Archiv der Kategorie: FAMILIENGESCHICHTE

Über die Sorgen und das Glück einer ganz normalen Familie im Alltag;
darüber, wie sich alle um Anna kümmern, den Mut und den Humor dabei nicht verlieren, das Schöne im Leben nicht übersehen.

KALENDERWOCHE 04 – DAS WAREN DIE BEITRÄGE

MEIN FREUND, DER ALLTAG

ALLTÄGLICHES-2022.01.29

SONNTAG, 23.01.2022 (KW 03)



KRÜMEL ZEIGT MIR, WAS GLÜCK IST UND BRINGT MICH AUF EINEN BIBELSPRUCH

https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/23/bibel-2022-01-23/
 MONTAG, 24.01.2022
BIBEL IM ALLTAG

ES KOMMT DARAUF AN, OB DU DEN ANDEREN ÜBERHAUPT VERSTEHEN WILLST 
https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/24/bibel-2022-01-24/
DIENSTAG, 25.01.2022
BIBEL IM ALLTAG

https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/25/bibel-2022-01-25/

MITTWOCH, 26.01.2022



NICHT IMMER NUR FITNESS-STUDIO, AUCH MAL WAS ANDERES  
https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/26/alltaegliches-2022-01-26/
DONNERSTAG, 27.01.2022

SCHREIB-ALLTAG

SPEZIALIST FÜR DAS BANALE IM ALLTAG SEIN

https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/27/schreib-alltag-2022-01-27/
FREITAG, 28.01.2022

ANNA IST DEMENT

‚ICH HELFE, WO ICH NUR KANN‘

https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/28/anna-2022-01-28/

 

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https://uwemuellererzaehlt.de/mein-freund-der-alltag/

‚ICH HELFE, WO ICH NUR KANN‘

ANNA

ANNA-2022.01.28

WAS BISHER WAR:

Schwester Beate schlief unruhig, seitdem Ulrike ihr vorgeschlagen hatte, die Leitung der Tagespflege zu übernehmen.
Was sollte sie tun? Das Angebot von Ulrike annehmen?

Eigentlich wollte sie nicht mehr Verantwortung übernehmen, sich mit den Kolleginnen herumstreiten oder vor dem Computer sitzen und die Planung für die nächsten Wochen aufstellen.

Aber sie hätte auch ihr ‚eigenes Reich‘, könnte sich kreativ entfalten, den Tagesgästen mit ihren Ideen ein paar schöne Momente am Tag bereiten.

Anna bekam von Klara einen Anruf.
„Ich sitze gerade in der Drogerie auf der Treppe“, sagte sie zu ihrer Tochter in einem Ton, der keinen Zweifel aufkommen lassen sollte, wo sie wirklich war.

Anna saß gerade in der Küche des ‚Betreuten Wohnens‘ während sie mit Klara telefonierte.

Klara sprach noch kurz mit Schwester Beate, die sich kurz darüber empört hatte, was Anna am Telefon von sich gegeben hatte: ‚Hier gibt’s kein Frühstück‘.

„Gibt es noch irgendwas, was ich wissen sollte oder was ich tun kann“, fragte Klara.

„Nein, im Prinzip nicht.“
„Vielleicht“, begann Schwester Beate und stockte, weil sie überlegte, wie sie es Annas Tochter sagen sollte.

„Ja?“, fragte Klara und wartete ab, was nun kommen würde.
„Ach wissen Sie, Ihre Mutter hat hier ganz schön zugelegt und ihr passen die Hosen gar nicht mehr, die in ihrem Schrank hängen“, sagte nun Beate.

„Gut, das mach‘ gern und kaufe ihr ein paar neue Hosen“, antwortete Klara, während Peter in den Raum kam.

„Ach, mein Mann kommt gerade herein. Meine Mutter unterhält sich so gern mit ihm.“

Peter wehrte sich, den Hörer zu übernehmen. Er wedelte lautlos mit den Händen, so als wolle er eine Boeing 747 zum Stoppen auffordern.

„Sind Sie noch dran?“, fragte Schwester Beate.
„Ja, ich übergebe mal“, sagte Klara und reichte Peter im gleichen Moment den Hörer.

Peter zog die Augenbrauen hoch, seufzte, so als würde er sich einen dicken Stoffballen aufladen müssen und wusste, dass er es nicht schaffen würde.

„Hallo?“, fragte er knapp.

„Ja guten Tag Peter, ich freue mich, dass ich auch mal höre.“
„Wie geht es dir?“, fragte Peter, ohne auf Annas Bemerkung einzugehen.

„Ach, mir geht es sehr gut. Die Sonne scheint, ich schaue auf das Meer. Das ist doch viel.“

Peter wunderte sich, dass Anna vom Meerblick sprach. Sie saß offensichtlich in der Küche und konnte von da aus gar nicht auf den Sund blicken.

„Was machst du so den ganzen Tag“, fragte er weiter, während Klara ihn mit einem Blick streifte, der wohl hieß: ‚Was fragst du sie, wo sie doch kaum weiß, was sie gerade in der letzten Minute getan hat.‘

Peter beschloss, Anna aufzumuntern. Er begann von Krümel zu erzählen.

„Stell dir vor, die Kleine war für eine ganze Woche bei uns und wir bekamen sie kaum gebändigt, so viel Energie hatte sie mitgebracht.“

„Ach, wie schön“, sagte Anna, wobei nicht ganz klar war, worauf sie das bezog.

„Morgens beim Frühstück“, da habe ich der Kleinen stets eine Geschichte erzählt, von einer Scheune, einem Esel, dem Hund ‚Bobby‘ und der Katze ‚Penni‘.

„Weißt du“, fing Anna an zu schwärmen, „ich war früher selber gern auf dem Hof von Onkel Gottfried.

‚Ich hätte Anna die gleiche Geschichte erzählen können‘, dachte Peter, nur dass Anna sich wesentlich weniger merken konnte.

Peter vergaß oft, den Hasen ‚Hoppel‘ zu erwähnen, was Krümel sofort anmahnte, „und Hoppel?“

„Hilfst du denn auch in der Küche mit?“, wechselte Peter das Thema.
„Oh ja, ich helfe, wo ich kann“, sagte Anna.

„Was machst du denn zum Beispiel in der Küche?“
Es entstand eine Pause, Anna wußte wohl nicht, was sie auf Peters Frage sagen sollte.

„Anna, du schnippelst doch viel“, war die Stimme von Schwester Beate aus dem Hintergrund zu hören.
„Ja, das stimmt, ich schnipple viel.“

„Schälst du Kartoffeln mit und wäscht du das Gemüse ab?“
Peter wollte Anna helfen, aber zwei Fragen in einem Satz, das war zu viel für Anna.

„Bestimmt putzt du viel das Gemüse.“
„Ja, das mach‘ ich“, kam es nun von Anna.
„Also ist auf dich Verlass“, sagte Peter.

„Das kann man wohl so sagen“, stimmte Anna zu.
Es war leicht, sich darüber lustig zu machen, aber Peter konnte das nicht.

Er hatte zwar seine eigene Art von Humor, jedoch an der Stelle half er lieber Anna, sich zu erinnern, zu sprechen, einfach sie aufzumuntern.
Peter verabschiedete sich von Anna.
„Es war so schön, dass du auch mal am Hörer warst“, sagte Anna zum Schluss.

Klara hatte das nicht gehört, und er wollte ihr davon nichts sagen, denn dann hätte er gleich einen Plan der Telefongespräche mit Anna aufstellen müssen.

Es war schon komisch. Bei Krümel bettelte er geradezu darum, ihr abends am Telefon eine ‚Gute Nacht Geschichte‘ erzählen zu können und hier musste er sich überwinden.

Aber wie würde es bei ihm sein, wenn er in der Lage von Anna wäre?
Würde Laura sich um ihn so kümmern, wie es Klara und er bei Anna taten?

Peter verdrängte den Gedanken, wollte sich nicht mit diesen Aussichten beschäftigen.

ANNA IST DEMENT

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KRÜMEL ZEIGT MIR, WAS GLÜCK IST UND BRINGT MICH AUF EINEN BIBELSPRUCH

BIBEL

BIBEL-2022.01.23

 „Wer auf das Wort merkt, der findet Glück; und wohl dem, der sich auf den Herrn verlässt!“
SPR 16,20

Dieser Satz brachte mich zurück in die Welt meiner vierjährigen Enkelin.

Sie ist so glücklich, wenn ich mit meinen Worten, unsortiert und ungeschliffen, über eine klapprige Scheune erzähle, in der ein Esel zu Hause ist, die Katze ‚Penni‘ und der Hund ‚Bobby‘.

Und durch den Schornstein kommt ‚Pipeva‘ geflogen, der kleine freche Spatz, der mit Ruß bedeckt aus dem Kamin klettert.

Krümel liebt diese Welt, die ich für sie beim Frühstück erschaffe.

Wie sehr sie darin lebt, in dem Moment jedenfalls, das merke ich, wenn sie sagt: „Erzähl‘ weiter, Opa.“

Als wir sie nach Hause fahren, da ruft sie von der Rückbank: „Opa, du musst anhalten und das Fenster herunterkurbeln, ‚Penni‘ will noch mitfahren.

Also halte ich an, öffne das Fenster und frage: „Ist ‚Penni‘ drin?“

„Ja, Opa, du kannst weiterfahren“, antwortet sie fröhlich.

Das sind die kleinen Augenblicke des Glücks für Krümel, ausgelöst durch einfache beschreibende Worte, und das macht mich wiederum glücklich.

BIBEL IM ALLTAG

 

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MEIN FREUND, DER ALLTAG

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MANCHES ÄNDERT SICH EBEN DOCH NICHT

ANNA

ANNA-2022.01.18

Dieser Beitrag stammt aus dem vergangenen Jahr, aus Januar 2021.
Hätte ich ihn auch zu Beginn dieses Jahres, also 2022, schreiben können?
Schon komisch, man sagt, die Welt verändert sich. Aber Manches bleibt wohl doch gleich, oder es wiederholt sich nur unter anderen Bedingungen.

 

ANNA IST DEMENT

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02. KALENDERWOCHE – DAS WAREN DIE BEITRÄGE

MEIN FREUND, DER ALLTAG

ALLTÄGLICHES-2022.01.15

 

BIBEL IM ALLTAG

SICH BEHERRSCHEN KOSTET KRAFT, LOHNT SICH ABER

VON DER TÄGLICHEN QUAL DES SICH ÜBERWINDENS UND DER FREUDE, ES GESCHAFFT ZU HABEN

ANNA IST DEMENT

ANNA IST DEMENT – RÜCKBLICKE

ANNA IST DEMENT

FRÜHSTÜCK GIBT’S HIER NICHT

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FRÜHSTÜCK GIBT’S HIER NICHT

ANNA

ANNA-2022.01.14

WAS BISHER WAR:
Schwester Ulrike hatte Beate angeboten, künftig die Leitung der Tagespflege zu übernehmen.
Beate sträubte sich zunächst gegen diesen Gedanken. Sie scheute die Verantwortung, traute sich nicht zu, für alles zuständig zu sein.
Sie hatte sich bei Ulrike Bedenkzeit ausgebeten.
Annas Demenz schritt weiter voran, langsam und dennoch unerbittlich.
Klara machte sich Sorgen, wie es mit ihr weitergehen sollte.

Beate schlief seit einigen Tagen nicht gerade gut und auch nicht viel.
Sie stand nachts auf, schlurfte in die Küche, machte lustlos die Kühlschranktür auf und schaute, was sie noch essen konnte um die Zeit, kurz vor Mitternacht.

Sie entdeckte einen Schokoladenpudding, nahm ihn heraus und setzte sich an den Küchentisch. Sie setzte sich nicht richtig, nur halb. Sie wollte nicht lang verweilen, sie wollte einfach nur müde werden, um wenigstens noch ein paar Stunden schlafen zu können.

Sie riss die Abdeckung vom Schokoladenpudding auf, leckte den ersten Pudding mit herausgestreckter Zunge von der Innenseite des Deckels, tauchte anschließend einen Plastiklöffel in den Pudding und steckte ihn in den Mund.

Der Schokoladenpudding schmeckte gut, aber Beate ärgerte sich schon, dass sie nicht standfest geblieben war, um nicht noch weiter zuzunehmen.

Was solle sie nur tun? Dem Angebot von Ulrike zustimmen und die Leitung der Tagespflege übernehmen?

Sie wusste es nicht. Sie wollte eigentlich nicht mehr Verantwortung übernehmen, sich mit den Kolleginnen herumstreiten oder vor dem Computer sitzen und die Planung für die nächsten Wochen aufstellen.

Aber sie hätte auch ihr eigenes Königreich, könnte sich verwirklichen, den Menschen aus dem Heim ein paar schöne Stunden am Tag bereiten.

Tat sie das nicht jetzt schon, den Tagesgästen Freude bereiten?
Schließlich hatte sie gerade Knut von der Insel Rügen für den Liederabend gewinnen können.

Sie sollte ihn fragen, was er davon hielt, dass sie künftig die Chefin der Tagespflege sein würde.
Beate schaute auf die Küchenuhr, die an der Wand hing und deren Ticken etwas Beruhigendes hatte.

Es war inzwischen kurz nach zwei Uhr Mitternacht. Beate erhob sich vom Suhl und ging aus der Küche zurück in ihr Schlafzimmer.
Sie legte sich hin, wälzte sich noch ein paar Mal umher und schlief schließlich ein.

Der Wecker machte einen ohrenbetäubenden Lärm und Beate schrak hoch, schnellte geradezu aus dem Bett?
Hatte sie verschlafen?

Ihr war, als wäre sie gerade erst eingenickt.
Es war bereits nach fünf Uhr und Beate hatte Frühdienst.
Sie machte sich hastig fertig und ging ohne Frühstück aus dem Haus.

Den Gedanken an die Tagespflege verdrängte sie und konzentrierte sich auf den Beginn des Tages mit den Bewohnern.

Als sie im Haus ankam und den Schlüssel heraussuchte, ging die Tür von innen auf und der Hausmeister kam ihr mit einem fröhlichen ‚Guten Morgen‘ entgegen.

„Schon so früh am Wirken?“, versuchte Beate lustig zu sein.
„Wie schnell ist Nacht und nichts gemacht“, erwiderte der Hausmeister und wünschte ihr noch einen schönen Tag.

‚Na, ich bin froh, wenn ich ihn überstehe, ohne irgendwo einzuschlafen‘, dachte Beate im Stillen.

Im Flur saß Anna, ungekämmt, ungewaschen und noch im Nachthemd.
„Anna, was ist los?“

„Ach, ich konnte nicht schlafen und da habe ich mich ein wenig hier hingesetzt und schaue zu, wie der Hausmeister gesaugt hat. Aber der kann ja arbeiten, so schnell und so sauber“, sagte sie.

