, denn sie würde damit ihre Mutter auslachen. Das brachte sie nicht übers Herz.

„Na dann ist ja alles prima, Weihnachten kann jetzt kommen“, sagte Klara stattdessen zu ihr.

„Und übrigens, wir kommen zur Stippvisite vorbei“, fuhr Klara fort und ließ es aussehen, als würden Klara, Peter, Laura und die Kleine nur so nebenher mal vorbeikommen.

Am Telefon war es still. Keine Reaktion.
Anna fragte nicht, wann Klara kommen wollte, ob sie über Weihnachten blieben, wo sie schliefen.

Klara war traurig darüber. Doch andererseits auch froh, dass Anna sie nicht löcherte.

„Wenn die Kleine mit nach Stralsund kommt, dann lerne ich sie ja endlich mal kennen“, sagte Anna, ohne groß eine Emotion in ihren Satz zu legen.

„Mutti, du hast die Kleine schon so oft gesehen!“
Klara konnte sich das nicht verkneifen, bereute den Satz aber sofort.

„Also ich hab‘ sie noch nicht gesehen, das würde ich ja wohl wissen“, sagte Anna daraufhin trocken.

„Ja, Mutti, das würdest“, antwortete Klara.
‚Wenn du gesund wärst und dich daran erinnern könntest‘, dachte Klara bei sich, sprach diesen Halbsatz aber nicht aus.

ANNA IST DEMENT (50)

ICH RUF DOCH NICHT MORGENS UM HALB SECHS AN (FORTSETZUNG)

Anna hat Peter morgens angerufen, halb sechs Uhr. Sie glaubt aber fest daran, dass es bereits abends ist.

„Das kann nicht sein, wir haben es nämlich halb sechs Uhr morgens“, sagte Peter.

„Wieso morgens?“, hakte Anna wieder nach. Ihr Ton klang nun noch vorwurfsvoller.

„Wieso morgens und wieso abends, das sollten wir mal denen da oben im Himmel überlassen“, sagte Peter und biss sich gleich auf die Zunge.

„Hast du denn noch eine andere Uhr?“, fragte er Anna weiter.

„Ja, hier meine Armbanduhr“, sagte Anna.

„Und wie spät ist es darauf?“

„Halb sechs.“

„Siehst du“, sagte Peter.

Anna schwieg.

„Bist du noch da?“, fragte Peter.

„Ja, aber ich versteh‘ das alles nicht“, sagte nun Anna.

„Hast du denn gar nicht geschlafen?“, fragte Peter sie.

„Wie kommst du bloß darauf, dass ich nicht geschlafen habe?“

Anna’s Stimme klang empört.

„Du hast Recht, was für eine blöde Frage“, sagte Peter.

„Ich weiß doch, dass du jeden Abend gegen zehn Uhr ins Bett gehst“, fügte er noch an.

„Dann wünsch‘ ich dir noch einen schönen Tag und denk an dein zweites Frühstück.“

Peter wollte wieder an seine Arbeit gehen.

„Ja, ich denke an das zweite Frühstück. Ich eß‘ doch da so gern einen Apfel.“

„Obst ist gesund und stärkt das Gedächtnis“, sagte Peter.

„Warum ausgerechnet das Gedächtnis?“, fragte Anna ihn.

„Ach nur so. Ich meine das ganz allgemein.“
Peter verabschiedete sich und legte auf. Gegen 10.00 Uhr rief er noch einmal bei Anna an.

„Na, weißt du noch, um welche Uhrzeit du mich heute Morgen angerufen hast?“
Am Telefon war Schweigen.

„Warum fragst du mich, ob ich noch weiß, ob du mich angerufen hast? Ich würde dich doch nie morgens um halb sechs Uhr anrufen!“
Anna’s Stimme klang gereizt.

„Ja, du hast Recht. Ich glaube, ich habe da was durcheinander gebracht“, sagte Peter nun schnell.

„So soll es ja mal losgehen“, sagte Anna daraufhin zu Peter.
„Iss bloß viel Obst“, meinte sie noch.

ANNA IST DEMENT(49)

ICH RUF‘ DOCH NICHT MORGENS UM HALB SECHS AN

Anna bringt die Tageszeiten durcheinander.

Peter saß an seinem Schreibtisch. Er hatte Klara nur zur S-Bahn gebracht und war nicht mit in die Stadt gefahren, weil es ihm nicht gut ging.

