ANNA-2022.01.13
ANNA HATTE KEINE FREUDE MEHR AM SCHENKEN
(ANNA-2021.07.21)
„Wie ist das Wetter bei euch da oben?“, fragte Peter Anna.
Es war das übliche Telefongespräch am Vormittag, es war diesig und es schien keine Sonne, Wind war aber auch nicht.
Das war gestern so, vorgestern ebenfalls.
Anna hätte also sagen können: „Das Wetter ändert sich seit Tagen nicht, es ist gleichgeblieben.“
Doch diese gedanklichen Fäden konnte Anna nicht mehr ziehen.
„Der Himmel ist grau, die Sonne scheint nicht, aber es ist auch kein Wind“, sagte Anna stattdessen.
„Prima“, antwortete Peter. Er war irgendwie froh, dass er über dieses stets wiederkehrende Thema den Gesprächsfaden mit Anna knüpfen konnte.
Klara hat einen Stollen für Anna gebacken
„Heute Nachmittag fahren wir zur Post. Klara hat einen Stollen eingepackt und den schicken wir dir“, redete Peter weiter.
„Ach, wie kann ich dir nur danken?“, fragte Anna.
„Naja, ich habe damit nichts zu tun. Nur, dass ich den vorhergehenden mit aufgegessen habe, nachdem Klara ihn gebacken hatte.“
Anna verstand diese Art von Humor nicht mehr.
„Ja, das ist so schön, ich freue mich. Wie kann ich euch nur eine Freude machen?“
„Ach, mir würde eine ganze Menge einfallen“, antwortete Peter und bereute zugleich, dass er es überhaupt gesagt hatte.
Anna kommt nicht mehr darauf, anderen eine Freude zu bereiten, wo sie das früher doch so gern getan hat
„Ja, was denn?“, fragte Anna nach einer Weile.
Flasche Sekt, warme Socken, Kasten Mon Cherie, Puppe für Krümel, das könnte er antworten. Es schoss ihm geradezu ein, während Anna die Frage noch gar nicht zu Ende formuliert hatte.
Sagte er davon was? Natürlich nicht. War es schlimm, dass Anna nicht mehr auf das kam, was sie früher in solchen Momenten tat? Überhaupt nicht.
„Schade nur, dass Anna sich um die Glücksgefühle brachte, die sie früher überkamen, wenn sie anderen eine Freude machte“, dachte Peter in diesem Moment.
Doch dafür konnte sie nicht. Die Demenz ließ das nicht mehr zu, nahm ihr Stück für Stück diese Empathie.
Das war das eigentlich Schlimme – vor allem für Anna. Umso mehr mussten sich Klara, Laura und Peter bemühen.
Und das taten sie ja auch.
Der Kreis der Möglichkeiten, Anna eine Freude zu bereiten, wurde kleiner; der Stollen passte da noch rein
„Wenn dir der Stollen schmeckt, dann ruf doch KIara an. Sag ihr, dass er gut gelungen ist.“
„Das mach ich ja sowieso“, sagte Anna, so als hätte Peter auf etwas hingewiesen, was doch selbstverständlich war. Nun wurde er noch von Anna der Begriffsstutzigkeit überführt.
Trotzdem: Für den Moment hatte er Anna ein paar unbeschwerte Momente bereitet, so schien es jedenfalls.
Und wenn das Paket mit dem Stollen ankam, dann würde sich das wohl wiederholen. Immerhin. Der Kreis der Möglichkeiten, eine Freude zu bereiten, wurde kleiner.
Sie intensiver zu nutzen, das war wohl jetzt die Aufgabe.
Peter griff wieder zum Hörer, um Klara zu informieren: alles im grünen Bereich.
SCHWESTER BEATE
ANNA-2021.12.18
Anna saß in der Tagespflege ‚Du lebst im Moment‘.
Sie lauschte den Klängen des Akkordeons.
Irma sang besonders laut mit.
Laut und falsch. Sie saß direkt hinter Anna, die sich empörte, dass Irma alle übertönte.
„Ist die ‚mall’?“, raunte sie Herbert zu, der neben ihr auf dem Stuhl Platz genommen hatte.
„Ein bisschen“, sagte der leise und griente sie an.
„So wie wir alle eben. Sie ist nur schon ein wenig weiter“, schob er noch hinterher.
Anna schaute ihn empört an. „Wieso sind wir ‚mall‘? Also ich nicht, ich will damit nichts zu tun haben.“
Knut, der ‚Hamburger‘, spielte gerade die Melodien von Freddy Quinn und alle im Saal schunkelten und sangen mit.