„Na, dann wollen wir dich mal zurückbringen und dich gleich fertigmachen“, antwortete Beate.

Jetzt kam sie richtig in Stress. Sie müsste eigentlich sofort mit den Vorbereitungen für das Frühstück beginnen. Aber Anna war erst einmal wichtiger.

Irgendwie war Beate in ihrem Element. Die Müdigkeit war verflogen.

Anna bekommt morgens einen Anruf von Klara

Anna war frisch gekämmt, gewaschen und mit einem bequemen Kleid angezogen, das Beate ihr rausgelegt hatte.

Während Beate sich um das Frühstück kümmerte, saß Anna bereits wieder vorn, diesmal nicht im Flur, sondern in der Küche.

Sie konnte zusehen, wie die Pflegekräfte hin – und herliefen und die ersten Bewohner in der Küche eintrafen, um sich an ihren Platz zu setzen.

Das Telefon klingelte und Beate rief Anna zu:
„Deine Tochter Klara möchte dich sprechen.“
„Klara, wieso?“ Anna schien nicht zu wissen, wer mit ihr telefonieren wollte.

Dann wurde es ihr klar und ihr Gesicht hellte sich auf.
„Sturm“, sagte sie etwas förmlich, so als würde nicht ihre Tochter am anderen Ende der Leitung sein, sondern eine fremde Person, die mit ihr etwas Sachliches besprechen wollte.

„Wo bist du gerade?“, fragte Klara.

„Ach, ich sitze in der Drogerie auf der Treppe, auf der Offizierstreppe, weißt du?“, antwortete Klara.

Beate drehte sich verblüfft vom Herd um und schaute Anna fragend an.
Wusste Anna etwa nicht, dass sie im Heim war?
Klara aber ließ sich nicht beirren, sie wusste, wo Anna in Wirklichkeit war – in der Küche auf dem Stuhl vor ihrem Frühstückstisch.

Sie realisierte schnell, dass ihre Mutter in ihrer ganz eigenen Welt war. Sie wähnte sich auf Arbeit, in der Drogerie, in der sie mit 16 Jahren angefangen hatte und mit 60 Jahren ausgeschieden war.

Was sollte Klara davon halten?
Sollte sie traurig sein, dass ihre Mutter nicht mehr wusste, wo sie war?

Klara entschloss sich, es gut zu finden.
Wahrscheinlich fand Anna es aufregend, in der Küche zu sitzen und den Schwestern zuzusehen, wie sie umherliefen, Pillen verteilten und den Blutdruck überprüften.

„Habt ihr denn schon mit dem Frühstück angefangen?“, fragte Klara weiter.
„Nein, heute gibt es nichts“, sagte Anna.
„Natürlich gibt es gleich was zum Frühstück“, sagte Beate jetzt laut in Annas Telefonat hinein.

Sie war empört, dass Anna so etwas behauptete.
Was sollte die Tochter von Anna denken? Dass ihre Mutter nicht richtig verpflegt wurde?

Zur gleichen Zeit hätte Beate sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
Für einen Augenblick hatte sie ebenfalls vergessen, wie dement bereits Anna war.

„Und habt ihr denn viel zu tun, auf Arbeit?“, fragte Klara nun ihre Mutter.
„Naja, hier ist ganz schön was los“, sagte jetzt Anna.

„Mutti, gib‘ mir doch mal bitte Schwester Beate“, sagte Klara nun.
„Schwester Beate, guten Morgen, Frau Gerber. Entschuldigen Sie, aber das ist mir eben so rausgerutscht.“

„Ja, ich kann sie verstehen. Ich bin ja selbst so schockiert, dass Mutti manchmal schon so abwesend ist. Wie klappt es denn sonst?“

„Ach, Frau Gerber, wir haben hier alle ihre Mutti gern. Sie geht jetzt viel umher, fragt nicht mehr nach ihrer Wohnung und spricht gern mit anderen Bewohnerinnen. Nur mit dem Waschen, besser dem Duschen, da haben wir so unsere Schwierigkeiten.“

Klara seufzte anstelle einer Antwort.
Sie musste sich zurückerinnern, wie es war, als sie die letzten Mal ihre Mutter in der Wohnung besucht hatte und wie störrisch Anna da bereits gewesen war, wenn es darum ging, sich einmal gründlicher zu duschen oder gar zu baden.

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ANNA IST DEMENT

SICH BEHERRSCHEN KOSTET KRAFT, LOHNT SICH ABER

BIBEL

BIBEL-2022.01.10

„Eine linde Antwort stillt den Zorn; aber ein hartes Wort erregt Grimm.“
(Spr 15.1)

 

 

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MEIN FREUND, DER ALLTAG

 

 

01. KALENDERWOCHE – DAS WAREN DIE BEITRÄGE

MEIN FREUND, DER ALLTAG

ALLTÄGLICHES-2022.01.08

SONNTAG, 02.01.2022


WARUM ÜBER MENSCHEN IN DER PFLEGE SCHREIBEN

https://uwemuellererzaehlt.de/2022/01/02/menschen-im-alltag-2022-01-02/

MENSCHEN IM ALLTAG-2017-2021

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MONTAG, 03.01.2022

MIT WACHEN AUGEN DURCH SEINEN ALLTAG GEHEN

DIENSTAG, 04.01.2022

DAS WAREN DIE BEITRÄGE IM DEZEMBER 2021

MITTWOCH, 05.01.2022

MENSCHEN IM ALLTAG-2017-2021

DONNERSTAG, 06.01.2022

DER WANDKALENDER MIT FOTOS VON KRÜMEL

FREITAG, 07.01.2022

ANNA IST DEMENT

‚ICH BRAUCH‘ BEDENKZEIT‘

SAMSTAG, 08.01.2022

LAURA BILDET SICH MAL WIEDER WEITER 

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MEIN FREUND, DER ALLTAG

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‚ICH BRAUCH‘ BEDENKZEIT‘

ANNA

ANNA-2022.01.07

Was bisher war:
Knut, der ‚Hamburger‘ spielte die Lieder von Freddy Quinn und alle im Saal schunkelten mit.
Herbert, ein Mitbewohner, saß neben Anna und versuchte, sich ihr anzunähern.
Anna wies ihn brüsk zurück. „Wenn das Wilhelm sieht, dann bekommst du einen Kinnhaken…“
Nur das Wilhelm, der Mann von Anna, schon über 20 Jahre tot war.
Schwester Beate saß in der hinteren Reihe des Saals, während Knut auf dem Akkordeon spielte und die Gäste mitsummten.
Beate konnte nicht viel sehen, aber sie spürte, wie glücklich die Gäste in der Tagespflege waren, wenn sie für ein paar Stunden, dem ‚Betreuten Wohnen‘ entrinnen konnten.

Die Veranstaltung mit Knut, dem ‚Hamburger‘ war zu Ende und die Gäste klatschten begeistert Beifall.

Beate saß immer noch auf ihrem Stuhl und war gerührt, weil die Bewohner aus dem Haus ‚Sörensen‘ so eine schöne Abwechslung genießen konnten. Sie war froh, dass sie den Seemann Knut angesprochen hatte.

Herbert ging hinter Anna, als sie den Saal der Tagespflege verließen. Herbert war noch betroffen von dem Vorgang im Saal. War er tatsächlich zu weit gegangen, als er versucht hatte, den Arm um Anna zu legen?

Dabei wollte er doch nur ein wenig Gemütlichkeit aufkommen lassen, mit Anna schunkeln und Freude haben. Oder redete er sich das nur ein, und er verfolgte in Wirklichkeit mehr?

Er wusste es selbst nicht so richtig.
„Herbert, wo bleibst du denn?“, ertönte es vor ihm. Anna hatte sich zu ihm im Gehen umgedreht und rief den Namen Herbert so, als sei in Wahrheit ihr Wilhelm gemeint. Sie hatte den Vorgang von vorhin bereits wieder vergessen.

Herbert blieb vorsichtshalber doch hinter ihr. Wer wusste das schon, wie es gemeint war. Vielleicht kam Wilhelm doch noch um die Ecke und verpasste ihm einen Kinnhaken. Es passierten ja so viele merkwürdige Dinge.

„Hallo, ihr Lieben!“, rief Schwester Ulrike, die an der Tür stand, „war es schön?“

„Ach ja, so schön“, antwortete einige, während sie auf sie zugingen.
Schwester Ulrike blieb noch an der Tür stehen und wartete, bis Schwester Beate auftauchte.

„Beate, kannst du mal in mein Zimmer kommen?“, sprach Ulrike sie an.

„Ist irgendetwas passiert?“, fragte Beate sie verblüfft.
„Nein, nein, ich will mit dir nur in Ruhe etwas besprechen.“
„Ist gut, ich komme gleich, ich will nur sehen, dass alle wieder gut auf ihre Zimmer kommen“, sagte Beate noch.

Schwester Ulrike nickte und verschwand auf der Etage in ihrem Büro.
Sie hatte ihren Schreibtisch so gestellt, dass sie direkt auf den Sund schauen konnte, wenn sie daran saß und etwas erarbeiten musste.

Sie blickte hinaus und sah in der Ferne ein kleines weißes Schiff, das offensichtlich langsam vor sich hin tuckerte. Wahrscheinlich war es die Fähre, die die Leute nach Hiddensee brachte.

Sie sah viele weitere Boote, die aber eher wie kleine schwarze Punkte von ihrem Zimmer aus zu erspähen waren. Kleine Anglerboote, die auf dem Wasser schaukelten und auf Hering aus waren.

Es klopfte und Ulrike schreckte hoch.
„Ja bitte“, sagte sie etwas förmlich, obwohl sie wusste, dass es nur Beate sein konnte.

Sie kannten sich schon aus früheren Zeiten, eigentlich schon aus der Zeit, als beide noch im Sund-Krankenhaus als Krankenschwestern arbeiteten.

Sie mochten sich und sie respektierten sich gegenseitig, aber eine wirkliche Freundschaft war zwischen ihnen nicht entstanden.
Es war vielleicht besser so, denn nun war Ulrike die Vorgesetzte von Beate.

Ulrike war mehr die Macherin, die Managerin, die Abläufe planen und organisieren konnte, die es verstand, Menschen für sich einzunehmen.

Und Beate war immer eher auf der fachlichen Seite gewesen. Sie fühlte sich vor allem gern in Menschen ein, versuchte ihnen auch in ungewohnter Umgebung ein Gefühl von einem ‚Zuhause‘ zu geben.

Beate war froh, dass sie aus dem medizinischen Bereich des Krankenhauses in die Pflege gewechselt war, den Patienten noch näher sein konnte, nicht nur pflegerisch, sondern auch menschlich.

Ulrike schrak aus ihren Gedanken hoch, als es an ihrer Tür klopfte.
„Ja, bitte.“
„Da bin ich“, sagte Beate und trat vorsichtig ins Zimmer ein. Obwohl sich beide gut kannten, fühlte sich Beate nie ganz wohl, wenn sie zu ihrer Pflegedienstleitung gerufen wurde.

Es war in ihr drin, dieser Respekt, den sie nun mal vor jemandem hatte, der eine Leitungsfunktion ausübte.

„Bitte setz‘ dich doch, Beate“, sagte Ulrike freundlich.
„Kaffee?“
„Ja gern.“

Ulrike holte die bereitgestellten Tassen vor und goss aus der Thermoskanne den Kaffee ein.

„Danke“, sagte Beate, nachdem sie die Kaffeetasse entgegengenommen hatte.

Sie setzte an, um einen Schluck zu trinken und stellte fest, dass der Kaffee noch vom Morgen übriggeblieben sein musste.

Er hatte einen schalen Geschmack und war nicht mehr heiß.
Sie schluckte ihn runter, wie etwas, dem man nicht ausweichen konnte.

„Den Bewohnern schien es gut gefallen zu haben, mit dem ‚Hamburger‘ Knut?“

„Oh ja, ich habe ja hinten gesessen und konnte dadurch nicht alles erkennen, aber die Gäste haben mitgesungen, mitgeschunkelt und einige haben sich sogar untergehakt.“

„Wunderbar.“

„Das müssten wir des Öfteren veranstalten, und nicht nur das, sondern das Konzept für die Tagespflege erweitern.“

„Hm“, sagte Beate kurz und schaute Ulrike unentwegt an.
‚Worauf willst du hinaus?‘, schien sie zu denken.

„Sie hat mich doch nicht hierhergebeten, um mir das allzu Offensichtliche zu erklären, schoss es Beate durch den Kopf.

„Ich brauche dich als Leiterin der Tagespflege“, riss Ulrike sie aus ihren Gedanken.

„Mich?“
„Nein!“
„Doch!“, blieb Ulrike dabei.

Plötzlich war es still im Raum.
Ulrike ließ nicht den Blick von Beate und die wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

„Aber es gibt doch so viele gute und talentierte Kräfte, die außerdem noch viel jünger sind, als ich es bin“, wich Beate aus.

„Das mag schon sein, aber ich brauche dich als ein Fels in der Brandung, jemand, der entschlossen anpackt und auch die Richtung vorgeben kann.“

„Und das soll ausgerechnet ich sein?“, versuchte Beate, sich aus der Schlinge herauszuziehen.

„Beate, du bist kreativ, du hast für uns den Abend mit den Seemannsliedern organisiert. Die Leute spüren, dass du es ehrlich meinst mit ihnen. Sie fühlen sich bei dir geborgen.“

Das hatte Beate nun davon, dass sie sich wie ein Familienoberhaupt um ihre Gäste in der Tagespflege kümmerte und dabei noch vielen ihrer Kolleginnen im Stress zur Seite stand.

„Wir werden mehr tun müssen, was die fachgerechte Planung und Dokumentation anbetreffen.

Du siehst ja selbst, wie viel Zeit dafür draufgeht.
Und wir müssen umfangreiche Vorlagen und Materialien erarbeiten, die es uns erlauben, die Gäste noch individueller zu betreuen.“

Beate schwieg. Was sollte sie tun?
„Ich brauche Bedenkzeit“, sagte sie schließlich.