„Leg’dich doch wieder hin“, sagte Klara, als sie aus dem Auto stieg.
„Nein, das mach‘ ich auf keinen Fall“, antwortete Peter.

„Ich hab‘ genug zu tun und bin froh, wenn ich mal die frühen Morgenstunden nutzen kann“, rief er ihr hinterher, als Klara bereits den S-Bahneingang im Blick hatte.

Er fuhr zurück und ging ohne Umschweife daran, sich die Tagesplanung auf einen alten Zettel zu schreiben.

Er hatte immer noch die Angewohnheit, die bedruckten Seiten nicht in den Papierkorb zu schmeißen, sondern sie wiederzuverwenden.

Peter schrieb seine ersten Gedanken gern mit dem Bleistift aufs Papier, weil ihm dadurch keine Tastatur gedanklich im Wege stand.
‚Vom Kopf in die Hand und von da aus aufs Papier‘, dachte er so bei sich.

Nur das Abschreiben seiner eigenen Kritzeleien, das lag ihm gar nicht.

Das Telefon klingelte. Peter schaute auf die Telefonnummer. Es war Anna. Und es war kurz vor halb sechs Uhr.

‚Was will Anna um die Zeit?‘, schoss es ihm durch den Kopf.
‚War etwa irgendwas passiert?‘

Peter zögerte noch ranzugehen, weil er sich nicht ablenken lassen wollte
Als das Klingeln nicht aufhörte, tat er es schließlich doch.

„Gerber“, sagte Peter, obwohl er wusste, dass es seine Schwiegermutter war.

„Ja, guten Abend Peter, hier ist Anna.“

„Weißt du, wie spät es ist?“, erwiderte Peter, ohne auf ihren Gruß einzugehen.

„Wieso wie spät es ist?“, wiederholte Anna die Frage am Telefon.
Peter kam es vor, als würde sie ihn nachäffen.

„Schau doch bitte mal auf die Uhr und sage mir, was du da siehst“, sagte Peter und bemühte sich ruhig zu bleiben.
„Es ist hier halb acht abends“, antwortete Anna.

Fortsetzung folgt

 

 

 

BESUCH IM PFLEGEHEIM IN DRESDEN

ANNA IST DEMENT (48)

Peter geht an der Tür seines Vaters vorbei. Dort steht jetzt ein anderer Name auf dem Türschild. Peter muss schlucken.

Peter und Klara hatten sich am Samstagmorgen aufgemacht, um mit dem Auto nach Dresden zu fahren – ins Pflegeheim, dort wo Peters Mutter, Getrud Gerber, seit nun schon über anderthalb Jahrzehnten lebte. Sie war im Sommer 90 Jahre alt geworden und litt stark an Demenz.

„Ob sie uns wohl wiedererkennt?“, fragte Peter.
„Ich hoffe“, antwortete Klara, „aber genau wissen wir es erst, wenn wir vor ihr stehen“, setzte Klara nach.

Peter hatte einen Tag vorher noch die Pflegedienstleiterin, Schwester Eva, angerufen und gefragt, wie es seiner Mutter ginge.
„Ihre Mutter ist ganz munter und erkennt auch die Schwestern, wenn sie zur Tür hereinkommen“, sagte Schwester Eva.

„Das freut mich, dann haben wir ja eine Chance, dass sich meine Mutter freut, wenn wir eintreffen“, meinte Peter.
„Ja, ganz bestimmt“, versicherte die Schwester Peter. Dresden kam näher. Es war die Stadt, in der Peter sein Abitur gemacht hatte und mit der ihn viele Erinnerungen verbanden. Und trotzdem, das Gefühl von wirklicher Heimat wollte nicht aufkommen. Zu lange hatte Peter wohl im Norden gewohnt, in Schwerin und später in Stralsund.

Peter stellte das Navigationsgerät aus, denn er wusste, wie er fahren musste.
Sie fuhren an der Frauenkirche in die Tiefgarage und begaben sich zu Fuß zum Pflegeheim.

„Welchen Stock müssen wir drücken?“, fragte Klara, als im Foyer des Heimes in den Fahrstuhl stiegen.

„Ich glaube der dritte ist richtig“, antwortete Peter und ärgerte sich, dass sie es sich nie merkten, wo Getrud Gerber lag.

„Wir sind einfach zu wenig hier“, sagte Peter und wollte mit diesem Satz sein schlechtes Gewissen beruhigen. Als sie aus dem Fahrstuhl ausstiegen, gingen sie den Gang entlang, der zum Zimmer von Peters Mutter führte.