‚Seemann, deine Heimat ist das Meer‘, sang Knut mit tiefer Stimme und Anna seufzte mehr dazu, als dass sie mitsang.
Anna wollte nicht, dass Herbert seinen Arm um ihre Schultern legte und drohte mit einem Kinnhaken von Wilhelm
„Ach, ist das schön!“, sagte sie und knüllte ihr Taschentuch zusammen, das sie in den Händen hielt. Herbert neben ihr rückte näher an sie heran und umfasste mit seinem linken Arm ihre Schulter.
Anna sah ihn fragend und verständnislos an.
„Wenn du nicht gleich loslässt, dann sage ich Wilhelm Bescheid, der kommt gleich wieder.“
Herbert zog erschrocken seinen Arm zurück und murmelte eine Entschuldigung.
„Bitte versteh‘ mich nicht falsch, ich wollte dich nur ein wenig trösten, du sahst so traurig aus.“
„Traurig, ich?“ Anna zog die Stimme hoch, sodass es pikiert klang.
„Du, wenn das Wilhelm sieht, dann bekommst du einen Kinnhaken, das hat er schon einmal gemacht mit seinem besten Freund, der sich an mich heranmachen wollte.“
„Kinnhaken?“, Herberts Gesichtszüge nahmen einen rätselhaften Ausdruck an.
„Wann soll das denn gewesen sein“, fragte er.
„Na beim Handball.“
„Aber das muss doch über sechzig Jahre her sein.“
Herbert ließ nicht locker.
„Ja, wir können ihn fragen, wenn er wieder hereinkommt.“
Herbert räusperte sich, kam mit dem Oberkörper ein Stück auf Anna zu und flüsterte fast, während Anna sich ein Stück in die andere Seite mit ihrem Oberkörper neigte.
„Anna“, sagte er, während sein Gesicht gefährlich nah an Anna herankam, „der Wilhelm, der ist doch längst tot.“
Beate war mit Herz und Verstand bei ihren Patienten
Anna sah ihn an und wurde schnippisch: „Na, das werden wir ja nun sehen. Warte es nur ab, er kommt gleich wieder. Wo er nur bleibt!“
Anna ließ sich nicht beirren und schaute wieder auf Knut, der inzwischen ‚Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins, ob du ein Mädel hast oder auch keins…‘ intonierte.
Anna laut mit und übertönte mit ihrer Stimme sogar Irma.
Schwester Beate saß in der hinteren Reihe des Saals, während Knut vorn Akkordeon spielte und die Bewohner dazu hingebungsvoll mitsangen und mitschunkelten. Sie konnte hinten nicht viel sehen, aber sie spürte, wie glücklich Anna und all die anderen waren.
Sie musste an ihren Dozenten denken, der ihr gesagt hatte, was das Wichtigste am Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen sei:
„Wir wollen den Menschen dabei helfen, mit ihrer Demenz umzugehen. Sie sollten alles aus sich herausholen können, was in ihnen drin ist, was sie nutzen können, um den Moment zu genießen.“
Beate ist eine ausgebildete ‚Vollblutschwester‘
Schwester Beate ist 1,65 cm groß, ein wenig übergewichtig, aber immer noch gutaussehend.
Sie hatte ihre brünetten Haare nach hinten gekämmt und dort zusammengebunden, so dass es ihr eine gewisse Strenge im Aussehen verlieh.
Beate hatte ihren Beruf von der Pike auf gelernt. Beate absolvierte die Schwesternschule, die direkt am Sund gelegen war und machte ihr Praktikum im Sund-Krankenhaus.
Sie war geschieden und hatte einen Sohn und eine Tochter, die beide verheiratet und nach Hamburg gezogen waren.
Beate war manchmal einsam, aber ihr Beruf nahm sie voll in Anspruch.
Sie war Jahrzehnte als OP-Schwester tätig gewesen und wollte vor einigen Jahren noch einmal etwas Neues beginnen, eine Tätigkeit ausüben, die sie mit mehr Menschen zusammenbrachte.
Schwester Beate qualifizierte sich zur staatlich anerkannten Altenpflegerin weiter.
Später hängte sie noch eine Weiterbildung für die Betreuung von demenzkranken Menschen ran.
Nun war sie schon für ein paar Jahre in der Senioreneinrichtung ‚Sörensen‘, im Bereich des ‚Betreuten Wohnens‘.
Immer mehr wurde sie auch in der Tagespflege eingesetzt.
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