 

ANNA

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DAS WAREN DIE BEITRÄGE IM DEZEMBER 2021

MEIN FREUND, DER ALLTAG

ALLTÄGLICHES-2022.01.04

 KALENDERWOCHE 48

DAS WAREN DIE BEITRÄGE DER 48. KALENDERWOCHE

KALENDERWOCHE 49

DAS WAREN DIE BEITRÄGE IN DER 49. KALENDERWOCHE

KALENDERWOCHE 50

DAS WAREN DIE BEITRÄGE IN DER 50. KALENDERWOCHE

KALENDERWOCHE 51

DAS WAREN DIE BEITRÄGE IN DER 51. KALENDERWOCHE

KALENDERWOCHE 52

DAS WAREN DIE BEITRÄGE IN DER 52. KALENDERWOCHE

 

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MIT WACHEN AUGEN DURCH SEINEN ALLTAG GEHEN

BIBEL

BIBEL-2022.01.03

#BIBEL FÜR DEINEN ALLTAG

Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl.
(Ps 1,3)

Anmerkung:
„Der an einem Wasserlauf stehende Baum ist ein einprägsames Bild für das stets fruchtbringende Leben eines Menschen, der von der nie versiegenden Quelle des göttlichen Wortes getränkt wird.“ 
Vgl.: Der Psalter (Die Psalmen); Einführung, S. 658 
Stuttgarter Erklärungsbibel mit Apokryphen, Die Heilige Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers, mit Einführungen und Erklärungen; Deutsche Bibelgesellschaft. ISBN 978-3-438-01123-7 Neuausgabe mit Apokryphen © 2005 Deutsche Bibelgesellschaft Zweite, verbesserte Auflage 2007, 10.2016.

Was kannst du daraus für dich mitnehmen?

Stets mit offenen Augen durch das Leben gehen, nie aufhören, zu lernen, zu lesen, zu schreiben, sich die Erfahrungen anderer Menschen zunutze machen, auf eigene Erkenntnisse zurückgreifen, wenn es um wichtige Entscheidungen im Leben geht.

Nicht glauben, man wisse alles besser und die Erfahrungen der Generationen vor uns sind nichts wert. Umgekehrt denken und handeln – die aufgespürten und gesammelten Weisheiten aufnehmen, neu bewerten, weiterentwickeln.

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MEIN FREUND, DER ALLTAG

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DAS WAREN DIE BEITRÄGE IN DER 52. KALENDERWOCHE

ALLTÄGLICHES-2021.12.31

MONTAG, 27.12.2021

Bibel

DIE BIBEL ÜBER DEN SINN IM ALLTAGSLEBEN

DIENSTAG, 28.12.2021

GEDANKEN UND HERZ KLEBEN NOCH AM WEIHNACHTSBAUM

MITTWOCH, 29.12.2021

LERNEN BIS ANS LEBENSENDE? SCHON, ABER AUSGERECHNET DIESE VOKABELN?

DONNERSTAG, 30.12.2021

„OMA HAST DU AN MEINEN FINGER ‚GEDENKT‘?“

 

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DAS WAREN DIE BEITRÄGE IN DER 51. KALENDERWOCHE

ALLTÄGLICHES-2021.12.24

 

MONTAG, 20.12.2021

Bibel

BIBELSPRUCH FÜR DEN ALLTAG

DIENSTAG, 21.12.2021

KLARA IST DEN ERSTEN TAG IN RENTE

MITTWOCH, 22.12.2021

LIES ALICE MUNRO, DENN DAS BRINGT DICH WEITER – ALS LESER, ALS SCHREIBER, ALS MENSCH

DONNERSTAG, 23.12.2021

MARTINA LIPPERT – EIN LEBEN FÜR DIE PFLEGE

 

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DAS WAREN DIE BEITRÄGE IN DER 50. KALENDERWOCHE

ALLTÄGLICHES-2021.12.19

MONTAG – EIN BIBELSPRUCH ERLEICHTERT DIR DEN WOCHENSTART

MICHAEL JAKUBIAK – MIT HERZ, VERSTAND UND LEIDENSCHAFT SEIT ÜBER DREI JAHRZEHNTEN FÜR DIE PFLEGE

Bibel

BIBELSPRUCH FÜR DEN ALLTAG

Bibel

BIBELSPRUCH FÜR DEN ALLTAG

KLARA GEHT IN RENTE

 

SCHWESTER BEATE AUS DER TAGESPFLEGE

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SCHWESTER BEATE AUS DER TAGESPFLEGE

ANNA

ANNA-2021.12.18

Was bisher war: 
Anna saß in der Tagespflege ‚Du lebst im Moment'.
Sie lauschte den Klängen des Akkordeons.
Irma sang besonders laut mit.

Laut und falsch. Sie saß direkt hinter Anna, die sich empörte, dass Irma alle übertönte.

„Ist die ‚mall’?“, raunte sie Herbert zu, der neben ihr auf dem Stuhl Platz genommen hatte.
„Ein bisschen“, sagte der leise und griente sie an.

„So wie wir alle eben. Sie ist nur schon ein wenig weiter“, schob er noch hinterher.

Anna schaute ihn empört an. „Wieso sind wir ‚mall‘? Also ich nicht, ich will damit nichts zu tun haben.“

Knut, der ‚Hamburger‘, spielte gerade die Melodien von Freddy Quinn und alle im Saal schunkelten und sangen mit.

‚Seemann, deine Heimat ist das Meer‘, sang Knut mit tiefer Stimme und Anna seufzte mehr dazu, als dass sie mitsang.

„Ach, ist das schön!“, sagte sie und knüllte ihr Taschentuch zusammen, das sie in den Händen hielt. Herbert neben ihr rückte näher an sie heran und umfasste mit seinem linken Arm ihre Schulter.

Anna sah ihn fragend und verständnislos an.
„Wenn du nicht gleich loslässt, dann sage ich Wilhelm Bescheid, der kommt gleich wieder.“

Herbert zog erschrocken seinen Arm zurück und murmelte eine Entschuldigung.

„Bitte versteh‘ mich nicht falsch, ich wollte dich nur ein wenig trösten, du sahst so traurig aus.“

„Traurig, ich?“ Anna zog die Stimme hoch, sodass es pikiert klang.
„Du, wenn das Wilhelm sieht, dann bekommst du einen Kinnhaken, das hat er schon einmal gemacht mit seinem besten Freund, der sich an mich heranmachen wollte.“

„Kinnhaken?“, Herberts Gesichtszüge nahmen einen rätselhaften Ausdruck an.

„Wann soll das denn gewesen sein“, fragte er.
„Na beim Handball.“
„Aber das muss doch über sechzig Jahre her sein.“

Herbert ließ nicht locker.

„Ja, wir können ihn fragen, wenn er wieder hereinkommt.“
Herbert räusperte sich, kam mit dem Oberkörper ein Stück auf Anna zu und flüsterte fast, während Anna sich ein Stück in die andere Seite mit ihrem Oberkörper neigte.

„Anna“, sagte er, während sein Gesicht gefährlich nah an Anna herankam, „der Wilhelm, der ist doch längst tot.“

Anna sah ihn an und wurde schnippisch: „Na, das werden wir ja nun sehen. Wart’s nur ab, er kommt gleich wieder. Wo er nur bleibt!“

Anna ließ sich nicht beirren und schaute wieder auf Knut, der inzwischen ‚Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins, ob du ein Mädel hast oder auch keins…‘ intonierte.

Anna laut mit und übertönte mit ihrer Stimme sogar Irma.
Schwester Beate saß in der hinteren Reihe des Saals, während Knut vorn Akkordeon spielte und die Bewohner dazu hingebungsvoll mitsangen und mitschunkelten.

Sie konnte hinten nicht viel sehen, aber sie spürte, wie glücklich Anna und all die anderen waren.

Sie musste an ihren Dozenten denken, der ihr gesagt hatte, was das Wichtigste am Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen sei:

„Wir wollen den Menschen dabei helfen, mit ihrer Demenz umzugehen. Sie sollten alles aus sich herausholen können, was in ihnen drin ist, was sie nutzen können, um den Moment zu genießen.“
Schwester Beate ist 1,65 cm groß, ein wenig übergewichtig, aber immer noch gutaussehend.

Sie hatte ihre brünetten Haare nach hinten gekämmt und dort zusammengebunden, das ihr eine gewisse Strenge im Aussehen verlieh.

Sie hatte ihren Beruf von der Pike auf gelernt. Beate absolvierte die Schwesternschule, die direkt am Sund gelegen war und machte ihr Praktikum im Sund-Krankenhaus.

Sie war geschieden und hatte einen Sohn und eine Tochter, die beide verheiratet und nach Hamburg gezogen waren.
Beate war manchmal einsam, aber ihr Beruf nahm sie voll in Anspruch.

Sie war Jahrzehnte als OP-Schwester tätig gewesen und wollte vor einigen Jahren noch einmal etwas Neues beginnen, eine Tätigkeit ausüben, die sie mit mehr Menschen zusammenbrachte.

Schwester Beate qualifizierte sich zur staatlich anerkannten Altenpflegerin weiter. Später hängte sie noch eine Weiterbildung für die Betreuung von demenzkranken Menschen ran.

Nun war sie schon für ein paar Jahre in der Senioreneinrichtung ‚Sörensen‘, im Bereich des ‚Betreuten Wohnens‘.
Immer mehr wurde sie auch in der Tagespflege eingesetzt.

ANNA IST DEMENT

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DIE IST DOCH ‚MALL‘

ANNA-2021.12.11

WAS BISHER WAR:
Anna hatte in der Nacht unruhig geschlafen, der Sturm war heftig gewesen und hatte mit unbändiger Kraft an den Fenstern und Rollläden des Hauses gerüttelt. 
Sie war aufgestanden, auf dem Flur umhergegeistert und schließlich wieder eingeschlafen, nachdem sie von der Nachtschwester zurück ins Bett gebracht worden war.
Am nächsten Tag wusste sie von alledem nichts mehr.
Sie ging nach dem Frühstück gemeinsam mit Herbert, einem Mitbewohner, hinunter zur Tagespflege.

Anna fühlte sich in eine andere Welt versetzt. Sie hörte von Weitem die Klänge des Akkordeons und tanzte auf dem Weg zu ihrem Platz ein wenig mit.

Dazu hatte sie die Arme angehoben und schwang sie leicht hin- und her, so als wolle sie dem Spieler den Takt vorgeben.

Am Akkordeon war Knut intensiv damit beschäftigt, die Melodie des Liedes „An der Nordseeküste …“ zu spielen.

Knut wurde von allen der ‚Hamburger‘ genannt. Dabei stammte er ursprünglich aus Schwerin, hatte dort in seiner Jugend die Schule und Ausbildung absolviert und sich später in den Westen abgesetzt.

Er heuerte als Leichtmatrose auf einem Frachtschiff an und schaffte es auf der Karriereleiter bis zum Bootsmann.

Seine Frau Helene stammte von Rügen und so zog er nach der Wende nach Saßnitz.

Als sie starb, fiel er in ein tiefes Loch, bis Schwester Beate von der Tagespflege ihn ansprach.

Sie hatte ihn in einer Kneipe in Alt-Saßnitz spielen hören.

Knut gefiel ihr. Nicht nur, weil er Seemannslieder spielte, sondern auch, weil er aussah wie ein Seebär.

Ein kantiges Gesicht, das von einem weißen Bart eingerahmt war, breite Schultern und Hände, die nicht vermuten ließen, dass er überhaupt die Tasten am Akkordeon erwischen konnte und noch dazu die richtigen Töne herausbrachte.

Beate überzeugte ihn, einmal in der Woche in der Tagespflege in Stralsund zu spielen.

Für Knut war das eine willkommene Abwechslung. Und so fuhr er mit seinem alten Opel donnerstags nach Stralsund, in die Pflegeeinrichtung ‚Sörensen`, besser gesagt, in die angeschlossene Tagespflege ‚Du lebst im Moment‘.

Für Schwester Beate ging damit ein langgehegter Wunsch in Erfüllung. Sie wollte ihren Tagesgästen nicht nur Spiele und Bastelarbeiten bieten, sondern auch Unterhaltung.

Die Frauen und Männer, die auf den Stühlen saßen und dem Seemann zuhörten, summten und schunkelten mit.

Irma sang besonders laut mit.

Laut und falsch. Sie saß direkt hinter Anna, die sich empörte, dass Irma alle übertönte.

„Ist die ‚mall’?“, raunte sie Herbert zu, der neben ihr auf dem Stuhl Platz genommen hatte.

„Ein bisschen“, sagte der leise und griente sie an.

„So wie wir alle eben. Sie ist nur schon ein wenig weiter“, schob er noch hinterher.

Anna schaute ihn empört an. „Wieso sind wir ‚mall‘? Also ich nicht, ich will damit nichts zu tun haben.“

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AUDIO-‚MUTTI‘ MUSS STAUBSAUGEN

ANNA-2021.11.23

WIE DIE KRANKHEIT DAS GESAMTE UMFELD DER FAMILIE VERÄNDERTE, SCHLEICHEND, FAST UNAUFFÄLLIG

Der Alltag ging weiter, aber irgendwie und irgendwo war Annas Demenz auch immer mit dabei.
Anna hatte ein verstaubtes Bild von der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Und sie liess sich davon nicht mehr abbringen. Jetzt, nach ihrer Krankheit, erst recht nicht mehr.

 

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‚LEINEN LOS‘ – ANNAS NEUES ZUHAUSE IM BETREUTEN WOHNEN

ANNA-2021.10.15

Rückblick: 
Peter und Klara haben Anna in der Kurzzeitpflege für einige Tage untergebracht.
Sie waren erleichtert, dass alles reibungslos und ohne größeren Widerstand von Anna geklappt hatte.

Peter und Klara waren wieder in Annas Wohnung angekommen. Es war komisch, dass Anna nicht mehr da war.

Aber Lukas ließ ihnen keine Zeit, groß darüber nachzudenken.
Die Schränke warteten darauf, auseinander gebaut zu werden. Ein Teil der Anbauwand sollte wieder in Annas Zimmer im ‚Betreuten Wohnen‘ aufgestellt werden.

„Ich werde verrückt“, sagte Klara, nachdem sie alle Kleidungsstücke auf das Bett geworfen hatte.

Blusen, Röcke, Kleider, Hosenanzüge, Kostüme stapelten sich auf dem Bett.

„Ich könnte heulen, wie soll ich hier zwischendurch finden?“, beklagte sie sich.

„Wir machen es so, wie auf dem Londoner Flughafen, als es zu einem Chaos wegen des Gepäcks kam. Da wurde alles nach Italien geflogen, dort sortiert und anschließend geordnet zurücktransportiert“, schlug Peter vor.

„Auf so eine blöde Idee kannst auch nur du kommen“, antwortete Klara.
Peter reagierte nicht, sondern schnappte sich einen Packen von den Kleidern und schleppte sie einfach ins Wohnzimmer. Nach und nach wurde der Haufen auf Annas Bett im Schlafzimmer kleiner und gleichzeitig wuchs er im Wohnzimmer an.

Peter trug nun die Sachen, einzeln und schon vorsortiert nach Hosenanzügen oder Kleidern zu Klara ins Schlafzimmer zurück.
Sie hatte eingesehen, dass Peters Idee doch nicht so schlecht war.
Montagfrüh.

Die Umzugsfirma kam und transportierte die ersten Möbel aus der Wohnung, um sie anschließend wieder im ‚Betreuten Wohnen‘ auszuladen.