Sie mussten vorbeilaufen an dem Zimmer, in dem Peters Vater – Manfred Gerber – viele Jahre gewohnt hatte. Seine Frau und er wohnten in den letzten Jahren nicht mehr zusammen. Sie besuchten sich, solange es noch ging, aber die fortschreitenden Krankheiten bei beiden brachten es mit sich, dass die Pflege und Betreuung wirkungsvoller war, wenn beide in verschiedenen Zimmern untergebracht waren.

An der Tür von Manfred Gerber stand jetzt ein anderer Name. Peter bekam weiche Knie. Ihm wurde klar, wie endgültig es war, dass er seinen Vater nie wieder sehen oder sprechen würde.

Am Ende des Ganges war ein Buch aufgeschlagen, in dem die Todesnachrichten untergebracht waren. Peter blätterte das Buch durch und erblickte das Foto seines Vaters.

Es war nicht die letzte Seite. Im Herbst waren weitere Todesanzeigen hinzugekommen.

„Hier kommst nur wieder auf der Bahre raus“, hatte sein Vater mal zu Peter gesagt.

Peter schluckte. Er musste sich zusammenreißen, denn sie waren an der Tür von Getrud angekommen.

ANNA IST DEMENT (47)

WIE FIGUREN BEI ‚ANNA IST DEMENT‘ RICHTIG EINFÜHREN UND BESCHREIBEN?

Wir lassen uns mehr von unseren Gefühlen leiten, als wir es selbst manchmal wahrhaben wollen.

Wir hören vor allem deshalb gern Schlager, weil die Melodien in einen Zustand des Glücks versetzen.
Ein anderer hört vielleicht klassische Musik und kann darüber seinen Gefühlen freien Lauf lassen.

In jedem Fall können wir ohne diese Gefühle nicht existieren, oder nur sehr eingeschränkt.
Aber wie bekomme ich es hin, diese Gefühle auf meinen Seiten, speziell bei ‚Anna ist dement‘ zu transportieren?

Klar, ich kann beschreiben, wie Anna aus ihrer Wohnung schaut, auf den Stralsunder Hafen und sich an den Schiffen erfreut, die dort an der Pier liegen.

Aber ich glaube, auf die Dauer wird das langweilig.
Ich muss dazu übergehen, die handelnden Personen näher zu charakterisieren.

Anna zum Beispiel, oder Peter. Zumal das ja Figuren sind, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Ich muss sie noch näher beschreiben, damit der Leser sich ein Bild machen kann, in die Gefühlswelt meiner Figuren eintauchen kann.

Und ehrlich: Das habe ich bisher immer vernachlässigt, zumindest wenn es darum ging, in die Tiefe zu gehen.
Natürlich weiß ich, dass es ohne richtige Figuren keine fesselnde Geschichte geben kann.

Und trotzdem tue ich mich schwer damit, die eigenen Gedanken, Gefühle, quasi die eigene Seele dem Leser zu öffnen.
Auf der anderen Seite weiß ich, dass es der einzige Weg überhaupt ist, den Leser tatsächlich zu berühren.

Du fängst also an, dich näher mit deinen Figuren zu befassen, du begibst dich faktisch in sie hinein. Und siehe da, du bist schon bei dir selbst.

Das kannst du gar nicht vermeiden, weil du deine Sicht auf die Person wiedergeben musst und du dich also fragst, warum du sie so und nicht anders siehst.

Wenn ich es schaffen will, dass meine handelnden Personen vom Leser angenommen werden, muss ich schon auch ein klein wenig in die Seele des anderen einsteigen.

Das macht mir Spaß. Ich frage mich immer, warum mir jemand in dem Moment etwas fragt und warum er teilweise gar nicht auf das reagiert, was ich selbst gerade gesagt habe.

Wahrscheinlich, weil es ihn nicht interessiert hat. Aber herauszubekommen, was einem anderem Menschen Spaß macht, was ihn für Motive umtreiben, das ist schon etwas, was ich sehr gern tue.

Also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich an die Charakterskizzen meiner einzelnen Figuren zu machen.

ANNA IST DEMENT (46)

FRIEDA IST EINE SCHRECKLICH LAUTE PERSON

Peter dachte noch immer daran, wie er sich Anna gegenüber verhalten hatte. Er fühlte sich im Recht, als er sie bat, den Gurt im Auto anzulegen.