Lukas und Peter schwitzten den ganzen Tag, bis sie alles an ihrem Platz hatten- ein Teil der Anbauwand stand links von der Tür. An der hinteren Wand hatten sie den Schlafzimmerschrank aufgebaut, wieder nur einen Teil, den aber mit Türen aus Spiegelglas versehen.

Es sah gut aus, und als Klara noch die Bilder an die Wand hängte und die Anbauwand mit Annas Sachen dekorierte, da kam Gemütlichkeit im Zimmer auf.

Ein paar Tage später war es so weit. Klara und Peter holten Anna aus der Kurzzeitpflege ab.
„Ach, ich freue mich so, dass ich wieder nach Hause komme“, sagte Anna.

Klara und Peter schwiegen.
Was würde wohl Anna sagen, wenn sie nicht vor ihrem Haus hielten, sondern in der Einrichtung am Strelasund?

„Du fährst in die falsche Richtung“, riss Klara Peter aus seinen Gedanken.

„Wieso? Hier geht’s doch zu Annas Wohnung“, sagte Peter.
Und im selben Moment fiel ihm ein, dass es genau in die entgegengesetzte Fahrtrichtung gehen musste.

Er wendete das Auto und sagte zu Klara: „Sorry, meine Schuld.“
„Was ist deine Schuld?“, fragte Anna.
„Ach nichts, ich habe nur nicht daran gedacht, dass wir einen Umweg fahren müssen.“

Peter lag dabei nicht einmal falsch, denn Annas neues Zuhause befand sich ja tatsächlich ein Stückchen weiter vom Stadtinneren entfernt.

Sie näherten sich dem Tor, das nur mit einem Code geöffnet werden konnte. Es stand offen, weil gerade ein Auto der Tagespflege durchgefahren war.

Klara und Peter schwiegen, sie waren angespannt.
„Wie geht es der Kleinen?“, fragte Anna nun.

„Ach, die ist so niedlich“, sagte Peter erleichtert und erzählte ihr, wie gern er mit Krümel auf dem Fußboden im Wohnzimmer saß und mit ihr gemeinsam mit den Autos spielte.

Anna war angetan, lachte und hörte gespannt zu, was Peter ihr erzählte.

So sehr es Klara nervte, wenn er ihr morgens die neuesten Wertungen der Politik versuchte nahezubringen. In dem Moment war sie ihm dankbar, dass er Anna mit seinen Worten fesseln konnte.

Sie hatten das Haus ‚Sörensen‘ endgültig erreicht.
Sie stiegen in den Fahrstuhl, fuhren in den 5. Stock und wurden von der Schwester freundlich begrüsst.

Anna war still und ließ alles über sich ergehen.
„Wir wollen uns erst einmal das Zimmer ansehen“, sagte Klara.
„Welches Zimmer?“, fragte Anna sofort nach.
„Mutti, du musst mal ein paar Tage hier zur Beobachtung bleiben“, sagte Klara zu ihr.

„Wer sagt das?“
„Dr. Silberfisch.“
„Der spinnt ja wohl!“, entgegnete Anna entrüstet.
„Sollen wir ihm das so übermitteln?“, fragte Peter und Klara stieß ihm von hinten ihre Hand in seinen Rücken.
„Na, das muss man ja wohl nicht machen“, sagte Anna.

„Und wer hat hier eigentlich meine Möbel reingebracht?“, fragte Anna.
„Das waren wir. Und wir haben auch deine Fotoalben mitgebracht“, sagte Peter weiter.
„Wollen wir uns die mal anschauen?“
„Die kenn‘ ich ja“, antwortete Anna trotzig.

„Guck mal hier. Was steht denn da?“
Anna schaute auf die Fotos in der ersten Seite und auf das, was sie danebengeschrieben hatte.

Das machte Anna vor Jahren mit großer Leidenschaft, die Bilder einkleben und notieren, wo sie gerade waren, ob der Kapitän des Schiffes einen Empfang gegeben hatte oder wie weit Petersburg von Rostock entfernt war.

„Leinen los“, rief Anna plötzlich mit einer fröhlichen Energie, dass Peter das Album vor Schreck fast von seinem Knie rutschte.
Anna und Peter waren beide in das Album vertieft.

Sie steuerten in ihrer Phantasie die offene See an, eine neue Welt, die Anna nun kennenlernen würde, während Klara Annas Taschen mit den Sachen auspackte und in den Schränken verstaute.

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ANNA GEHT IN DIE KURZZEITPFLEGE

ANNA-2021.10.08

Klara und Peter wachten im Gasthof ‚Soljanka‘ auf.
Sie checkten im Gasthof aus, und wollten abends in Annas Wohnung übernachten.
Vorher aber mussten sie Anna in die Kurzzeitpflege bringen. Der Arzt Dr. Silberfisch hatte ihnen dazu geraten.
Nur wusste keiner, wie sie es schaffen sollten, Anna dazu zu bewegen, aus ihrer Wohnung zu gehen.

Klara und Peter hatten die zweite Nacht besser geschlafen. Die Autos, die auf der Strasse vor dem Hotel vorbeiratterten, nahmen sie nicht mehr so deutlich wahr, wie es in der ersten Nacht der Fall gewesen war.

„Mir ist nicht wohl dabei, wenn ich an den heutigen Tag denke.“
„Geht mir genauso“, sagte Peter, während er in sein iPad schaute.
„Aber wir müssen da jetzt durch, wir haben keine Wahl.“

Beide schwiegen, während sie im Auto sassen und zu Annas Wohnung fuhren.

Als sie angekommen waren und vor Annas Tür standen, drückte Klara auf den Klingelknopf und holte vorsichtshalber schon mal den Wohnungsschlüssel aus aus ihrer Handtasche.

Die Tür ging auf und Anna schaute Klara und Peter mit weit aufgerissenen Augen an.

„Was wollt ihr denn hier?“, schleuderte sie den beiden entgegen.
„Guten Morgen, schön dich zu sehen“, sagte Peter übergangslos.
„Wir wollen dich abholen, damit wir eine kleine Fahrt durch Stralsund machen können“, entgegnete Peter.
„Hast du Lust dazu?“, fragte er gleich noch hinterher.
„Ja“, sagte Anna.

„Na bitte, dann freuen wir uns auf einen schönen Tag“, meinte Peter, während er Klara zuzwinkerte.
Anna antwortete nicht.

„Warum seid ihr hier?“, fragte sie stattdessen erneut.
„Wir wollen mit dir einen schönen Ausflug machen“, wiederholte Peter, ohne darauf einzugehen, dass Anna die Frage schon einmal gestellt hatte, ein paar Minuten zuvor.

Peter ging ins Wohnzimmer, schlug die Ostseezeitung auf und überflog flüchtig die Schlagzeilen. Aus dem Schlafzimmer hörte er, wie Anna sich sträubte, auch nur irgendein Kleidungstück anzuziehen.

„Mutti, wir können doch nicht so mit dir auf die Straße gehen“, sagte Klara zu ihr.

„Wieso auf die Straße, was soll ich da?“, fragte jetzt Anna erneut.
„Ich geh‘ schon mal zum Auto runter und warte dort auf euch“, sagte Peter.

Klara fragte ihn noch leise, ob er die Taschen vom Dachboden mit hinunternehmen würde.

Peter nickte und ging zur Tür hinaus. Er holte die Taschen vom Dachboden und begab sich zum Auto.

Klara hatte sie einen Tag zuvor dort deponiert, damit Anna sie nicht fand und wieder auspackte.

Es verging noch eine weitere Stunde, bevor Anna in der Hauseingangstür auftauchte.

Peter war sichtlich erleichtert. Der erste Schritt war getan.
„So, jetzt machen wir eine schöne Hafenrundfahrt und anschließend fahren wir in Richtung Sund-Krankenhaus“, sagte Peter, als Anna endlich im Auto saß.

Anna sagte nichts.
Sie fuhren durch die Stadt und Peter hielt in der Nähe des Hafens an.
„Kommen hier Erinnerungen an deine Kindheit hoch?“, fragte Peter.
„Ja, und wie“, sagte Anna.

„Guck mal, da lagen früher viel mehr Fischerboote und wir haben dort sehr gern als Kinder gespielt und beobachtet, wie die Fischer ihre Ware auf die Pier hievten“, erklärte Anna und lebte dabei zusehends auf.

Klara und Peter waren sichtlich erleichtert, dass Anna gute Laune zu haben schien.

Peter fuhr wortlos in Richtung Sund-Krankenhaus weiter und suchte einen geeigneten Parkplatz.
Klara war ihrer Mutter beim Aussteigen behilflich.

„Es ist besser, ich hole das Gepäck später aus dem Auto“, sagte Peter leise zu Klara.

In der Anmeldung zur Kurzzeitpflege wartete Peter gemeinsam mit Anna auf Klara, die in der Information fragen wollte, wo sie sich melden sollten.

„Was macht Klara da?“, fragte Anna.
„Du, ich habe keine Ahnung“, sagte Peter ausweichend.
Es war ihm unangenehm, dass er nicht die Wahrheit mit Anna besprechen konnte.

Dass es für sie besser wäre, nicht mehr Zuhause allein zu wohnen, und dass sie übergangsweise für ein paar Tage in der Kurzzeitpflege sein müsste.

Doch das hätte alles gefährdet. Der Arzt und das Pflegepersonal hatten ihnen abgeraten, alles zu erklären, sondern lieber eine Wahrheit zu sagen, die Anna auch akzeptieren könnte.

Ein schwieriger Akt, den man erst vollends begriff, wenn man selbst die Verantwortung dafür tragen musste.
Klara kam schnell wieder. Sie fuhren in die dritte Etage.

„Ach das ist ja wunderbar, Frau Sturm, dass Sie so pünktlich kommen“, sagte die Schwester.

„Was will die von mir?“, fragte Anna ihre Tochter, ohne auf die Begrüßungsworte der Schwester einzugehen.

„Ich bin Schwester Erika. Frau Sturm, kommen Sie doch gleich mal mit. Es gibt jetzt Mittagessen“, sagte die zu Anna.

„Was gibt’s denn?“, fragte Anna.
„Rouladen mit Rotkohl.“

Es war eines der Lieblingsgerichte von Anna.
Sie hakte sich wortlos bei Schwester Erika ein und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, in Richtung Speisesaal mit.

Klara und Peter waren verblüfft, aber vor allem froh, dass alles so reibungslos geklappt hatte.

Peter hastete zum Auto und holte Annas Gepäck.
Klara sortierte Annas Sachen aus dem Koffer gleich in den Schrank im Zimmer von Anna ein.

Es war ein Einzelzimmer, modern eingerichtet, mit eigener Toilette und Duschtrakt.

„Hättest du gedacht, dass wir das so gut hinbekommen?“, fragte Peter auf der Rückfahrt.

„Nie im Leben“, sagte Klara. Man merkte ihr an, wie erleichtert sie war.

In Annas Wohnung angekommen, blieb ihnen nicht viel Zeit, zu verschnaufen.

Die Schränke mussten ausgeräumt und die Sachen aussortiert werden, die Anna mit ins ‚Betreute Wohnen‘ mitnehmen sollte.

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DIE DEMENZ VON ANNA SCHRITT FORT – JEDER WUSSTE ES UND KEINER WOLLTE ES WIRKLICH WAHRHABEN

2. überarbeitete Auflage
ANNA-2021.10.07

Oktober 2021. Anna ist seit einem Monat im Betreuten Wohnen „Sörensen“ am Strelasund untergebracht.
Es scheint noch, als wäre das alles noch nicht passiert und Anna würde noch in ihrer Wohnung leben. Das war ein langer Prozess, bis alle begriffen, dass es nicht mehr lange so weitergehen konnte, dass Anna einfach allein weiterlebte.
Vor einem Jahr schienen es alle zu ahnen, aber handeln mochte da noch keiner.

 

KLARA WOLLTE IHRER MUTTER BEIM PUTZEN HELFEN
Klara klingelte an der Tür ihrer Mutter.
Es dauerte eine Weile, bis Anna die Tür öffnete.
Sie hatte sich ein wenig auf die Couch gelegt, obwohl es erst gegen neun Uhr am Morgen war.

„Wieso bist du hier in Stralsund und nicht in Berlin?“, fragte sie ihre Tochter.

„Mutti, ich bin seit Sonntag in Stralsund, und Montag habe ich dir gesagt, dass ich am Mittwoch wiederkomme, um deine Fenster zu putzen“, sagte Klara zu ihr.

Klara und Peter hatten sich ein paar Tage freigenommen, um ein wenig auszuspannen, gemeinsam mit Laura und Krümel. Klara nutzte den Aufenthalt, um Lukas zu entlasten und in Annas Wohnung beim gründlicheren Saubermachen zu helfen.

„Mittwoch?“, fragte Anna.
„Ja, Mittwoch ist heute.“
„Aber wieso sagt mit das keiner?“
Klara entgegnete darauf nichts, denn sie hatte nicht mehr die seelische Kraft, auf alle Fragen ihrer Mutter zu antworten.

Der Vormittag verging wie im Flug, obwohl sich Anna nach Kräften dagegen wehrte, dass ihre Tochter in ihrer Wohnung das Zepter übernahm.

Doch Klara hatte es gelernt, sich gegen ihre Mutter durchzusetzen, denn nur so konnte sie ihr wirklich helfen.
Und als Anna sah, wie ihre Fenster nach und nach sauber in der Sonne blinkten, da war sie ruhig und fand das alles recht schön.

KLARA LUD ANNA ZUM KAFFEETRINKEN MIT DER FAMILIE EIN
Am Nachmittag wollte sich die Familie versammeln, um gemeinsam Kaffee zu trinken.

Anna wollte sich nicht umziehen, sie wollte gar nichts und sich am liebsten auf die Couch schmeißen, wie sie ununterbrochen zu Klara sagte.

„Warum soll ich das Kostüm anziehen, gehen wir zu einer Hochzeit?“
Anna konnte sehr spöttisch reagieren, wenn ihr irgendetwas nicht in den Kram passte.

Annas Charakter hatte sich in letzter Zeit ins Gegenteil von dem verkehrt, was sie einmal ausmachte, ihre Güte, ihr bescheidenes Wesen, aber all das schien die Demenz in ihr allmählich auszulöschen.

Klara hatte es schließlich geschafft, Anna davon zu überzeugen, dass sie sich umzog und mit ihr nach draußen kam.
Unten wartete bereits Peter im Auto auf Anna und Klara.

„Oh, du siehst wirklich gut aus“, rief Peter schon von weitem Anna entgegen.

„So sind wir das gewohnt, wenn wir ausgehen“, antwortete Anna selbstbewusst, so als hätte sie sich nicht noch vor wenigen Augenblicken dagegengestemmt, das Kostüm auch nur aus dem Schrank zu holen.

KRÜMEL TURNT ZWISCHEN DEN STÜHLEN IM RESTAURANT UMHER
Sie fuhren zum größten Hotel in der Stadt.
In dem Saal, in dem die Plätze reserviert waren, saß kein Gast. Corona hatte auch Stralsund fest im Griff.

„Wozu haben wir überhaupt Plätze reserviert?“, fragte Peter.
Sie setzten sich trotzdem an den Tisch, der für sie vorgemerkt war. Krümel fand das alles herrlich.

Sie turnte zwischen den leeren Stühlen und Tischen hin- und her und juchzte vor Freude.

Inzwischen hatten am Tisch gegenüber zwei Gäste Platz genommen. Ausgerechnet in unmittelbarer Nachbarschaft des reservierten Tisches.

Es war ein Ehepaar, beide um die 70 Jahre herum. Der Mann sah brummig aus. Er schaute immer grimmiger, weil Krümel ausgelassen weiter umherlief und laut sang.

Peter erinnerte sich an seine eigene Kindheit, Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Eltern es auch nur im Ansatz zugelassen hätten, dass sie als Kinder so durch die Stuhlreihen eines Lokals hätten toben dürfen.

Aber Peter genoss gerade den Gedanken, dass seine Enkelin ausgelassen und fröhlich sein durfte, so ganz ohne Furcht.

Also blickte er zu dem Mann herüber, der Krümel mit finsterer Miene beobachtete. Peter fixierte ihn mit einem Blick, der keine Missverständnisse aufkommen ließ: ‚Sag‘ nur ein böses Wort zu der Kleinen und du wirst es bereuen.‘

Der Mann knickte ein, denn er schaute weg und seine Gesichtszüge lösten sich auf, fast hin zu einem gemütlichen Ausdruck.
Peter schaute nun seinerseits zu Krümel und lockte sie mit einem kleinen Spielzeughund, den er mitführte, an den Tisch zurück.

ANNA SCHIEN MIT IHREN GEDANKEN NICHT BEI DER SACHE ZU SEIN
Anna beobachtete das ganze Treiben ein wenig distanziert, so als würde sie gar nicht dazugehören.

Die Kellnerin kam an den Tisch und fragte, ob die Gäste schon Kuchen ausgesucht hätten.

„Ja, antwortete Klara. Meine Mutter und ich, wir wollen Frankfurter Kranz.“
„Ich auch“, sagte Peter.
„Ich auch“, rief Laura.
„Und was soll ich essen?“, fragte Anna in die Runde. Die Kellnerin schaute irritiert.
„Ihre Tochter hat für sie bereits mitbestellt“, sagte sie.

„Wieso bestellt sie einfach was für mich mit?“, tat Anna entrüstet.
„Weil wir dich eben gefragt haben, was du für einen Kuchen willst und du dich genau dafür entschieden hast, Mutti.“
Klara kochte innerlich, dass Anna so ein Theater vor der Kellnerin abzog.

„Ja gut, dann nehm‘ ich den auch“, sagte Anna.
Wenig später kamen der Kaffee und der Kuchen an den Tisch.
Krümel hing zwischen Peter und Klara und spielte mit dem Hund, während Klara versuchte, ihr zwischendurch ein Stück Kuchen in den Mund zu schieben.

„Da sind wir ja heute wieder auf der steilen Diätkurve“, sagte Peter.
Keiner antwortete ihm und Klara warf ihm einen Blick zu, der hieß: ‚Sei bloß still, oder ich platze vor Wut.‘

Peter wandte sich wieder Krümel zu und beide spielten mit dem kleinen Spielzeughund, bis die Tischdecke immer mehr verrutschte und Klara Peter einen warnenden Blick zuwarf, den Peter aber geflissentlich ignorierte.

ANNA WEISS NICHT MEHR, WIESO SIE GERADE DIESES STÜCK KUCHEN BESTELLT HATTE
„Wieso habe ich so ein Stück Kuchen?“, fragte nun Anna in die Runde mit vollem Mund.

Klara schien ihren Ohren nicht zu trauen.
„Weil wir ihn für dich bestellt haben und du ihn dir gewünscht hast“, sagte Peter schnell, bevor Lukas oder Klara etwas Unbedachtes antworteten.

„Schmeckt dir denn der Kuchen?“, fragte nun Lukas.
„Ja, sehr gut“, antwortete Anna.

Ein paar Minuten war es ruhig am Tisch. Nur Krümel war zu hören, die den Spielzeughund triezte.

„Wieso habe ich dieses Stück Kuchen bestellt?“, erklang erneut die Stimme von Anna.

„Weil er dir besonders gut schmeckt“, sagte Peter nun.
„Ja, das ist wahr, der schmeckt mir sehr gut“, antwortete Anna.

WIE SOLLTE ES NUR MIT ANNA WEITERGEHEN
Der Nachmittag war schön, Anna gehörte zur Familie, sie würde immer dazugehören, ganz besonders jetzt, wo die Krankheit fortschritt.

Nach dem Kaffee brachten Peter und Klara Anna gemeinsam nach Hause.
Anna stand noch auf dem Balkon und winkte zum Abschied.
Ein vertrautes Bild, aber auch ein trauriges Bild.

„Denk‘ nicht an das, was kommt, denk‘ an den schönen Moment, den wir Anna heute Nachmittag verschafft haben“, sagte Peter. Klara nickte kurz und blickte traurig aus dem Fenster des Autos.

„Ich weiß gar nicht, ob Mutti das alles noch so schön empfindet, wie wir denken. Oder ob es nicht viel mehr ihre ohnehin gedankliche Alltagsstruktur durcheinanderbringt“, setzte Peter noch nach.

Klara schwieg, denn sie wusste es auch nicht. Und sie wusste vor allem nicht, wie es in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen sollte.

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ANNA IST DEMENT – RÜCKBLICK UND VORSCHAU

ANNA-2021.10.02

DER TAG NACH DER ANREISE IM GASTHOF

Die Nacht im Dorfgasthaus war schnell vorüber. Klara und Peter hatten unruhig geschlafen.
Vor dem Hotel verlief die Straße abschüssig und die Autos donnerten darauf mit einem ohrenbetäubenden Lärme vorbei, auf Kopfsteinpflaster.

DAS FRÜHSTÜCK
Im Frühstücksraum kam ihnen eine ältere Mitarbeiterin entgegen, die sie freundlich mit einem ‚Guten Morgen‘ begrüßte.

„Hier am Büfett ist alles aufgebaut, den Kaffee bringe ich gleich.“
„Soljanka auch?“, fragte Peter. Klara stand hinter ihm und stieß ihm mit der Hand in den Rücken.

„Die können Sie sehr gern haben, hier gibt es aber auch frisch gepressten Orangensaft, ein wenig Haferkleie und Obst“, sagte die Mitarbeiterin und fixierte Peters Bauch.

‚Haferkleie, die esse ich zuhause‘, dachte Peter.
„Wunderbar, dann kann der Tag ja nur gut werden“, antwortete Peter laut und ging schnurstracks auf den Behälter mit dem Rührei zu.

KLARA FUHR ZU ANNA, PETER BLIEB IM HOTEL
Nach dem Frühstück fuhren beide nach Stralsund rein, zu Annas Wohnung.

Peter begab sich danach sofort zurück zum Hotel, holte seine Arbeitssachen heraus und begann sich auf dem kleinen Tisch einzurichten.

Zuerst musste der Fernseher beiseite gerückt werden, damit das iPad und die Tastatur Platz fanden.
Er hatte seine Sachen in der Tasche verstaut, die er täglich mit ins Fitness-Studio nahm.

Jetzt lagen dort Bleistifte, Papier, Klebestifte, Kabel für das iPad und Unterlagen für Annas Kurzzeitpflege drin. Sie rutschten von einer Seite auf die andere und Peter erfühlte mehr das, was er brauchte, als dass er es sah.
Endlich hatte er alles aufgebaut.

PETERS GEDANKEN SCHWEIFTEN AB
Er versuchte sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Obwohl er mit zehn Fingern blind auf der Tastatur schreiben konnte, nützte ihm das wenig. Er starrte nämlich auf das weiße Display und versuchte einen Satz hinzubekommen.

Es nützte nichts, ihm fiel nichts ein. Seine Gedanken schweiften ab zu Klara. Wie mochte sie wohl Anna angetroffen haben? Peter war nicht mit hochgegangen.
Er wollte sich nicht Annas Fragen aussetzen, warum sie in Stralsund seien.

Der Regen tropfte ans Fenster und Peter kam allmählich zur Ruhe.
Eigentlich ging es ihm doch gar nicht so schlecht. Er saß in einem Hotelzimmer, wurde nicht nass, konnte ein wenig schreiben, die Akquise für die Werbeeinnahmen vorbereiten und zwischendurch gedanklich auch noch abschweifen.

DEN AUGENBLICK SCHÖN FINDEN
Und jetzt saugte er die Ruhe in sich auf. Die Autos ratterten immer noch vorbei, aber es war irgendwie wie aus einer weiten Ferne.
Auf der gegenüberliegenden Seite hastete eine Frau auf dem Fußweg vorbei, wahrscheinlich zur Arbeit.

Ihr Gesicht war verkrampft, nichts sah danach aus, dass sie Freude an dem hatte, was sie gerade tat.

Peter war Jahre, ja Jahrzehnte seinen Träumen nachgerannt, die spätestens mit der Wende platzen und er wieder ganz von vorn anfangen musste.

Also warum sollte er sich jetzt nicht freuen, dass er im Zimmer saß, trocken, und schreiben konnte?

Wer weiß, wie es ihm in zehn Jahren gehen würde. Vielleicht war er dann auch schon in einem Heim und musste sich ein Zimmer mit einem Nachbarn teilen.
Wie es wohl Klara bei Anna angetroffen hatte?

https://uwemuellererzaehlt.de/2021/09/30/anna-2021-09-30/

KLARA VERSTECKTE ANNAS GEPACKTE TASCHE AUF DEM DACHBODEN

Klara ging die fünf Treppen hoch, zu Annas Wohnung. Sie merkte, dass es ihr schwerer viel, schwungvoll bis nach oben zu kommen.

Dabei waren sie früher als Kinder die Stufen hochgestürmt, hatten oft genug zwei auf einmal genommen.
Aber die Zeiten waren vorbei.

„Wer ist da?“, hörte sie plötzlich Annas Stimme aus dem Schlafzimmer.

„Mutti, ich bin’s, guten Morgen.“
„Wieso kommst du mitten in der Nacht, ich habe mich gerade hingelegt“, sagte Anna mit einem vorwurfsvollen Unterton.

Klara dreht den Schlüssel im Schloss um, öffnete die Tür und stand kurze Zeit darauf im Schlafzimmer.

Auf ihrem Bett lagen Sachen, Kleider, Blusen und der Schlafanzug.
Anna blickte verwirrt.
„Wo bin ich?“
„Mutti, du bist in deiner Wohnung.“

ANNA MUSSTE PROFESSIONELL BETREUT WERDEN
Da half auch nicht, dass Lukas täglich kam, fast jeden Tag jedenfalls und Klara mindestens einmal im Monat aus Berlin anreiste, um wenigstens eine gewisse Struktur in den Alltag von Anna zu bekommen.

Klara half ihrer Mutter, sich anzuziehen, nachdem sich Anna gewaschen und die Zähne geputzt hatte.
Das dauerte eine gefühlte Ewigkeit für Klara.

KLARA VERSUCHTE ANNA ABZULENKEN, UM UNGESTÖRT IHRE TASCHE ZU PACKEN
Klara kochte Anna einen Tee und schmierte ihr ein halbes Brötchen mit Marmelade.

„Mutti, komm‘, setz dich hier in Ruhe hin und frühstücke“, sagte Klara.

Anna kam in die Küche, setzte sich schweigend auf den Stuhl und begann langsam zu kauen.

Das war die Chance für Klara, unbeobachtet von Anna die Sachen für die Kurzzeitpflege zu packen und auf den Dachboden zu stellen.

„Warum willst du die Tasche auf den Dachboden bringen?“, hatte Peter sie noch einen Tag zuvor gefragt.

„Mutti wieder alles ausräumen würde. Wir müssen uns hier wirklich an den Rat von Dr. Silberfisch halten“, entgegnete Klara.

ANNA MUSSTE AM NÄCHSTEN TAG UNBEDINGT INS AUTO STEIGEN
„Letztlich geht es um das Wohl deiner Mutter, dass sie rund um die Uhr betreut wird“, bestärkte Peter Klara. Er wusste, wie schwer es Klara fiel, dass alles durchzuziehen.

„Morgen kommt es darauf an. Da geht es um alles. Wir müssen es schaffen, Anna davon zu überzeugen, ins Auto zu steigen, damit wir überhaupt die Chance haben, mit ihr zur Kurzzeitpflege zu kommen“, sagte Peter noch.

Klara seufzte nur.
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AUSBLICK:
Die vorerst letzten beiden Beiträge: 
ANNA GEHT IN DIE KURZZEITPFLEGE (08.10.2021)
ANNAS NEUES ZUHAUSE IM BETREUTEN WOHNEN (15.10.2021)

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KLARA VERSTECKT ANNAS GEPACKTE TASCHE AUF DEM DACHBODEN

ANNA-2021.10.01ANNA-2021.10.01

Rückblick:
Peter und Klara hatten im Gasthof die erste Nacht schlecht geschlafen.
Der Lärm der vorbeifahrenden Autos und die Gedanken daran, wie es jetzt mit Anna weiterging, liess sie nicht zur Ruhe kommen. Nachdem sie morgens im Gasthof gefrühstückt hatten, fuhren beide zu Annas Wohnung nach Stralsund. Peter begab sich danach sofort ins Hotelzimmer zurück, er wollte arbeiten.

Intro:
Klara räumt die Wohnung von Anna auf, badet sie und macht ihr anschliessend die Haare. Wenn Anna abgelenkt war, packte Klara die Sachen für Annas Aufenthalt in der Kurzzeitpflege.

Klara ging die fünf Treppen hoch, zu Annas Wohnung. Sie merkte, dass es ihr schwerer viel, schwungvoll bis nach oben zu kommen. Dabei waren sie früher als Kinder die Stufen hochgestürmt, hatten oft genug zwei auf einmal genommen.

Aber diese Zeiten waren vorbei.
Klara verschnaufte für einen kurzen Augenblick vor der Wohnungstür.

Sie setzte sich auf den Stuhl, der auf dem Flur stand und kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel für Annas Wohnung. Sie stand vom Stuhl auf, nachdem sie ihn gefunden hatte und drückte auf die Klingel.

Klara horchte an der Tür, aber drinnen war nichts zu hören.
Sie klingelte noch einmal.