Doch er hatte das außeracht gelassen, was er stets zu Klara in solchen Situationen sagte: „Anna ist dement und wir sind es nicht. Anna kann ihr Verhalten nur noch bedingt steuern.

Wir aber, wir können das und wir haben deshalb die Verantwortung dafür, mit entstandenen Situationen umzugehen.“

Das waren seine Worte. Und nun, wo es darauf angekommen war, sie tatsächlich zu berücksichtigen, da versagte er doch glatt.

Peter hatte darüber mit einer Inhaberin eines Pflegenternehmens telefoniert. Er kannte sie nicht persönlich, aber er wusste, dass sie ihn bestens verstand.

Im Grunde wusste er selbst sehr genau, was er falsch gemacht hatte, aber es tat gut, dass ihm jemand zuhörte, der nicht nur vom Fach kam, sondern auch menschlich nachfühlte, was auf beiden Seiten vorging, auf der Seite von Anna und auf seiner Seite.

Wieviel Konfliktstoff barg die Betreuung von Anna in sich?

Ihre Krankheit stellte jedenfalls alle auf die Probe – Klara, Lucas, die ganze Familie eben.

„Wie geht es euch?“, fragte Anna einige Tage später Klara am Telefon.
Sie hatte längst vergessen, welche Auseinandersetzung sie mit Peter und Klara hatte.

„Manchmal hat die Demenz auch gute Seiten“, sagte Peter.
Klara schaute ihn empört an.

„Das ist ja wohl nicht dein Ernst“, sagte sie.
„Du hast Recht. Es ist schlimm genug, dass Anna vieles gar nicht mehr mitbekommt.“

„Und vor allem, meine Mutter mag dich doch so gern. Sie hat in den ganzen Jahren unserer Ehe nie ein böses Wort über dich gesagt“, setzte Klara nach.

„Ja, ich weiß.“
Peter schmunzelte.

„Warum lachst du?“, fragte Klara.
„Weißt du noch, wie ich mit Frieda über Politik stritt und es emotionaler wurde?“

„Ja, und?“
„Naja, hinterher sagte Anna nicht etwa, dass ich zu laut gesprochen hätte. Nein, sie meinte, dass Frieda nur so eine schrecklich laute Person sei.“

SCHREIB-ALLTAG (8)

WARUM AUSGERECHNET DER ALLTAG?

Ich habe in den vergangenen Tagen noch einmal darüber nachgedacht, warum ich gerade den Alltag zur Vorlage für meine Texte nehme.

Und wie passt dazu zum Beispiel die Pflege?

Um mir selbst noch einmal zu verdeutlichen, warum gerade der Alltag im Fokus meines Schreibens steht, habe ich die Rubrik ‚WARUM ICH ÜBER DEN ALLTAG ERZÄHLE‘ überarbeitet und zum großen Teil neu gefasst:

Unser ganzes Leben besteht aus Alltäglichem – aus kleinen Sorgen und großen, aus Kummer, Liebe, Leidenschaft, fantastischen Erfolgen und schlimmen Niederlagen.

Der Sonntag oder der Feiertag, sie sind wichtig, dienen meistens dem Innehalten, aber unsere Energie, unsere Motivation stecken wir in den Alltag.

Diese ‚alltägliche Wirklichkeit‘ erlebt jeder anders, nimmt sie ganz individuell wahr.

Deshalb will ich keine allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten herausarbeiten, die man vielleicht im Alltag beachten sollte.

Nein, ich kann nur von meinem Erfahrungshorizont aus schreiben.
Darum wähle ich auch in den meisten Texten die ‚Ich-Erzählperspektive‘.

MEINE KERNTHEMEN SIND:
WEITERLESEN:
https://uwemuellererzaehlt.de/uwe-mueller-erzaehlt/mein-antrieb/

 

ANNA IST DEMENT (45)

LEG‘ DEN GURT RICHTIG UM, BITTE
Klara und Peter wollen mit Anna einen Ausflug machen.Anna stöhnt, weil sie sich anschnallen muss. Peter kommt an seine Grenzen, er wird lauter, und er ist erschrocken - seinetwegen. 

„Wir wollen einen Ausflug machen“, sagte Klara zu Anna.

„Wohin?“, fragte Anna.

„Nach Altefähr“, antwortete Klara.

Anna schaute Klara mit wirren Augen an.