Als sich nichts rührte, da klopfte sie leise an die Tür und nahm gleichzeitig den Wohnungsschlüssel zur Hand, um aufzuschließen.

„Wer ist da?“, hörte sie plötzlich Annas Stimme aus dem Schlafzimmer.

„Mutti, ich bin’s, guten Morgen.“
„Wieso kommst du mitten in der Nacht, ich habe mich gerade hingelegt“, sagte Anna mit einem vorwurfsvollen Unterton. Klara dreht den Schlüssel im Schloss um, öffnete die Tür und stand kurze Zeit darauf im Schlafzimmer.

Auf ihrem Bett lagen Sachen, Kleider, Blusen und der Schlafanzug.
Anna blickte verwirrt.

„Wo bin ich?“
„Mutti, du bist in deiner Wohnung.“
„Und wieso bist du hier?“, fragte Anna und schaute sie mit einem leeren Blick an.

Klara hätte auf der Stelle losheulen können, aber sie musste sich zusammenreißen.

Sie konnte ihrer Mutter nur helfen, wenn sie jetzt stark war.
Ihr wurde immer mehr klar, dass es gar keine Alternative mehr dazu gab, Anna in einem Heim unterzubringen.

Da half auch nicht, dass Lukas täglich kam, fast jeden Tag jedenfalls und Klara mindestens einmal im Monat aus Berlin anreiste, um wenigstens eine gewisse Struktur in den Alltag von Anna zu bekommen.

Klara half ihrer Mutter, sich anzuziehen, nachdem sich Anna gewaschen und die Zähne geputzt hatte.

Das dauerte eine gefühlte Ewigkeit für Klara.
Aber sie zwang sich, nichts zu sagen.

„War denn die Schwester heute Morgen schon hier und hat dich gespritzt?“

„Hier war keiner“, sagte Anna.

„Mutti, das kann aber nicht sein, denn schau mal hier, die Schwester hat dir doch sogar das Frühstück zubereitet.“

„Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich weiß gar nichts mehr!“, sagte Anna niedergeschlagen, verbunden mit dem Vorwurf, warum Klara sie überhaupt danach fragte.

Klara kochte Anna einen Tee und schmierte ihr ein halbes Brötchen mit Marmelade.

„Mutti, komm‘, setz dich hier in Ruhe hin und frühstücke“, sagte Klara.

Anna kam in die Küche, setzte sich schweigend auf den Stuhl und begann langsam zu kauen.

Das war die Chance für Klara, unbeobachtet von Anna die Sachen für die Kurzzeitpflege zu packen und auf den Dachboden zu stellen.

„Warum willst du die Tasche auf den Dachboden bringen?“, hatte Peter sie noch einen Tag zuvor gefragt.

„Mutti wieder alles ausräumen würde. Wir müssen uns hier wirklich an den Rat von Dr. Silberfisch halten“, entgegnete Klara.
Peter nickte. Sie hatte recht in dem, was sie tat.

Es war für ihn nur erstaunlich, wie sehr sich hier Klara entwickelt hatte. Vor einigen Monaten war es für Klara noch unvorstellbar gewesen, dass sie hinter dem Rücken ihrer Mutter das alles vorbereitet hätte.

Aber es ging nicht anders.
„Letztlich geht es um das Wohl deiner Mutter, dass sie rund um die Uhr betreut wird“, bestärkte Peter Klara. Er wusste, wie schwer es Klara fiel, dass alles durchzuziehen.

„Morgen kommt es darauf an. Da geht es um alles. Wir müssen es schaffen, Anna davon zu überzeugen, ins Auto zu steigen, damit wir überhaupt die Chance haben, mit ihr zur Kurzzeitpflege zu kommen“, sagte Peter noch.
Klara seufzte nur.

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DER TAG NACH DER ANREISE IM GASTHOF

ANNA-2021.09.30

Rückblick:
Klara und Peter sind im Dorfgasthof ‚Soljanka‘ angekommen, haben das Gepäck nach oben getragen. Beide waren so erschöpft, dass sie darauf verzichteten, abends noch in das Restaurant zu gehen, um die Soljanka zu probieren.
Peter ahnte nicht, wie viel und wie oft er in den nächsten Tagen noch Taschen aus Annas Wohnung schleppen musste.

Intro:
Klara geht morgens zu ihrer Mutter, um die Fahrt in die Einrichtung der Kurzzeitpflege für den nächsten Tag vorzubereiten. Sie muss dabei sensibel vorgehen, denn Anna war nicht bereit, so ohne weiteres mitzuhelfen. Peter fuhr zurück ins Hotel, versuchte zu arbeiten, was nicht wirklich gelang. Seine Gedanken schweiften ab.

Die Nacht im Dorfgasthaus war schnell vorüber. Klara und Peter hatten unruhig geschlafen.

Vor dem Hotel verlief die Straße abschüssig und die Autos donnerten darauf mit einem ohrenbetäubenden Lärme vorbei, auf Kopfsteinpflaster.

Peter rüttelte im Schlaf gefühlt mit, wenn ein größerer LKW, noch dazu mit Anhänger, vorbeifuhr.

„Ich dachte, wir sind hier in einem idyllischen Dorf und du hörst morgens die Hähne krähen, aber die müssen ja jedes Mal eine Lücke zwischen zwei fahrenden Autos erwischen, damit sie überhaupt gehört werden“, sagte Peter, während er sich aus dem Bett drehte und versuchte endgültig wach zu werden.

Klara antwortete nicht. Sie hätte lieber noch ein wenig weitergeschlafen, aber die Gedanken an den Tag mit ihrer Mutter trieben sie aus dem Bett.

Im Frühstücksraum kam ihnen eine ältere Mitarbeiterin entgegen, die sie freundlich mit einem ‚Guten Morgen‘ begrüßte.

„Hier am Büfett ist alles aufgebaut, den Kaffee bringe ich gleich.“
„Soljanka auch?“, fragte Peter. Klara stand hinter ihm und stieß ihm mit der Hand in den Rücken.

„Die können Sie sehr gern haben, hier gibt es aber auch frisch gepressten Orangensaft, ein wenig Haferkleie und Obst“, sagte die Mitarbeiterin und fixierte Peters Bauch.
‚Haferkleie, die esse ich zuhause‘, dachte Peter.

„Wunderbar, dann kann der Tag ja nur gut werden“, antwortete Peter laut und ging schnurstracks auf den Behälter mit dem Rührei zu.

Er klappte den Deckel hoch und sah neben den Eiern kleine Bratwürstchen liegen, die herrlich dufteten.

Das war Peters Welt. Er nahm zwei kräftige Löffel von dem Rührei und legte sich noch zwei Würstchen auf den Teller dazu.
Alles unter dem kritischen Blick von Klara.

„Ich denke, du wolltest abnehmen? So machst du dir wieder alles kaputt“, tadelte Klara ihn leise.

Peter hasste diese Ansagen. Er wusste es selbst, und deshalb ärgerte es ihn erst recht, wenn Klara sich einmischte.
Prüfte er etwa, was sie sich auf den Teller packte?

„Du verstehst mein Konzept vom Intervallfasten nicht“, antwortete er, drehte sich um und ging zum Tisch. Dort stand bereits der Kaffee, Peter goss sich eine Tasse ein und nahm einen Schluck. So sollte der Tag beginnen.

Peter wollte sich nicht mehr weiter ärgern und lieber den Moment genießen. Mittags, ja da wollte er nur noch eine Banane essen.
Aber jetzt, da waren die Rühreier und kleinen Bratwürste dran.

‚Zuhause musst du dich aber wirklich zusammenreißen`, sagte er sich im Stillen, ohne sich den Kopf über das ‚wie` zu zermartern.
Nach dem Frühstück fuhren beide nach Stralsund rein, zu Annas Wohnung.

Peter begab sich danach sofort zurück zum Hotel, holte seine Arbeitssachen heraus und begann sich auf dem kleinen Tisch einzurichten.

Zuerst musste der Fernseher beiseite gerückt werden, damit das iPad und die Tastatur Platz fanden.

Er hatte seine Sachen in der Tasche verstaut, die er täglich mit ins Fitness-Studio nahm.

Jetzt lagen dort Bleistifte, Papier, Klebestifte, Kabel für das iPad und Unterlagen für Annas Kurzzeitpflege drin. Sie rutschten von einer Seite auf die andere und Peter erfühlte mehr das, was er brauchte, als dass er es sah.

Endlich hatte er alles aufgebaut.
Es war stickig im Raum, also öffnete er das Fenster. Damit es wieder zufiel, legte er sein neues Brillenetui in den Rahmen. Das Fenster bewegte sich trotzdem und bohrte ein Loch in das Brillenbehältnis.

Peter ärgerte sich und schloss das Fenster wieder. Na prima, jetzt musste er sich noch ein neues Etui besorgen.

Er versuchte sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Obwohl er mit zehn Fingern blind auf der Tastatur schreiben konnte, nützte ihm das wenig. Er starrte nämlich auf das weiße Display und versuchte einen Satz hinzubekommen.

Es nützte nichts, ihm fiel nichts ein. Seine Gedanken schweiften ab zu Klara. Wie mochte sie wohl Anna angetroffen haben? Peter war nicht mit hochgegangen.

Er wollte sich nicht Annas Fragen aussetzen, warum sie in Stralsund seien.

Peter schaute aus dem Fenster. Es regnete inzwischen heftig und das Kopfsteinpflaster sah spiegelglatt aus, was die vorbeifahrenden Autos aber nicht dazu anhielt, die Geschwindigkeit zu drosseln.

Er setzte sich wieder hin und beschloss, seiner Kreativität auf die Sprünge zu helfen.

Dazu nahm er eine Holzunterlage aus der Tasche, die er mit weißen Blättern überklebt hatte.

Es war ein Bild von Anna, das Peter so umfunktioniert hatte. Klara durfte davon nichts wissen.

Aber die Rückseite des Rahmens eignete sich hervorragend für seine Zwecke.

Außerdem – sie hatten so viele Bilder im Keller zuhause liegen, sodass dieses eine Bild gar nicht ins Gewicht fiel. Klara sah das natürlich völlig anders.

Wenn Peter aber mit dem Füllhalter auf dem Papier Kreise malte und einfach das aufschrieb, was ihm einfiel, dann kam er voran. Später konnte er es immer noch korrigieren.

Das Einzige war, dass Peter alles noch einmal abschreiben musste. Aber was nützte es ihm, wenn er auf den Bildschirm starrte und ihm doch nichts einfiel?

Der Regen tropfte ans Fenster und Peter kam allmählich zur Ruhe.
Eigentlich ging es ihm doch gar nicht so schlecht. Er saß in einem Hotelzimmer, wurde nicht nass, konnte ein wenig schreiben, die Akquise für die Werbeeinnahmen vorbereiten und zwischendurch gedanklich auch noch abschweifen.

Er versuchte möglichst nicht mehr zu weit in die Zukunft zu schauen. Das Leben hatte ihn gelehrt, das als Geschenk anzunehmen, was vor ihm war.

Besuchte Krümel ihn zuhause, dann setzte er sich nicht an den Schreibtisch, sondern mit ihr auf den Fußboden und spielte mit ihr.
Und jetzt saugte er die Ruhe in sich auf.

Die Autos ratterten immer noch vorbei, aber es war irgendwie wie aus einer weiten Ferne.
Auf der gegenüberliegenden Seite hastete eine Frau auf dem Fußweg vorbei, wahrscheinlich zur Arbeit.

Ihr Gesicht war verkrampft, nichts sah danach aus, dass sie Freude an dem hatte, was sie gerade tat.

Peter war Jahre, ja Jahrzehnte seinen Träumen nachgerannt, die spätestens mit der Wende platzen und er wieder ganz von vorn anfangen musste.

Also warum sollte er sich jetzt nicht freuen, dass er im Zimmer saß, trocken, und schreiben konnte?

Wer weiß, wie es ihm in zehn Jahren gehen würde. Vielleicht war er dann auch schon in einem Heim und musste sich ein Zimmer mit einem Nachbarn teilen.

Peter schüttelte sich. Das wollte er auf jeden Fall vermeiden. Er wollte doch mehr Sport machen, gesünder essen, vor allem weniger.

Er schaute auf die Banane, die auf dem Tisch lag, sein Mittagessen.
‚Das Grauen kommt ohne Ankündigung‘ dachte er dabei.
Wie es wohl Klara bei Anna angetroffen hatte?

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GEPÄCK SCHLEPPEN IM DORFGASTHAUS – PETER WUSSTE NICHT, DASS ES NUR DER LEICHTE ANFANG FÜR DIE KOMMENDEN TAGE WAR

ANNA-2021.09.25

Rückblick:
Klara und Peter meldeten sich im Dorfgasthof ‚Soljanka‘ an. Es roch leicht muffig in der Gaststube. Die Mitarbeiterin am Tresen war wortkarg, aber dennoch freundlich.

Intro:
Peter erzählte der Mitarbeiterin, dass sie beide selbst aus Stralsund kommen, bevor er den Schlüssel von ihr erhielt und die vielen Taschen nach oben ins Zimmer zu tragen begann.

„Na dann ist es ja umso schöner, wenn Sie von hier sind“, sagte die Frau.

„Hier ist der Schlüssel. Sie müssen nur die zwei Treppen im Flur hochgehen und dann sind Sie schon da.“

Die hat gut Reden, dachte Peter und sah sich schon die Koffer hochschleifen.

Sie gingen zurück zum Auto, um das Gepäck zu holen. Als Peter die Heckklappe des Wagens öffnete, blickte er in einen prall gefüllten Kofferraum.

Klara war eine Meisterin im Verstauen von Behältern und Taschen und in die dazwischenliegenden Lücken passte immer noch eine Reihe von Kleinigkeiten rein, die gebraucht würden.

„Sind wir jetzt zehn Tage hier oder zehn Wochen?“, fragte Peter.
„Du weißt genau, dass es schwer ist abzuschätzen, wie wir mit den Sachen klarkommen“, antwortete Klara.

„Gut, dann gib mir mal die beiden großen Beutel“, sagte er.
Als Peter in den Eingangsbereich des Hotels kam, grüßten ihn zwei Mitarbeiter aus der Küche freundlich.

Peter keuchte die Treppen hoch und war froh, als er die Taschen erst einmal vor der Tür fallenlassen konnte.

Das Zimmer war, der Ausblick war zur Straße raus, aber sie wollten ja keinen Erholungsurlaub antreten.

Er ruhte sich für einen Augenblick auf dem Bett aus, bevor er die Treppen wieder hinunterstieg.

Klara hatte das andere Gepäck, das mit nach oben aufs Zimmer sollte, bereits auf den Boden vor das Auto gestellt.

Peter schnappte gleich zwei Taschen und einen kleineren Beutel.
Als er an den beiden Mitarbeitern vorbeikam, die immer noch Pause machten, bemerkte er deren Blicke, die wohl sagten, was er alles für diesen Kurzurlaub mitschleppte.

„Das ist nur das kleine Gepäck für zwei Tage“, sagte Peter trocken zu ihnen.

Die beiden schauten sich an und prusteten vor Lachen los.
Endlich. Alle Taschen und Beutel waren oben im Zimmer angelangt.

Das wär‘s für heute, ich geh‘ nicht mehr vor die Tür.
Klara hatte noch ein paar Schnitten von der Fahrt aufgehoben, die sie nun auf den Tisch legten.

„Heute brauchen wir keine Soljanka mehr“, sagte Klara zu ihm.
Peter nickte stumm und begann in eine der Stullen hineinzubeißen und an den Programmen des Fernsehapparates herumzuspielen.

Endlich, er hatte 3 Sat gefunden. Es lief ein Dokumentarfilm über die Alm in der Schweiz und die Kühe, deren Glocken bimmelten.
„Das ist jetzt das richtige für mich“, sagte Peter, legte die Beine auf den anderen Sessel und schaute in den Fernseher.

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ANKUNFT IM DORFGASTHAUS ‚SOLJANKA‘

ANNA-2021.09.24

RÜCKBLICK:
Klara und Peter waren auf dem Weg zur Ostsee. Während der Anreise drehten sich ihre Gedanken nur um Anna und wie alles werden sollte, mit der Kurzzeitpflege und ihrer Unterbringung danach im ‚Betreuten Wohnen Sörensen‘.

Intro:
Klara und Peter haben das Dorfgasthaus ‚Soljanka‘ erreicht. Der Name des Gasthauses rief in Peter Erinnerungen an DDR-Zeiten hervor.

Ich krieg‘ Hunger auf eine große Schüssel Soljanka, ein Bockbier und eine Scheibe Schwarzbrot, als Peter das Schild an der Eingangstür betrachtete, auf der die Frau mit der Suppenschüssel zu sehen war.

Dabei hatte er gerade noch im Auto gesagt, dass er jetzt endlich abnehmen wolle, ja müsse.

Aber das hatte er bereits wieder vergessen, für den Augenblick der Ankunft zumindest.

„Jetzt lass uns doch erst einmal ankommen und die Sachen aus dem Auto auspacken.

Peter seufzte. Er fürchtete, dass er wieder Taschen die Treppen raufschleppen musste. Das Hotel jedenfalls machte auf ihn nicht den Eindruck, als dass es dort einen Fahrstuhl geben würde.

Er steuerte das Auto auf einen Hof hinter dem Gasthaus, wo auf einer freien Wiese bereits Fahrzeuge abgestellt waren. Im Hintergrund war ein Pfarrhaus zu sehen.

„Sind wir hier richtig?“, fragte Peter ungläubig.
„Die Autos können ja wohl kaum alle dem Pfarrer gehören“, sagte Klara.

„Dem Pfarrer nicht, aber der Gemeinde“, versuchte Peter einzuwenden, doch Klara winkte ab.

Sie stiegen aus und gingen auf den Eingang des Hotels zu.
Als sie eintraten, schlug ihnen ein etwas muffiger Geruch von alten Möbeln entgegen.

Trotzdem sah alles sehr sauber aus. An der Wand hing ein Plakat, auf dem eine junge Frau in russischer Tracht eine Schüssel mit Soljanka hochhielt.

Auf dem Tresen war eine Klingel angebracht, auf die Peter mit voller Wucht schlug.

„Musst du immer so laut sein?“, wies ihn Klara zurecht.
„Bin abgerutscht“, brummte Peter.

Eine Flügeltür, direkt hinter der Theke, schwang auf und eine Frau, ebenfalls so gekleidet wie das Mädchen auf dem Plakat, nur nicht so jung aussehend, trat heraus.

„Einen schönen guten Tag, herzlich willkommen“, flötete die Frau in ihrem etwas altbacken anmutenden Kleid.

‚Dobrü den‘, antwortete Peter auf Russisch. Klara warf ihm einen tadelnden Blick zu.

„Sie müssen sich hier anmelden“, sagte die Frau an der Anmeldung, ohne auf Peter einzugehen.

Sie legte die Anmeldeformulare auf den Tisch und schob einen Kugelschreiber hinterher.

„Sind Sie geimpft?“, fragte die Frau jetzt.
„Ja, zweimal mit Astrazeneca. Mal sehen, ob’s hilft“, versuchte Peter zu scherzen.

„Kann ich mal Ihre Impfausweise sehen?“, fragte die Frau ungerührt weiter.

Sie war offensichtlich aus etwas härterem Holz geschnitzt.
„Sind Sie aus diesem Dorf hier?“, fragte Peter sie neugierig.

„Ja, ich bin hier geboren und aufgewachsen“, sagte die Frau nun mit etwas Trotz in der Stimme.

„Warum fragen Sie?“
„Nun, wir sind hier aus der Nähe, haben viele Jahre in Stralsund gewohnt und sind oft an diesem Dorf vorbeigefahren. Wir hätten uns niemals träumen lassen, dass wir eines Tages mal hier übernachten würden.“

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ERNEUTE REISE AN DIE OSTSEE

ANNA-2021.09.23
Rückblick:
Saskia Pesic, Altenpflegerin im ‚Betreuten Wohnen Sörensen‘ hat gekündigt.
Eine neue Mitarbeiterin hat sich bereits bei Schwester Ulrike beworben.

Intro:
Klara und Peter sind erneut auf dem Weg nach Stralsund, diesmal nicht in den Urlaub.
Sie müssen Annas Aufenthalt in der Kurzzeitpflege vorbereiten. Die Hotels sind durch die Urlaubssaison immer noch ausgebucht. Sie reservieren deshalb ein kleines Zimmer in einem Dorfgasthaus in der Nähe von Stralsund.

Klara und Peter saßen schweigend im Auto nebeneinander, als sie Richtung Stralsund fuhren.

Der Urlaub war gerade zu Ende gegangen, und beide hatten sich so einigermaßen wieder daran gewöhnt, zu Hause zu sein.

Nun mussten sie wieder los, Richtung Ostsee.
Doch Urlaubsfeeling wollte nicht aufkommen. Klara dachte daran, was ihr bevorstand.

Am nächsten Tag musste sie Annas Besuch in der Kurzzeitpflege vorbereiten.

Dr. Silberfisch hatte sie darauf gebracht, doch Anna für ein paar Tage dort unterzubringen. Solange jedenfalls, bis alles für ihren Umzug ins ‚Betreute Wohnen Sörensen‘ erledigt war.

Klara seufzte, wenn sie nur daran dachte.

„Denkst du auch daran?“, fragte Peter sie, ohne den Blick von der Autobahn zu lassen.

Er hatte die Geschwindigkeit auf 120 km in der Stunde eingestellt und so konnte er sich etwas im Sitz zurücklehnen.

„Meine Gedanken drehen sich nur um Mutti. Auf der einen Seite haben wir keine Chance anders zu handeln und andererseits tut es mir in der Seele weh, wenn ich daran denke, dass sie nicht mehr in der Wohnung bleiben kann.“

Peter nickte und schwieg.

„Wenn wir jetzt nicht handeln, dann tun es andere für uns“, sagte er nun.

„Du hast doch gehört, was die Pflegedienstleiterin zu dir gesagt hat“, schob er nach.

„Sie müssen etwas unternehmen! Ihre Mutter kann auf keinen Fall mehr allein in der Wohnung sein. Sie ist nicht mehr in der Lage, sich selbstständig zu ernähren, genügend Flüssigkeit zu sich zu nehmen“, hatte sie Klara am Telefon gesagt.

Klara wusste, dass es so kommen würde. Peter wusste es auch und Lukas ebenso.

Aber jeder hoffte, dass es wenigstens für ein paar Monate gut weitergehen würde, sie vielleicht noch Weihnachten in ihren eigenen vier Wänden verbringen konnte.

„Wir dürfen jetzt nicht mehr warten, sonst nehmen sie uns das Heft des Handelns aus der Hand“, sagte Peter.
Klara war das alles klar, aber sie hatte Probleme damit, es emotional zu verarbeiten.

Stralsund kam in Sicht. Sie hatten kein Hotel mehr direkt in der Stadt buchen können, denn es war ja immer noch Ferien- und Urlaubszeit.

Also hatten sie sich entschlossen, einen kleinen Gasthof im Vorort für zwei Übernachtungen zu reservieren.

Danach wollten sie für eine Nacht in Annas Wohnung schlafen und anschließend in eine Ferienwohnung umziehen, die Lukas für sie organisiert hatte.

Sie hatten das kleine Dorf erreicht und Peter bog von der Autobahn ab.

„Hättest du gedacht, dass wir jemals hier übernachten werden?“, fragte Peter.

„Im Leben nicht“, antwortete Klara knapp.
Das Dorfgasthaus kam in Sichtweite. Peter rollte über eine Straße, die mit Kopfstein gepflastert war.

Auch wenn es ruckelte, fand er es schön, dass hier noch alles so war, wie er das Dorf schon vor über dreißig Jahren kannte.

Nur der Name des Hotels hatte inzwischen gewechselt. Früher hieß es ‚Roter Oktober‘, in Anlehnung an die Große Sozialistische Oktoberrevolution in Russland.

Nun war daraus ‚Soljanka‘ geworden, in Anlehnung an die Suppe, die Klara und Peter zu DDR-Zeiten gern gegessen hatten.
„Ob die wohl noch eine Schüssel Soljanka für uns haben?“, fragte Peter.

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SASKIA IST NICHT MEHR DA

ANNA IST DEMENT – 2021.09.18

Saskia Pesic hat gekündigt, ohne vorher irgendetwas davon verlauten zu lassen.

Niemand wusste etwas davon, nicht Schwester Ulrike, nicht die Mitarbeiter, auch nicht die Heimbewohner.

Olaf Knaspe ging ins Zimmer von Schwester Ulrike. Er klopfte an den Rahmen, die Tür stand offen.

Ulrike telefonierte mit der Angehörigen einer Heimbewohnerin.

„Wo ist Saskia?“, fragte Olaf, ohne Umschweife.

„Die kommt heute nicht. Sie hat sich die restlichen Tage Urlaub genommen. Sie will uns verlassen“, antwortete Ulrike.

Olaf riss die Augen auf. Hatte er gerade richtig gehört. Saskia hatte ihm nichts davon erzählt, dass sie gekündigt hatte, und sie hatte ihm nicht einmal ein kleines Zeichen dafür gegeben?

„Warum?“, fragte Olaf.

„Sie hat etwas Besseres gefunden. Das glaubt sie jedenfalls“, man hörte die Enttäuschung bei Schwester Ulrike aus ihrer Stimme heraus.

„Das gibt’s doch nicht“, schnaubte Olaf. Er war ehrlich empört.
Im selben Moment beschlich ihn ein weiteres Gefühl.

Ob sie wohl gegangen war, weil Olaf ihre Annäherungsversuche so komplett ignoriert hatte?

Er wusste es nicht.

Wie aus der Ferne hörte Olaf jetzt wieder Ulrikes Stimme.
„Ich bin auch ein wenig traurig“, untertrieb sie das Ausmaß ihrer

Enttäuschung, das Saskia mit ihrem Weggang bei ihr hervorgerufen hatte.

Immerhin war Ulrike es, die Saskia ‚das Laufen in einer Pflegeeinrichtung beigebracht hatte. Sie war stets dagewesen, wenn

Saskia mit einer Frage zu ihr kam. Sie hat sie auf Fortbildungslehrgänge geschickt, ihr ans Herz gelegt, sich intensiv mit den Biographien ihrer Heimbewohner auseinanderzusetzen.

„Wir müssen jetzt nach vorn schauen“, unterbrach Ulrike sich selbst in ihren Gedanken.

Olaf schaute nach vorn, direkt über den Kopf von Ulrike hinweg, durch das Fenster hindurch auf das Wasser, das stürmisch und grau aussah. Der Herbst begann.

„Ich habe eine Bewerbung erhalten, die vielversprechend ist. Die neue Kollegin kann noch in diesem Monat bei uns anfangen.

Vielleicht hörst du dir mit an, was sie zu sagen hat?“

„Ich?“, fragte Olaf. Er wollte nicht.

„Olaf, deine Meinung ist mir wichtig. Und auf diese Weise lernt ihr euch gleich ein wenig kennen.“

„Hm“, brummte Olaf.

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IM SCHREIB-ALLTAG SEIN HANDWERK BEHERRSCHEN

2021.08.26-SCHREIB-ALLTAG

Es gibt in der Technik des Schreibens Eckpfeiler, die man stets beachten sollte. Dazu gehören: die richtigen Informationen und Notizen auszuwählen, sie zu gliedern und schließlich daraus ein Thema strukturiert zu entwickeln.

Lässt du dieses Handwerkszeug außer Acht, um vermeintlich schneller und bequemer ans Ziel zu kommen, so machst du letztlich Umwege und verstrickst dich in einer Vielzahl von Verästelungen.

Selbst wenn ich Themen des Alltags wähle, so will der Leser ja nicht von meinen hin- und herspringenden Gedanken gefesselt oder besser verwirrt werden.

Nein, er will, dass ich einen Gedankengang nach dem anderen entwickle.

Nur so kann ich die Botschaften verständlich transportieren, in die Worte gießen, die mir wichtig sind.

Im Urlaub habe ich kürzlich meiner Enkelin morgens nach dem Frühstück kleinere Geschichten erzählt.

Und obwohl ich das frei formulierte, habe ich dabei fieberhaft überlegt, was zuerst gesagt werden sollte, was danach kommen könnte, kurzum, wie die Geschichte gegliedert und aufgebaut werden musste.

Und wenn Krümel dazu meine linken Zeigefinger mit ihrer kleinen Hand fast zerquetschte, dann wusste ich, dass ich es geschafft hatte, nämlich sie zu fesseln.

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HILDE UND HERBERT ALBATROS WOHNEN GEGENÜBER

ANNA-2021.07.23
Was bisher war:
Klara schlug das Herz bis zum Hals, als sie vor der Tür des Zimmers im ‚Betreuten Wohnen‘ stand, in dem Anna ihr Leben in Zukunft verbringen sollte.
Lukas half Klara beim Ausmessen des Zimmers. Pfleger Olaf und Klara fanden einen ersten inneren Draht zueinander, er als künftiger Betreuer von Anna, sie als die nächste Angehörige, die sich um alles kümmerte.
Peter stand im Zimmer rum und redete, aber keiner hörte ihm richtig zu. Peter verstand das, denn er war froh, dass er sich nicht zu bücken brauchte, um ebenfalls mit abzumessen.