„Wieso willst du einen Ausflug machen, ich versteh‘ das nicht.“

„Mutti!“, Klara hatte Mühe, sich zu beherrschen, „wir wollen, dass du mal an die frische Luft kommst und nicht immer zu Hause herumhockst!“

„Warum hocke ich rum?“, fragte Anna vorwurfsvoll zurück.

„Ich halte das nicht mehr aus“, sagte Klara zu Peter, als sie wieder aus der Wohnung raus waren.

„Aber du weißt doch, dass das ihre Krankheit ist“, versuchte Peter sie zu beruhigen. Sie sprachen nicht mehr darüber.

Am nächsten Tag fuhren Klara und Anna zu Annas Haus, um sie zum Ausflug abzuholen.

„Ich geh‘ hoch und helfe Mutti beim Anziehen“, sagte Anna, bevor sie aus dem Auto stieg, um die Treppen zu Annas Wohnung hinaufzugehen. Peter wartete im Auto.

Er war in sein Handy vertieft, als es an die Autoscheibe klopfte.  Peter schaute nach draußen. Klara winkte. Hinter ihr stand Anna, mit  mürrischen Blick.

Peter stieg aus dem Auto aus und ging zu Anna, um ihr ins Wageninnere zu helfen. Anna stöhnte und als sie schließlich saß, da zerrte sie an dem Gurt, als würde der sie umbringen.

„Was ist denn das für ein Scheiß“, fluchte Anna.  So etwas hätte sie früher nicht gesagt, als sie noch gesund war.

„Steck‘ bitte den Gurt in die Schnalle.“

„Welche Schnalle?“, fragte Anna Peter und schaute ihn böse an.

„Ich komme jetzt auch nicht auf den richtigen Begriff, aber warte, ich mach das für dich.“

Peter stieg hinten ein und befestigte Annas Gurt wortlos.

„Ach, das ist mir zu eng“, sagte Anna und schaute Peter vorwurfsvoll an. Gleichzeitig zerrte sie am Gurt und hielt ihn mit einer Hand vom Oberkörper weg.

„Bitte nimm die Hand da raus“, sagte Peter.

„Warum?“

„Weil ich der Fahrer bin und die Verantwortung für deine Sicherheit trage.“

Anna schaute ihn spöttisch an: „Du bist wohl der Kapitän auf einem großen Schiff?“

„Wenn du jetzt nicht das tust, was ich dir sage, dann kann ich dich nicht mitnehmen.“

Peter erschrak über seine laute Stimme. Es fiel ihm schwer, Anna so zu nehmen, wie sie gerade war.

Klara hatte auch ihre Probleme damit. Aber sie schluckte es runter. Doch Peter konnte das nicht alles bei sich behalten. So wie ein altes Stück Fleisch, das man schließlich doch zerkaute und mit Mühe herunterwürgte, bis er es ab einem bestimmten Punkt wieder nach oben brachte und es auskotzte, vor die Füße der anderen.

Und so war bei Anna, als sie zu ihm spöttisch sagte, dass er ja wohl nicht der große Kapitän auf einem Schiff sei, sondern nur der kleine Fahrer von einem kleinen Auto.

Da brach es aus ihm heraus:

„Du brauchst mich hier nicht zu verspotten. Wir sind nur hierhergekommen, um nach dir zu sehen, uns um dich zu kümmern. Klara tut alles, damit du in deiner Wohnung klarkommst. Ich schreibe die Unternehmen und die Leute an, mit denen du unnötige Verträge geschlossen hast, um dich da wieder herauszuholen. Du musst dich dafür nicht bedanken, aber wir wollen nicht auch noch von dir verhöhnt werden.“

Peter hielt inne. Er wusste, dass er zu weit gegangen war. Klara schwieg.

Aber es war dieses Schweigen, was ihm signalisierte: „Warum sagst du das alles? Das kommt doch gar nicht an bei meiner Mutter. Du bringst sie nur noch mehr durcheinander.“

Peter sagte nichts mehr. Er stieg nach vorn ins Auto und fuhr einfach los. Anna hatte die Hand aus dem Gurt herausgenommen.

 

 

ANNA IST DEMENT (44)

ICH BITTE UM DIE TABLETTEN AUS DER KISTE
Lukas ist auf dem Weg zu Anna, wie jeden Tag.
Anna schaut ihn mit wirrem Blick an.
Sie versteht nicht, warum die Kiste mit den Spritzen verschlossen ist, und warum nur der Pflegedienst sie aufmachen darf.