Olaf ging am Zimmer seiner Pflegedienstleiterin, Schwester Ulrike, vorbei.

„Und was sagen die Angehörigen?“, rief ihm Ulrike hinterher, als er schon an ihrer Tür vorbei war.

„Ich glaube, die finden das Zimmer ganz in Ordnung und auch das Drumherum.“

„Na, das klingt ja nicht gerade euphorisch. Was meinst du denn mit dem ‚Drumherum‘?“

Olaf war einen Schritt zurückgegangen und schaute in das Zimmer von Ulrike.

„Ich hatte den Eindruck, dass sie es gut fanden, wie der Sanitärbereich angeordnet war, was alles an dem Zimmer noch dranhängt; das große Wohnzimmer mit dem Fernseher, die Küche, wo alle zusammen kochen können.

Und ich glaube, der Tochter von Anna Sturm hat am besten der Balkon gefallen. Sie meinte nur, dass ihre Mutter immer von dem Blick vom Balkon ihrer Wohnung auf den Strelasund geschwärmt hatte und den sie nun auch wieder bekommt, nur eben von unserer Seite aus.“

„Ja, das stimmt“, sagte Ulrike.
„Noch was?“, fragte Olaf, bevor er weiterging.
„Nein, hilf bitte Saskia beim Wechseln der Wäsche in der 5. Etage“, sagte Ulrike noch.

„Geht klar“, meinte Olaf und verschwand endgültig.
Saskia war gerade im Nebenzimmer von Anna Sturm damit beschäftigt, die Laken und die Bettbezüge wieder auf das Bett zu bringen.

„Ich soll dir helfen!“, brummte es da hinter ihrem Rücken.
„Sollst du oder willst du?“, fragte Saskia, während sie sich zu Olaf umdrehte. Sie sich, dass er in ihrer Nähe war.

„Naja, kannste‘ dir die Antwort aussuchen“, antwortete Olaf.
„Oh, das ist aber wenig charmant“, sagte Saskia mit einem kleinen Augenzwinkern.

Klara ging in diesem Augenblick am offenen Zimmer der Nachbarin vorbei und sah, wie Saskia und Olaf miteinander umgingen.

„Auf Wiedersehen und vielen Dank noch mal“, rief Klara beiden zu.
Eigentlich meinte sie Olaf, der ihr ihm Zimmer geholfen hatte.
Der nickte nur, während Saskia „ein gern geschehen“ zu Klara sagte.

„Die beiden haben was miteinander“, sagte Klara nun zu Peter, der hinter ihr lief.

„Was du schon wieder im Vorbeigehen alles mitbekommst“, gab Peter an Klara zurück, während er dabei zu Lukas schaute. Der zog nur die Augenbrauen hoch.

„Wollen wir uns noch von Schwester Ulrike verabschieden?“, fragte Peter.
Klara zögerte und bat Lukas und Peter schon mal zum Fahrstuhl zu gehen und dort zu warten, während sie kurz bei der Pflegedienstleiterin vorbeischauen wollte.

Lukas und Peter machten sich gleich auf den Weg und waren froh, dass sie nicht noch einmal ein Stockwerk tiefer zu Schwester Ulrike mussten.

Sie gingen aus der Tür heraus, um vor dem Fahrstuhl auf Klara zu warten.

Peter lief auf dem Treppenflur auf und ab und las sich die Zettel durch, die an einer Tafel hingen.

Plötzlich traute er seinen Augen nicht, als er seinen Blick weiter umherschweifen liess.

Am Türschild gegenüber des ‚Betreuten Wohnens Sörensen‘ blinkte ihm ein blank geputztes Messingschild entgegen auf dem die Namen ‚Hilde und Herbert Albatros‘ entgegenprankten.

„Das gibt’s doch nicht.“
„Was?“, fragte Lukas.
„Guck mal hier“, sagte Peter, während seine Stimme hell und grell klang.

„Nein!“
„Doch, das sind sie.“
„Meinst du wirklich?“, fragte Lukas ungläubig.

„Was glaubst du denn, wie viel Zufälle es auf einmal gibt?“
„Das hier der Name deiner Tante und deines Onkels dransteht? Dass die beiden gesagt haben, dass sie in eine Wohnung des ‚Betreuten Wohnens Sörensen ziehen‘ und dass sie später einmal von denen betreut werden wollen?“

Peter schaute Lukas an und schob nach: „Sie sind es!“
Die Tür ging auf und Hilde Albatros schaute heraus.
„Was macht ihr denn hier?“, fragte Tante Hilde und schaute die beiden an, als hätten sie gerade versucht einen Korb mit Äpfeln vom Hausflur zu klauen.

„Ach, wir stehen hier nur rum, wir finden es klasse, einfach hier zu sein, die Hände in den Hosentaschen zu vergraben und darauf zu warten, dass deine Wohnungstür aufgeht.“

„Und?“, fragte Hilde verdattert.
„Ja, sie ist aufgegangen, guten Tag, Tante Hilde. Wir freuen uns, dass wir uns mal nach so vielen Jahren wiedersehen, hier an der Ostsee, am Strelasund, mit Blick auf den Fahrstuhl.
Bevor Hilde antworten konnte, kam Klara aus der gegenüberliegenden Tür.

„Nein, du bist ja auch hier!“, sagte Hilde und schaffte es immer noch nicht, einen klaren Blick zu bekommen.
„Ja, die Klara, die wollte eigentlich mit auf den amerikanischen Trip mit in den Weltraum, aber sie hat kein Ticket mehr bekommen und da haben wir sie hierher mitgenommen“, sagte Peter in seinem ihm eigenen Humor.

„Ach das ist aber schön, dass wir dich hier treffen“, sagte Klara und stieß Peter als Warnung in den Rücken, nicht noch so einen Spruch von sich zu geben.

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RÜCKBLICK VOR DREI JAHREN: KOTELETT – DAS IST JA WOHL DAS LETZTE (1+2)

ANNA-2021.07.19

Peter schlug Anna vor, sich zum zweiten Frühstück ein Kotelett zuzubereiten und erntete von ihr nur Unverständnis:

„Wie geht es dir?“, fragte Peter, nachdem sich Anna am Telefon gemeldet hatte.

Stille. Nach einer Weile: „Och, weißt du, es geht so.“

„Na, du bist wohl heute nicht so gut drauf?“, fragte Peter.
„Nö!“, sagte Anna.
„Was ist denn?“
„Ich bin so allein.“

„Ja, allein. Warum gehst du denn nicht mal raus, vor die Tür. Danach ist alles anders.“
„Keine Lust.“

Peter stutzte. Der Ton gefiel ihm nicht. Er ließ sich nichts anmerken.

„Hast du denn schon dein zweites Frühstück gehabt.“
„Mach‘ ich gleich.“
„Was gibt’s denn?“
„Was soll’s schon geben? Immer dasselbe.“

„Was ist dasselbe?“
„Na, ein halbes Brötchen. Isst du denn etwas Anderes?“
„Ich esse gar nichts. Ich muss arbeiten und habe nur mal eine kleine Pause eingeschoben, um mich zu erkundigen, wie es dir geht.“

Peter merkte, wie seine Schilddrüse anschlug. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er langsam sauer wurde.

„Aber, dass du mich danach fragst, was ich esse. Das versteh‘ ich nicht. Es gibt doch immer das gleiche.“

„Naja, du könntest doch ein gebratenes Kotelett zum 2. Frühstück essen. So wie im Hotel.“

Das sollte ein kleiner Scherz von Peter sein. Aber Anna kam immer weniger mit Humor klar, seitdem ihre Demenz langsam fortschritt. Überhaupt war sie viel übellauniger geworden.

„Das ist ja wohl das letzte, dass du so etwas fragst. Kotelett. Unmöglich ist das!“ Anna schnauzte Peter regelgerecht an.

„Bei allem Respekt Anna. Dein Ton gefällt mir nicht. Wir rufen dich an, weil wir uns um dich sorgen.“
Peter musste sich beherrschen. Er musste diese Situation einfach bewältigen.

Was sollte Peter jetzt antworten? Und vor allem: Wie sollte er reagieren? Barsch? Brutal, laut?

Oder eher ruhig, besonnen, vielleicht sogar sanftmütig? Jetzt konnte er Anna ja endlich mal sagen, wie es ihm auf die Nerven ging, wenn sie sich für nichts interessierte – als für die Blumen auf ihrem Balkon.

Sonst war Klara meist dabei, wenn Peter sich anschickte, den rhetorisch Schwächeren in die Zange zu nehmen.

Sie hatte deshalb ein Herz für die, die nicht so redegewandt wie Peter reagieren konnten. Sie half darum nicht Peter, sondern denen, die mit Peter einen Disput begannen, die ihn oft überhaupt erst provozierten.

Sie kannte Peter. Sie wusste, dass der sich zwar schon seine Antwort zurechtgelegt hatte, dass seine rhetorischen Truppen längst zum Angriff bereit waren.

Doch sie wusste eben auch, dass er sich zunächst zurückhielt, zum Schein zurückzog. Er senkte in solchen Momenten seine Stimme, ’stopfte sich Kreide in den Mund‘, damit der Feind eingeschläfert wurde.

Er lullte quasi sein Gegenüber ein, damit der noch leichtfertiger wurde und nicht darüber nachdachte, was er noch so alles sagte, was noch an leichtfertigen Gedanken über dessen Lippen kamen.

Der Zeitpunkt für den Gegenangriff war aber nun gekommen.
Peter hielt den Hörer in der Hand, am anderen Ende faselte Anna etwas von ‚so einsam‘ und er versank in einen Traum, in eine unwirklich anmutende Geschichte.

Einer Geschichte, die sich vor Jahrhunderten hätte so abspielen können.
Geben wir Peter in dieser unwirklichen Geschichte den Zusatz ‚Peter, der Entschlossene‘. Dieser war hoch oben auf seinem Pferd vor der Schlachtordnung.

Hinter ihm seine Getreuen, auf die er sich verlassen konnte. Seine Generäle, seine Soldaten. Und dann war da noch seine Frau, die mit ritt in die Schlacht. Sie saß auf einem Pferd, abseits von Peter.

Nennen wir sie einfach ‚Sieglinde‘.
Und plötzlich passierte das Unfassbare. Sieglinde löste sich mit ihrem Pferd aus der Schlachtordnung und ritt in Richtung des Gegenübers, des Feindes. Deren Anführer soll der ‚Eiserne Gustav‘ heißen.

Sieglinde ritt also auf den Eisernen Gustav zu und winkte ihm fröhlich entgegen, mit einem Tuch, das sie auch noch selbst bestickt hatte. Der gegnerische Feldherr argwöhnte: „Was wollte Sieglinde, die Angetraute von Peter, dem Entschlossenen?“

Doch den Eisernen Gustav überkam die Neugier. Er übergab das Kommando seiner Truppen an seinen Marschall und ritt Sieglinde entgegen.

„Was willst du? Wir werden euch zermalmen, mit unseren mächtigen Reiterscharen!“, brüllte er schon von weitem.

„Gewiss doch, lieber Eiserne Gustav.“
„Aber ihr müsst euch nicht auf dem Schlachtfeld fetzen, du und mein Peter.“

„Warum nicht?“ Eiserner Gustav war verwirrt.
„Weißt du, mein Mann, der meint das nicht so. Im Gegenteil. Der mag dich sogar. Ein bisschen jedenfalls.“
Sieglinde fährt fortzureden, während ihr der Eiserne Gustav zuhört.

„Peter weiß, dass du der Klügere und der Stärkere bist. Kehrt einfach nach Hause zurück, zu euren Weibern und Kindern und besauft euch nach Herzenslust.“

Eiserner Gustav schaute verdutzt. Dann drehte er sich um und rief seinen Generälen entgegen: „Wir greifen nicht an. Wir drehen um.

Wir haben schon gesiegt. Sieglinde hat gesagt, Peter, der Entschlossene hat sich in die Hosen gepullert und ist indisponiert.“

Die Truppen vom Eisernen Gustav und seine Pferde wieherten vor Lachen und stoben auseinander, trotteten nach Hause.
Peter, der Entschlossene schäumte vor Wut, als Sieglinde zurückkam.

„Was erlaubst du dir, Weib?“
„Ärgere dich doch nicht Peter. Ich habe Gustav gesagt, dass du ihn zermalmen wirst, und dass nichts übrigbleibt von ihm und seinem Volk.

Da hat er es mit der Angst gekriegt und ist lieber geflohen. Wir haben jetzt kein Blut vergossen, unsere Kräfte geschont und können weiter unsere Ziele verfolgen.“

„Welche Ziele?“, fragte Peter, der jetzt Schwankende.
„Na, die Ernte einbringen, Geld verdienen.“
„Und dann?“

„Dann gut leben, Gustav in seinem Glauben belassen, er sei in Wahrheit der Stärkere und mit gutem Sold mehr Soldaten anlocken, damit wir für den Fall der Fälle gut gerüstet sind.“

„Wir sollten überlegen, ob Sieglinde nicht mehr zu sagen bekommt, in unserem Kriegsrat“, flüsterte Peter seinem treuesten General zu.“

„Noch mehr, mein König“, erwiderte der, „sie beherrscht doch faktisch schon immer unser Reich.“
Peter wachte auf aus seinem Traum.

„Bist du noch da?“, fragte ihn Anna.
„Ja, ja. Ich bin noch da. Weißt du, Anna, du hast Recht. Was für ein Quatsch mit dem Kotelett! Aber sag‘ mal, wie ist eigentlich das Wetter bei euch?“

„Und, wie war es heute mit Anna am Telefon?“, fragte abends Klara.
„Du wunderbar, ich hatte alles im Griff. Du weißt ja, sie erzählt manchmal schon wirres Zeug. Und ihr Charakter verändert sich auch durch die Demenz.“

„Gott sei Dank, dass du da nicht mit der Faust draufhaust und unnötiges Porzellan zerschlägst“, erwiderte Klara

„Das traust du mir zu?“, fragte Peter.

Klara seufzte nur und Peter ging in sein Zimmer, zufrieden mit dem, wie das Telefonat mit Anna gelaufen war.

„Morgen, da werde ich Anna sagen, dass es zum zweiten Frühstück auf See immer Steaks gab, mit Bratkartoffeln. Ja, das war gut“, dachte Peter.

Er konnte nicht aus seiner Haut. Jedenfalls nicht ganz. Aber er konnte ja noch eine Nacht drüber schlafen. Morgen, da würde das Spiel von vorn beginnen.

„Du, wir können Anna gar nichts mehr vorwerfen. Wir sind die Klügeren“, sagte Peter beim Zähneputzen zu Klara.
Klara schwieg. Sie traute ihm intellektuell so einiges zu. Nur seiner Rauflust, der traute sie nicht.

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