Lukas ist auf dem Weg zu Anna.

Vorher hatte er noch im Stralsunder Hafen bei einem älteren Ehepaar aus Hamburg vorbeigeschaut, die in ihrer Ferienwohnung Urlaub machten, und die ihn mit der Betreuung der Feriengäste betraut hatten.

Im Herbst, wenn der Ansturm der Urlauber abflaute, kamen die Eigentümer selbst, um sich ein wenig von Hamburg zu erholen.
Sie freuten sich, wenn Lukas vorbeikam und sich nach ihrem Befinden erkundigte.

Aber nun war er auf dem Weg zu Anna. Als er in der Tür stand, schaute sie ihn mit wirrem Blick an.

„Du kommst ja ganz schön viel, hast du nichts zu tun?“

Lukas schwieg. Er kämpfte seinen Ärger hinunter. Er hatte sich extra beeilt. Und nun dieser Vorwurf von Anna.

„Jetzt lass mich doch erst einmal hereinkommen!“, sagte er stattdessen.

In seine Stimme war ein klein wenig mehr Schärfe gekommen, als er es selbst wollte. Er ging ins kleine Zimmer, in der die Kiste mit den Spritzen und Tabletten stand.

„Ich versteh‘ nicht, warum die Kiste hier verschlossen ist“, sagte Anna mit vorwurfsvollem Unterton zu Lukas.

„Mutti, damit du dort nicht rangehst und dir eigenständig die Spritzen und Tabletten rausholst.“

„Aber wer soll das denn sonst tun?“, fragte Anna.

„Mutti!“, Lukas hielt inne, weil er Angst hatte, dass er zu laut wurde. Sein Blick fiel auf zwei Zettel, die auf der Kiste lagen.

„Achtung! Wer gibt mir die Tabletten aus der Kiste?“, hatte Anna dort draufgeschrieben.

„Wie regeln? Morgens muss ich meine Tabletten einnehmen. Das ist alles in der Kiste!“

Lukas stockte der Atem. Anna hatte nichts begriffen, im Gegenteil, sie versuchte immer noch an die Kiste heranzukommen.

„Habe also nichts eingenommen. Abends kann ich so nicht arbeiten.“

„War der Pflegedienst schon hier und hat dich gespritzt?“, fragte Lukas.

„Nein, hier war keiner. Und die Kiste ist auch zu. Es ist zum Verzweifeln.“

Lukas schlug das Buch auf, in dem die Mitarbeiter des Pflegedienstes regelmäßig eintrugen, wann sie dagewesen waren.

„Hier steht doch, dass vor zehn Minuten der Pflegedienst da war, dich gespritzt hat und dir die Tabletten verabreicht hat.“

„Das kann doch nicht sein, dass ich das schon wieder vergessen habe“, sagte Anna resigniert.

 

ANNA IST DEMENT (43)

ANNA IST ÜBERFORDERT, LUKAS AUCH
RÜCKBLICK - ANNA IST DEMENT (42)
Lukas war mit der Situation, die sich ihm bot, überfordert.
Seine Mutter fragte laufend nach, warum er das alles eingekauft hatte, Frieda, Annas Freundin, stand hinter Anna und beobachtete mit Argusaugen, was sich zwischen Mutter und Sohn abspielte.

Frieda war von Herzen gut, selbst sehr organisiert in ihrem eigenen Leben, aber sie war eben auch von einer zügellosen Neugier getrieben.

Sie musste alles wissen – was im Kühlschrank von Anna war, warum Anna ihr nichts davon erzählt hatte, dass sie auf einer Beerdigung von einer guten Bekannten gewesen war.

Frieda machte es für Lukas nicht gerade leicht, in dem Moment, wo er so schnell wie möglich wieder losfahren wollte.
Auf ihn warteten seine Kunden. Die einen wollten ihren Garten gemäht haben und die anderen waren Gäste in einer Ferienwohnung und drängten darauf, dass die Herdplatte wieder anging.

Dazwischen Frieda Krüger mit ihren Bemerkungen, die die ganze Situation noch verschlimmerte.

„Anna, ich verstehe nicht, warum du die Bestellungen nicht gleich für eine ganze Woche auf den Zettel schreibst und sie dann Lukas gibt‘s. Der kann dann einkaufen, wenn er Zeit dafür hat.“

Frieda meinte es gut, aber das alles sagte sie zu einem Zeitpunkt, wo es wirklich nicht angebracht war, denn Lukas hatte ja nun gerade eingekauft.

„Was meinst du mit dem Einkaufszettel? Warum soll ich einen Einkaufszettel schreiben?“, fragte Anna unwirsch dazwischen.

„Und die Schwestern kommen auch nicht zum Spritzen.“
„Mutti, es ist jetzt kurz vor zwölf. Die Schwestern werden gleich kommen, und du bekommst dann deine Spritze.“
Hast du denn kein Buch, wo das eingetragen wird?“, fragte Frieda.

„Was für ein Buch?“, fragte Anna.
„Ich habe noch nie ein Buch gesehen“, erwiderte Anna trotzig.

 

ANNA IST DEMENT (42)

LUKAS RACKERT SICH AB

Lukas keuchte die Treppen bei Anna rauf.
Er hatte zwei schwere Taschen in der Hand, in jeder eine. Die zerrten an seinen Handgelenken, schnürten ihm das Blut in den Fingern ab.

Als er endlich an der Tür angekommen war, ließ er sich schnaufend auf den Stuhl fallen, den Anna vor die Wohnungstür gestellt hatte.
Schließlich erhob er sich ächzend und drückte auf den Klingelknopf.

Es dauerte eine Weile, bis sich drinnen jemand bemerkbar machte.
Die Tür öffnete sich und Anna blickte Lucas erstaunt an.
„Mit dir hätte ich ja nun gar nicht gerechnet“, sagte sie und schaute mürrisch drein.

„Mutti, wir haben doch heute Morgen erst besprochen, dass ich für dich einkaufe, und dafür hast du mir ja sogar einen Zettel geschrieben.“

Lukas konnte seine Enttäuschung darüber, dass sich Anna nicht freute, kaum verbergen.

Hinter Anna ertönte eine fröhliche Stimme: „Guten Tag, Lukas.“
Es war Frieda Krüger, eine gute Freundin von Anna. Sie kannten sich schon von ihrer gemeinsamen Schulzeit aus dem Krieg her.
Frieda ist herzensgut und sie glaubt, sie müsse alles wissen, was so bei den anderen passiert.

Neugierig sagen die einen über sie, wissbegierig sie über sich selbst. Und bereit zu helfen.

Lukas hatte das wohl nicht im Blick, als er Frieda sah.
„Die fehlt jetzt noch in meiner Sammlung“, sagte er sich, besser, er dachte es. Denn laut sagen würde er das nie. Das traute er sich nicht.

Da war Lukas einfach zu feige, oder klug genug, nicht noch zusätzliche Konflikte zu provozieren.

Fortsetzung in ‚ANNA IST DEMENT (43)‘

ANNA IST DEMENT(41)

GLÜCK BRAUCHT KEINE VORBEDINGUNGEN

Peter hockt noch im Fitness-Studio und hat keine Lust mehr, sich zu quälen. Doch dann muss er an seine Mutter in Dresden denken. Sie sitzt den ganzen Tag im Rollstuhl, meist bewegungslos. Ihre Mimik scheint eingefroren.

Was ist das noch für ein Leben?
Peter will vermeiden, dass es ihm genauso ergeht. Wenigstens will er es rausschieben, möglichst weit nach hinten raus.

Also weitermachen mit den Übungen. Aber was ist mit den anderen Risikofaktoren? Übergewicht, Bluthochdruck, Gene?

100 Punkte für die Wahrscheinlichkeit, dass eines davon die Ursache für die eigene Demenzschwäche ist. Glaubt Peter das wirklich?

Peter schiebt diesen Gedanken von sich. Er will das tun, was er tun kann. Also weitermachen mit Sport und Abspecken.
Es ist wie jeden Tag. Peter kann fluchen, dass er früh aufsteht, bis zum Alex fährt, um sich dort fit zu halten, oder er nimmt den anderen Blickwinkel.

Den, der ihn sofort mit Leben umgibt. Mit der Energie, die er braucht, um dem ganzen Tun einen Sinn zu geben.
Er muss an seinen Vater denken. Was sagt er, wenn sie ihn zu Grabe tragen?

Woran soll er sich erinnern und woran will er die anderen erinnern, die mit ihm auf dem Friedhof stehen?
An die vielen Dispute, die unnützen und unsäglichen Dialoge, in der keiner nachgeben wollte?

Oder lieber daran, was er an seinem Vater so schätzte?
Seinen scharfen Verstand, seine Fähigkeit, schnell Menschen zu erkennen, Beobachtungen auf den Punkt zu bringen, auf des Pudels Kern zu reduzieren und rhetorisch zu glänzen, sowieso.

Sicher wird er über alles das sprechen. Aber was ist noch wichtiger?
Vielleicht die Tatsache, dass alles endlich ist, keiner die Zeit bekommt, die er glaubt auf seinem Konto zu haben, die ihm sozusagen zustünde, um etwa wieder was in Ordnung zu bringen.

Es ist besser, manche Dinge einfach laufen zu lassen, nicht dauernd auf die Schwächen anderer zu schauen. Vielmehr, einem Menschen Kraft zu geben, und ihm zwischendurch auch einmal zu sagen, wie sehr man ihn mag, und sei er noch so widerborstig.

Peter dachte daran, wie er zuletzt Krümel abholte, wie sie auf ihn zuschoss, weil sie glücklich war, ihn zu sehen.

Warum vergeht eigentlich diese ungestüme Freude im Alter?
Dieses glücklich sein, ohne irgendwelche ‚ja, aber‘ vorweg, sondern eher ‚hier und jetzt‘, sofort Spaß, nicht aufgespart für Weihnachten, wie das Glas Gurken zu DDR-Zeiten.

Peter wird aus seinen Gedanken gerissen, weil neben ihm jemand laut die Gewichte aufknallt. Er will schon rübergehen und sagen: „Hör mal, das macht man nicht, weil du das Gerät beschädigst und vor allem, weil du die anderen neben dir störst.“

Aber dann erinnert er sich an das, was er seinem Vater eigentlich noch hätte sagen wollen.

Er schaut zu seinem Trainingspartner am anderen Gerät rüber und lächelt ihm zu, und hebt den Daumen.

Der lächelt zurück und setzt die Gewichte beim weiteren Mal ganz vorsichtig ab.
„Geht doch“, würde jetzt Lukas sagen. Aber der ist ja in Stralsund. Peter wird ihn auf der Rückfahrt anrufen. Sie können morgens immer so schön lachen, über das, was Anna so raushaut. Sie lachen dann herzhaft, sie lachen Anna nicht aus, nein, sie machen sich nur gegenseitig Mut, geben sich Kraft für das, was noch kommt.

 

ANNA IST DEMENT (40)

ANNA HAT DEN ANRUF VON LUKAS SCHON WIEDER VERGESSEN

Es ist schon spät, als Anna sich bei Lukas am Telefon meldet.
„Ich bin gerade beim Abendbrot“, sagt Lukas leicht genervt zu Anna.

Anna druckst herum, bis sie salbungsvoll über die Lippen bringt: „Ich wollte dir auch nur ein wunderschönes Abendessen wünschen.“

„Aber Mutti“, die Stimme von Lukas zittert vor Empörung, „wir haben doch gerade miteinander gesprochen.“

„Ach, haben wir das? Na dann kann ich ja wieder auflegen“, antwortet jetzt Anna. In ihrer Stimme schwingt mit, wie beleidigt sie gerade von dem ist, was Lukas ihr gesagt hat.

Lukas ärgert sich darüber, dass er sich mal wieder nicht im Griff hatte. Dabei wollte er sich nicht aufregen, egal, was Anna von sich gab.

„Mutti, was wolltest du mir denn noch mitteilen?“, fragte er nun schon versöhnlicher.

„Du, stell dir vor, Peters Vater ist tot.“
Lukas verschluckte sich an dem Stück Brot, das er kurz bevor das Telefon klingelte in den Mund geschoben hatte.

„Und Mutti, stell du dir vor, das habe ich dir vor einer halben Stunde erzählt. Das kannst du also nur von mir wissen.“
Anna schwieg.

„Bist du noch da?“, fragte Lukas.
„Ja, aber ich kann das nicht glauben, dass ich das schon wieder vergessen habe.“

„Mutti, das ist überhaupt nicht schlimm. Dafür sind wir doch da. Um dir zu helfen, dich an das alles zu erinnern. Wie war denn dein Tag heute?“

„Ach, es war so schön auf dem Balkon bei mir. Die Sonne schien und die Blumen blühen. Es ist einfach herrlich.“
Anna hatte das alles Lukas schon vor einer halben Stunde erzählt, mit den gleichen Worten.

„Mutti, das ist doch wunderbar.“
Lukas hatte mal wieder die Kurve gekriegt.